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Ein „Parforceritt“ durch seine Geschichte

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Vaterland – der Begriff klingt verstaubt, weitgehend verbannt aus dem Gebrauch der Alltagssprache. Und dennoch ist er fester Bestandteil der politischen Rhetorik. Nicht nur in der Nationalhymne, sondern auch auf Parteitagen und in Reden findet er Verwendung. Das liegt nicht zuletzt an seinem affirmativen Charakter. Beinahe biologistisch scheint es über allen Interpretationen zu stehen. Vaterland – das Land des Vaters, dieser Begriff scheint keine Fragen offenzulassen.

Die genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass es mit dieser Eindeutigkeit nicht weit her ist. Überhaupt taucht der Begriff im deutschen Sprachraum erst im Mittelhochdeutschen auf. In früheren germanischen Dialekten lässt er sich dagegen nicht nachweisen. Und in den frühen Verwendungen wurde er zunächst ganz wörtlich verstanden, als (Acker )Land des Vaters, also als der Teil des eigenen Landbesitzes, der aus dem väterlichen Erbteil stammte. Mit dem Übergang zum Neuhochdeutschen verschob sich die Bedeutung hin zu dem Land, in dem der eigene Vater lebte. Mitunter, aber nicht immer fiel dieses Verständnis zusammen mit dem Land der eigenen Geburt. In diesem, letzteren Sinne wurde allerdings in den lateinischen Texten der Zeit der Terminus patria verwendet. Das Territorium, auf das er sich bezog, war jedoch örtlich stark begrenzt und umfasste meistens nur die Geburtsstadt und deren unmittelbares Umland. Dem korrespondierte die Loyalitätserwartung der Obrigkeit: Die Untertanen waren dem regionalen Fürsten zum Gehorsam verpflichtet und keiner geografischen Einheit. Der in unserem heutigen Verständnis der patria eng verbundene Begriff der natio bezeichnete zur damaligen Zeit seltener eine Volks- als eine Standeszugehörigkeit. Das ist nicht verwunderlich, wenn man sich klarmacht, dass die Geburt (nasci – lateinisch „geboren werden“) in einen bestimmten Stand die viel wesentlichere und weitgehend unabänderliche Weichenstellung für das weitere Leben bedeutete als der Geburtsort.

Die politische Geografie war demnach auch in erster Linie eine Sache der Landesherren. Ihre eigenen Herrschaftsgebiete waren Teil des Heiligen Römischen Reichs, woraus sich die Rahmenbedingungen ihres politischen Handelns ergaben. Ähnliches galt auch für die städtische Oberschicht der Reichsstädte. Für die übergroße Mehrheit seiner Bewohner war jedoch nicht das Reich Vaterland, sondern eine deutlich kleinere, regionale Einheit.

Auch als der Begriff „deutsch“ immer häufiger als politische Kategorie verwendet wurde, änderte sich daran zunächst nichts. Im 16. Jahrhundert begann sich der Name „Deutschland“ durchzusetzen, bald war folgerichtig auch die Rede vom „deutschen Vaterland“, ohne dass jedoch die territoriale Vaterlandsbezeichnung verdrängt worden wäre.

Ob regional oder überregional – in beiden Fällen schwang das Verständnis einer abgeschlossenen Einheit mit. Davon konnte aber genau zu der Zeit, als immer häufiger das „deutsche Vaterland“ beschworen wurde, keine Rede mehr sein. Schon früher war das Reich kein zentral regierter Einheitsstaat gewesen. Mit der Reformation zerfiel jedoch auch die geistige Einheit. Nicht zufällig wurde die Wiederherstellung konfessioneller Einigkeit häufig im Zusammenhang mit dem Vaterlandsbegriff gefordert.

Bekanntlich gelang es nicht, die konfessionellen Unterschiede zu überwinden. Im Westfälischen Frieden von 1648 verzichteten Kaiser und deutsche Fürsten darauf, anderen Territorien mit Gewalt die eigene Konfession aufzuzwingen. (Die „Häretiker“ wurden im eigenen Land natürlich weiterhin verfolgt.) Katholiken, Reformierte und Lutheraner wohnten nun zum Teil unweit voneinander entfernt, getrennt nicht durch Sprachbarrieren, sondern durch Landesgrenzen. Ganz entgegen den Intentionen ihrer Träger hatte somit die Reformation das Wahrheitsmonopol der Kirche genauso erschüttert wie das der Landesherren, die sich als Verteidiger des rechten Glaubens stilisiert hatten und nun von diesem hehren Anspruch lassen mussten. Nebenbei dürften die konfessionelle Zersplitterung und der Verlust der Einheitlichkeit auch dem Prinzip des Gottesgnadentums einen gehörigen Schlag versetzt haben. Es ist fraglich, ob der Gedanke von Volkssouveränität und Demokratie ohne diese Erschütterung aufgekommen wäre.

 

Integrierendes Konzept

Untrennbar verknüpft mit diesen neuen Ideen waren jedoch der Aufstieg der europäischen Nationalbewegungen und damit die Hochzeit des Vaterlandsbegriffs. Nicht mehr einen Fürsten, sondern ein Land galt es zu verteidigen, wenn die Marseillaise die Kinder des Vaterlands („enfants de la patrie“) zu den Waffen rief – und zwar um der politischen Ordnung willen, die von der Französischen Revolution erkämpft worden war. Die Ideen von 1789 waren bedroht von der ausländischen Koalition reaktionärer Kräfte, im Lied schlicht als „Tyrannei“ bezeichnet. Folglich richtete sich der Aufruf auch nicht an Untertanen, sondern Bürger („aux armes, citoyens“).

In Polen, das sogar noch wenige Monate vor den Franzosen seine demokratische Verfassung verabschiedet hatte, betonte der Dąbrowski Marsch, die heutige Nationalhymne, die Notwendigkeit zur Rettung des Vaterlands („ojczyzny ratowanie“). Deutsche stimmten während der Befreiungskriege gegen Napoleon patriotische Gesänge an. Wie schon in der Marseillaise schwang in dem Begriff des Vaterlands nun auch die Vorstellung einer guten politischen Ordnung mit, nicht zufällig kämpfte die deutsche Nationalbewegung für Reichseinigung und Demokratie. Und Heinrich Heine, der zeitlebens mit seiner deutschen Heimat haderte, lässt seine „schlesischen Weber“ das „falsche Vaterland“ verfluchen, weil es ihr soziales Elend nicht gelindert und ihren Aufstand niedergeschlagen hatte. Der gleichen Überlegung folgten Marx und Engels, als sie im Kommunistischen Manifest die berühmte Behauptung aufstellten, der Proletarier habe gar kein Vaterland. Seine Entsprechung fand diese Haltung in dem umgekehrten Versuch, im Kaiserreich den Arbeitern mit dem „Vaterland“ ein Integrationsangebot anstelle des Klassenverständnisses zu machen. Als die Sozialdemokraten nicht auf diese Leimrute gingen, bezeichnete Wilhelm II. sie als „vaterlandslose Gesellen“. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die Billigung der Kriegskredite zeigten jedoch, dass auch die Mehrheit der politischen Linken ihren (Burg )Frieden mit dem nationalen Gedanken geschlossen hatte. Das Vaterland war tatsächlich zum integrierenden Konzept geworden – bezeichnenderweise zu einem Zeitpunkt, als der deutsche Nationalismus das enge Bündnis mit der Demokratie schon lange aufgekündigt hatte.

 

„Ist’s, wo am Rhein die Rebe blüht?“

Unabhängig von der politischen Verfasstheit des Vaterlands stellte sich die Frage nach seiner geografischen Definition, da es einen gemeinsamen deutschen Staat in den Geburtsjahren der deutschen Nationalbewegung nicht gab.

„Was ist des Deutschen Vaterland?“, fragte Ernst Moritz Arndt 1813, um anschließend mögliche topografische Definitionen auszuloten („Ist’s, wo am Rhein die Rebe blüht? Ist’s, wo am Belt die Möwe zieht?“) und allesamt zu verwerfen. Schließlich gab er sich mit der Erklärung zufrieden, das deutsche Vaterland sei überall dort, wo „die deutsche Zunge klingt“, und definierte Deutschland dementsprechend über die gemeinsame Sprache und Kultur. Ähnliches meinte wohl auch August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, als er in der zweiten Strophe des Deutschlandliedes etwas ungelenk und für heutige Ohren hochgradig kitschig „deutsche Frauen, deutsche Treue, deutschen Wein und deutschen Sang“ wegen ihres „alten schönen Klangs“ lobte. Denn auf der Suche nach der nationalen Identität begab man sich – und zwar nicht nur in Deutschland – auf die Suche nach alten angeblichen und tatsächlichen Wurzeln. Schnell war die Rede von der angeblichen tausendjährigen deutschen Kultur, der Franke Karl der Große wurde zum deutschen Ahnherren, der französisch parlierende Preuße Friedrich II., der bekannte, Deutsch nur zur Konversation mit seinen Pferden zu nutzen, zum deutschen König. Dennoch: So konstruiert die Kategorie der Nation war, ihre Konstruktion erfolgte nicht willkürlich, sondern bezog sich auf sprachliche Gemeinsamkeiten, kulturelle Prägungen und gemeinsame historische Erfahrungen.

Interessanter sind zwei andere Aspekte: Zum einen musste der deutsche Patriotismus damit umgehen, dass die 1871 erfolgte Reichseinigung Österreich nicht umfasste, obwohl es jeglichem Verständnis der deutschen Kulturnation zufolge hätte dazugehören müssen. So dachten schließlich auch viele Österreicher, wie etwa die Anschlussbestrebungen unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs zeigten. Zum anderen aber erwies sich das Konzept der Kulturnation als in sich argumentativer Zirkelschluss: Von der Kultur, die doch die Zugehörigkeit definieren sollte, wurde häufig angenommen, dass sie Ausdruck eines bestimmten deutschen Wesens sei, das die Deutschen von anderen Völkern unterschied. Bald mischten sich auch rassische Kategorien ein. So erklärte etwa Richard Wagner in seiner hässlichen Schrift Das Judenthum in der Musik, die Juden seien zur wirklichen Kreativität unfähig. Folglich könnten sie auch keinen Anteil an der deutschen Kulturnation haben, obwohl jüdisches Leben in Deutschland – anders als viele von der deutschen Nationalbewegung behaupteten – tatsächlich eine mehr als tausendjährige Tradition hatte. Auf die rechtliche Frage der Zugehörigkeit zum deutschen Volk hatte dies jedoch weder im Kaiserreich noch in der Weimarer Republik Auswirkungen. Juden waren gleichberechtigte (wenn auch häufig diskriminierte) Bürger des Deutschen Reichs, und die übergroße Mehrheit von ihnen betrachtete es als Vaterland, wie nicht zuletzt die hohe Zahl der Juden zeigt, die 1914 bereit waren, dieses Vaterland sogar unter Einsatz ihres Lebens zu verteidigen.

Erst die Nationalsozialisten änderten dies und degradierten die Juden zu Deutschen zweiter Klasse. Mit dem Begriff „Vaterland“ konnten sie dagegen herzlich wenig anfangen. In Hitlers Mein Kampf schaffte er es nicht einmal ins Sachregister. Die krude Rassenideologie dachte zwar in Kategorien der Abstammung, griff aber weit über die bestehenden deutschen Sprach- und Landesgrenzen aus. Wer „germanisches Blut“ in sich hatte, galt als deutsch, unabhängig von Sprachkenntnissen und Siedlungsgebiet. Vom Konzept einer Kulturnation blieb damit nichts mehr übrig.

 

Vaterland und Europa

Dennoch überlebte die enge Verknüpfung des Vaterlands mit dem Nationalstaat auch den Zweiten Weltkrieg und die Barbarei des Nationalsozialismus. Allerdings erkannten führende Politiker der Nachkriegszeit, wie Konrad Adenauer, Robert Schuman oder Charles de Gaulle, die Notwendigkeit, zur Lösung großer Aufgaben und zur Vermeidung erneuter Kriege einen europäischen Rahmen zu schaffen – und begründeten so die Idee der europäischen Einigung. Zwar erteilte der erste Bundeskanzler den Vorstellungen seines französischen Kollegen eine Absage: Ein Europa der Vaterländer, das den Großteil der Kompetenzen auf der Ebene des Nationalstaats beließ, wollte er nicht. Das Vaterland als unverzichtbare Orientierungsmarke betonte aber auch er: „Jeder will sein Vaterland behalten mit seiner Kultur, Geschichte und Sprache. Keiner kann verlangen, dass die berechtigte Eigenart aufgegeben wird.“

Daran hat sich im Grunde genommen bis heute nichts geändert. Der Nationalstaat ist weiterhin die stabilste Ordnungseinheit. Nicht zuletzt im Zuge der Finanzmarktkrise hat er seine Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Mit ihm identifizieren sich seine Bewohner; selbst wenn sie ihn ablehnen, argumentieren sie in nationalstaatlichen Kategorien. Deshalb ist er es auch, der in unterschiedlichen, wenn auch nicht allen europäischen Sprachen als Vaterland bezeichnet wird.

Stößt er aber nicht vielleicht dort an Grenzen, wo die Gesellschaft immer mehr Einwanderer integrieren muss? Hier sollte die Geschichte Mut machen: So wie sich die Konnotation des Begriffs verschoben hat, so wenig eindeutig ist er auch heute. Kann nicht das Vaterland auch das sein, das die eigenen Eltern bewusst als Ziel ihrer Auswanderung ausgewählt haben? Das vom Vater gewählte Land also? Oder das Land, in dem ich zwar als Fremder angekommen bin, das ich aber zur Heimat meiner Kinder werden lassen möchte? Vaterland, das soll dieser kurze „Parforceritt“ durch die letzten Jahrhunderte zeigen, braucht vor allem eins: Identifikation. Gerade die Definition der Nation über die Kultur kann sich als erstaunlich integrativ erweisen. Der immer schon blutleere reine Verfassungspatriotismus Habermas’scher Prägung bedarf erst recht in einer Einwanderungsgesellschaft einer emotionalen Unterfütterung. Es lohnt sich, den Staub vom „Vaterland“ zu wischen und sich klarzumachen, was es eigentlich ausmacht, dieses Land unserer Väter.

 

Alexander Brakel, geboren 1976 in Bonn, stellvertretender Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste /Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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