Ich schreibe den Anfang dieses Artikels auf einer Dienstreise, die mich nach Bloomington (Indiana) führt. Duden in Indiana? Die Dudenredaktion ist eingeladen, auf der alle zwei Jahre stattfindenden Tagung der Dictionary Society of North America über die Gewinnung und Auswahl von neuen Wörtern, sogenannten Neologismen, für den Duden zu sprechen. Versammelt sind hier Lexikografinnen und Lexikografen aus aller Welt, um über das gleiche Thema zu ihren Wörterbüchern zu sprechen. Der Unterschied: Viele dieser Wörterbücher aus anderen Ländern haben, weil sie von nationalen Akademien er- und bearbeitet werden, einen offiziellen Nationalstatus, und es handelt sich immer um Bedeutungswörterbücher. Nicht so beim Rechtschreibduden, dem ältesten und bis heute auflagenstärksten Duden-Wörterbuch.
Er wird seit 139 Jahren in einem traditionsreichen Privatverlag – das Bibliographische Institut wurde 1826 gegründet – verlegt und ist noch immer ein Rechtschreib- und kein Bedeutungswörterbuch, wenn auch einige Wörter kurz in ihrer Bedeutung erklärt werden. In einem streng wissenschaftlich-lexikografischen Sinne ist er ein „unmögliches“ Wörterbuch, weil er nicht konsequent nur ein Rechtschreib- oder Aussprache- oder Bedeutungswörterbuch ist. Und dennoch ist er das bekannteste, renommierteste und einflussreichste Wörterbuch Deutschlands. Wie wurde er dazu? Und wie kann er das bleiben in Zeiten, in denen computergenerierte Sprachinformationen einen immer größeren Anteil gewinnen und sich der Stellenwert von Rechtschreibung verändert? Wie arbeitet die Redaktion eigentlich – präskriptiv, also vorschreibend, oder deskriptiv, also beschreibend?
Dudens Pionierarbeit
Konrad Duden (1829–1911) war Deutschlehrer sowie Gymnasialdirektor und sein besonderes Interesse galt Fragen der Rechtschreibung. In dieser Zeit gab es noch keine einheitlich geregelte Orthografie in Deutschland, und das erwies sich nach der Reichsgründung 1871 immer mehr als ein politisches und vor allem auch wirtschaftliches Hemmnis. Zwar existierten große Rechtschreibwörterbücher, zum Beispiel in Bayern und Preußen, aber keines war für den gesamten deutschen Sprachraum verbindlich. So lag Dudens Pionierarbeit darin, die bestehenden Wörterbücher zu analysieren, zu vergleichen und daraus ein eigenes Wörterbuch zu entwickeln. Von vornherein ging es „nur“ um ein Rechtschreibwörterbuch.
Nach zähen politischen Auseinandersetzungen galt dieses Wörterbuch 1902 nach der II. Orthographischen Konferenz verbindlich für die orthografischen Belange in Deutschland.1 Österreich und die Schweiz übernahmen die Regelungen. Von Stund an war der Rechtschreibduden das verbreitetste und bekannteste Wörterbuch Deutschlands. Die Regelung der deutschen Rechtschreibung oblag bis 1996 der Dudenredaktion beziehungsweise den beiden Dudenredaktionen in Mannheim und Leipzig in den Jahren der deutschen Teilung. 1996 trat dann das amtliche Regelwerk zur deutschen Rechtschreibung, auf das sich Deutschland, Österreich, die Schweiz, Südtirol, Liechtenstein, Luxemburg und Belgien in einem internationalen Abkommen verständigt hatten, in Kraft. Seitdem setzt die Dudenredaktion dieses Regelwerk in seinen Produkten um und beteiligt sich durch Mitarbeit im Rat für deutsche Rechtschreibung an der Weiterentwicklung der Regeln.
Der Rechtschreibduden war jedoch von Anfang an immer mehr als ein Rechtschreibwörterbuch; es interessierte die Öffentlichkeit auch immer, welche Wörter in eine Neuauflage aufgenommen, welche gestrichen wurden und welche impliziten und expliziten Wertungen (damit) vorgenommen wurden. Ob Konrad Duden sich das so vorgestellt hatte, als er das Wörterbuch entwickelte?
Ein Zeitsprung: Als im Sommer 2017 die aktuelle, die 27. Auflage des Rechtschreibdudens erschien und ich aus diesem Anlass im „Morgenmagazin“ von ARD und ZDF interviewt wurde, fragte die Moderatorin nach Neuaufnahmen. Dazu gehörten in dieser Auflage Wörter wie Barrierefreiheit, Europapolitik, Emoji, Kopftuchstreit, aber auch facebooken und tindern.
Belastete und diffamierende Wörter
Ein Wörterbuch ist immer Spiegel seiner Zeit – und für die Aufnahme eines Wortes in den Duden zählt vor allem seine Verbreitung im Sprachgebrauch über einen längeren Zeitraum und verschiedene Textsorten hinweg.2 Dann erkundigte sich die „Morgenmagazin“-Moderatorin, ob wir eigentlich auch Wörter streichen würden. Wir hatten jedoch diesmal – weil wir den Platz für die in den letzten Auflagen üblich gewordenen 5.000 neuen Wörter über einen Seitenzuwachs gewonnen hatten – so gut wie nichts gestrichen. Sie merkte dann an, dass wir nach ihren Informationen doch das Wort Sturmbannführer getilgt hätten. Hier lag ein Missverständnis vor, das später aufgeklärt werden konnte: Dieses Wort war bereits im Zuge der Entnazifizierung des Dudens aus der 13. Auflage 1947 gestrichen worden. Für uns, aber auch für Kolleginnen und Kollegen, die an anderen Wörterbüchern arbeiten, war diese Frage Anlass, erneut zu reflektieren, welche Position wir zu historisch belasteten Wörtern einnehmen. Damit war also ein Kernpunkt unserer Arbeit berührt: Dokumentieren wir den Gebrauch der deutschen Sprache in ihrer jeweils aktuellen Beschaffenheit oder schreiben wir Wortgebrauch vor und reglementieren ihn damit?
Der Blick in die Vergangenheit zeigt: Nationalsozialistisch geprägte Wörter entfernte die Dudenredaktion 1947 umfassend. Stattdessen wurden – die Nachkriegsauflage wurde aus dem Stehsatz der 12. Auflage von 1941 heraus produziert – die durch die Streichung von Hitler, Hitlergruß und Hitlerjunge frei werdenden Stellen im Umbruch mit Wörtern wie Hirtenschaft, Hirtentäschel und Hirtentum gefüllt. Dieses Vorgehen ist dem Umstand geschuldet, dass der Druck der 13. Auflage durch die zuständige Militäradministration freigegeben werden musste und diese Freigabe für einen Band mit einem umfangreichen Naziwortschatz nicht erfolgt wäre.
Aus heutiger Sicht und nach unseren heutigen Arbeitsgrundsätzen ist die damalige Entscheidung zu hinterfragen: Zwei Jahre nach Kriegsende und in einer Zeit intensiver Auseinandersetzung mit dem „Dritten Reich“ sowie im Rahmen der Entnazifizierung hatten Wörter wie Hitlergruß oder Sturmbannführer weiterhin eine hohe Frequenz im Auftreten und hätten damit durchaus Anspruch auf einen Platz im Duden gehabt.
Wichtig aber: Natürlich dürfen solche Wörter nicht unkommentiert im Duden bleiben, sondern nur mit dem Zusatz „nationalsozialistisch“ versehen. In dieser Weise markiert finden sich noch heute einige einschlägige Wörter im Rechtschreibduden; andere, wie Hitlergruß und Sturmbannführer, nur auf Duden online, dem umfassendsten Bedeutungswörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Dieses Wörterbuch stellt es sich im Unterschied zum Rechtschreibduden zur Aufgabe, jedes Stichwort durch eine Definition in seiner Bedeutung zu erklären. Damit soll unter anderem gewährleistet sein, dass Menschen Wortbedeutungen nachschlagen können und so zum Beispiel auch ältere oder neuere Wörter, die sie in einem Text finden, verstehen können. Ebenso stehen Wörter wie Neger oder Fidschi (als diskriminierendes Schimpfwort für Menschen asiatischer Herkunft) in unseren Wörterbüchern. Diese Wörter versehen wir – dem heutigen Sprachgebrauch folgend – mit dem Hinweis, dass sie diskriminierend und deshalb heute zu vermeiden sind. Das gilt genauso für ein Wort wie Rasse, wenn es auf Menschen bezogen wird, antisemitischen Wortschatz und diffamierende, abwertende Begriffe neueren Datums wie Lügenpresse oder Gutmensch.
Deutsch-deutsche Dudengeschichte
Der Duden von 1947 war für viele Jahre der letzte gesamtdeutsche Duden. Er erschien zuerst in Leipzig und wurde dann in den westlichen Besatzungszonen lizenziert. Die Besitzer des Bibliographischen Instituts gründeten später den Verlag in Mannheim neu, sodass zwei Verlage dieses Namens nebeneinander existierten – eben in Leipzig und Mannheim – und in beiden Häusern wurden Rechtschreibduden verlegt. Während beide Redaktionen darauf achteten, dass die Rechtschreibregeln nicht zu weit auseinanderdrifteten, trug der verzeichnete Wortschatz den jeweiligen gesellschaftlichen Realitäten Rechnung.
Der erste wiedervereinigte Duden wurde 1991 vorgelegt und oft als „Einheitsduden“ bezeichnet. Er entstand auf Grundlage der Mannheimer Auflage von 1986, das heißt, die Konzeption des Buches, die Stichwortauswahl und der Artikelaufbau wurden von dort übernommen. Die Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland fanden dort also all die Wörter, die für sie neu waren und denen sie jetzt im Alltag, am Arbeitsplatz und auf den Ämtern begegneten, verzeichnet. Was aber geschah mit dem DDR-Wortschatz? Der Mannheimer Duden von Duden 1986 enthielt rund 130 Wörter, die mit der pragmatischen Markierung „DDR“ versehen waren. Etwas über 100 davon blieben verzeichnet, die anderen wurden gestrichen. Zu letzteren gehörten Blauhemd, Thälmann-Pionier und Jugendwerkhof aus dem politisch-gesellschaftlichen Bereich, aber auch Wörter aus dem Alltagsleben wie Postmietbehälter und Zeitkino. Es wurden aber rund 25 Wörter aus dem DDR-Wortschatz neu aufgenommen, sodass die Zahl der DDR-Wörter mit etwa 130 stabil blieb.3
Aber auch nicht ganz so offensichtliche Definitionsprobleme fordern uns heraus: Auf Twitter wurden wir vor einigen Wochen aufgefordert, die Definitionen von Chefsekretärin und Chefsekretär in unseren Bedeutungswörterbüchern zu überprüfen und die von Chefsekretärin zu aktualisieren. Sie lauteten bis dahin „Sekretärin des Chefs“ beziehungsweise „leitender Funktionär einer Organisation (zum Beispiel einer Partei, einer Gewerkschaft)“. Das Ungleichgewicht springt ins Auge, und ganz sicher ist dieses hier vermittelte Bild gesellschaftlicher Realität alles andere als wünschenswert und zementiert diese auch.
Sprachliche Gleichstellung
Die Analyse der entsprechenden Daten in unserer Sprachdatendatenbank – das Dudenkorpus umfasst aktuell rund 5,2 Milliarden Wortformen – bestätigt unseren Eintrag: Unter 995 Belegen für die Chefsekretärin gibt es nur ganz wenige, die nicht die Bedeutung „Sekretärin des Chefs“ (oder der Chefin) belegen, und unter den 73 Treffern für Chefsekretär finden sich genau zwei, die eher mit der Bedeutung „Sekretär eines Chefs / einer Chefin“ in Übereinklang stehen. Wir haben uns nun nach intensiven Diskussionen entschlossen, bei beiden Stichwörtern beide Bedeutungen anzugeben und die jeweils seltenere mit dem pragmatischen Marker „selten“ zu versehen, sodass die Nachschlagenden sehen, dass beide Varianten möglich und im System angelegt sind, aber unterschiedlich genutzt werden.
Dieses Beispiel steht symptomatisch für den Bereich Gleichheit in der Sprache oder auch geschlechtergerechter Sprachgebrauch, und das ist nach unserer Wahrnehmung das sprachliche Thema, das die Deutschsprechenden, zumindest in Deutschland, in den letzten Monaten am stärksten beschäftigt hat. Sprachliche Gleichstellung erschöpft sich eben nicht nur in der Frage „Gendersternchen – ja oder nein?“, also der Akzeptanz von Schreibungen wie die Leser*innen dieses Artikels, sondern betrifft auch die sprachliche Realisierung weiterer Geschlechter als des männlichen und weiblichen und das geschlechtergerechte Definieren.
Kommen wir zurück auf die Ausgangsfrage, ob die Dudenredaktion nun eigentlich präskriptiv oder deskriptiv arbeitet. Hier muss man genau unterscheiden, worüber wir sprechen: Hinsichtlich der Rechtschreibung sind der Rechtschreibduden und alle anderen Wörterbücher klar präskriptiv ausgerichtet. In ihnen setzen wir die Regeln, wie sie vom Rat für deutsche Rechtschreibung im amtlichen Regelwerk und dem dazugehörigen Wörterverzeichnis vorgegeben werden, im jeweils aktuellen Stand um. Da bei vielen Wörtern (etwa 3.000 der im Rechtschreibduden verzeichneten) Schreibvarianten erlaubt sind (Delfin – Delphin), gibt die Redaktion seit der 24. Auflage von 2006 Empfehlungen, welche Variante gewählt werden sollte, um einen einheitlichen Schreibstil in Dokumenten sicherzustellen. Damit greift sie eine alte Tradition wieder auf, die auch schon Konrad Duden in seinem Buchdruckerduden umgesetzt hatte.
Im Bereich der Grammatik sind die Regeln häufig eher weniger klar. Heißt es denn nun im Juli diesen Jahres oder dieses Jahres erscheint das neue Buch von …? Und heißt es jetzt wegen des schlechten Wetters oder wegen dem schlechten Wetter fiel das Spiel aus? Nicht so leicht zu beantworten, sieht man sich auch hier die Sprachdaten im Dudenkorpus an: In den beiden Beispielen haben wir es mit unterschiedlichen, aber eindeutigen Sprachwandelphänomenen zu tun. Einmal ist es ein sprachsystemimmanenter Prozess – diesen Jahres (in Anlehnung an vorigen/nächsten Jahres) wird sich durchsetzen. Im Wegen-Beispiel ist es eine stilistische Fragestellung – wegen dem schlechten Wetter ist umgangssprachlich markiert, als standardsprachlich gilt nach wie vor nur wegen des schlechten Wetters. Aber: Die Umgangssprache gewinnt einen immer größeren Einfluss in unserer täglichen Kommunikation. In solchen Fragen also beobachten wir den Sprachgebrauch und beschreiben ihn (arbeiten also deskriptiv), geben aber gleichzeitig auch klare Orientierung, welche Form wann verwendet werden sollte (präskriptiv).
Lebhafte Sprachdebatten
Für den Wortschatz habe ich bereits verschiedene Beispiele gezeigt, wie wir einerseits beschreiben, was wir in den Daten vorfinden, andererseits aber auch hier Orientierung für den Gebrauch von Wörtern geben. Im Sachbuchprogramm des Verlags, das in den letzten beiden Jahren stark erweitert wurde, gehen wir solchen Fragestellungen vertieft nach. So haben wir ein Buch zum in unserer Zeit noch lebendigen Naziwortschatz4 herausgebracht, beleuchten Streichungen aus verschiedenen Rechtschreibduden5 und beziehen Stellung zum Stellenwert von Rechtschreibung im digitalen Zeitalter,6 zum Gendern7 und zum politisch korrekten Sprachgebrauch8.
Es wird weiterhin lebhafte Sprachdebatten geben, und die Dudenredaktion wird zuhören, dokumentieren, Empfehlungen geben und sich auch einmischen. Neben den inhaltlichen Aspekten kommt es für uns darauf an, mit den richtigen technischen Lösungen und Angeboten aufzuwarten: Sachbücher werden sowohl gedruckt als auch digital gelesen, Rechtschreibfragen und Bedeutungen werden zunehmend digital geklärt, wobei es nach unserer Überzeugung aber auch noch sehr lange einen Markt für gedruckte Wörterbücher geben wird. Also bieten wir beide Formen von Wörterbüchern und anderen Nachschlagewerken an und forcieren den Ausbau digitaler Unterstützungsprogramme wie des Duden-Mentors, der die Schreibenden in ihrem konkreten Schreibprozess am Rechner unterstützt und unter anderem das Geschriebene korrigiert und stilistische Hinweise gibt. So hilft Duden auch in Zukunft, „den Schlüssel Sprache richtig und sinnvoll zu nutzen, um zu verstehen, um uns auszudrücken, um uns zu verständigen“.9
1 Die Geschichte des Duden kann nachgelesen werden unter www.duden.de/ueber_duden/ geschichte-der-rechtschreibung.
2 Vgl. www.duden.de/ueber_duden/wie-kommt-ein-wort-in-den-duden.
3 Vgl. Peter Graf: Was nicht mehr im Duden steht, Berlin 2018, S. 134–149.
4 Matthias Heine: Verbrannte Wörter, Berlin 2019.
5 Peter Graf: Was nicht mehr im Duden steht, Berlin 2018.
6 Kathrin Kunkel-Razum: Warum es nicht egal ist, wie wir schreiben, Berlin 2018.
7 Gabriele Diewald / Anja Steinhauer: Gendern – ganz einfach, Berlin 2019; Anne Wizorek / Hannah Lühmann: Gendern?! Ein Für und ein Wider, Berlin 2018.
8 Anatol Stefanowitsch: Eine Frage der Moral. Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen, Berlin 2018.
9 Aus: Das Duden-Markenleitbild, Berlin 2017 (unveröffentlicht).
Kathrin Kunkel-Razum, geboren 1959 in Potsdam, promovierte Germanistin, Leiterin der Dudenredaktion.