Würde man die Geschichte der Bundesrepublik, bis 1990 auch die der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), als Protestgeschichte erzählen, kämen fast alle wichtigen Themen öffentlicher Debatten vor. Man denke an frühe Jugendproteste in der Bundesrepublik, an Proteste aus Anlass der Wiederbewaffnung, an den Aufstand 1953 in der DDR, an die Proteste um „1968“ im Westen und gegen die Intervention der Sowjetunion in der Tschechoslowakei im Osten, an die Proteste im Rahmen der damals „neuen sozialen Bewegungen“, an die Anti-Atomkraft-Bewegung, an Proteste um den NATO-Doppelbeschluss, an die starken Protestbewegungen in der DDR Ende der 1980er-Jahre, die am Ende zum politischen Kollaps des Landes führten, an rechtsradikale Proteste in den 1990er-Jahren und mit PEGIDA seit 2014, an Proteste im Rahmen der Finanzkrise, an die Umweltbewegung Fridays for Future und aktuell die Corona-Demonstrationen. Mit diesen unvollständig aufgelisteten Protestformen hätte man einen Großteil der wichtigsten Themen des Landes tatsächlich in den Blick genommen. Das ist ein erster Hinweis auf die Funktion und Bedeutung von Protest: Themen sichtbar zu machen. Aus soziologischer Perspektive geht es hier freilich nicht um eine Kulturgeschichte des Protests, auch nicht um die Legitimität seiner Inhalte.
Wie der Auflistung zu entnehmen ist, werden hier Protestformen ganz unterschiedlicher Couleur in einen Topf geworfen. Das ist jedoch notwendig, wenn man die soziologische Frage beantworten will, wie und unter welchen Bedingungen es zu Protestformen kommt und welche Funktion Proteste für die Gesellschaft haben. Damit ist die Frage nach der Bewertung von Protesten oder der Einteilung in sympathischeren oder weniger sympathischen Protest methodologisch suspendiert, denn der Mechanismus des Protestierens ähnelt sich über die Protestgrenzen hinweg.
Fehlende Integration von Nein-Stellungnahmen
Die Grundthese lautet: Protest wird dann wahrscheinlich, wenn Nein-Stellungnahmen und Kritik in den etablierten Institutionen der Gesellschaft nach Ansicht der Protestierenden nicht ausreichend Berücksichtigung finden. Moderne Gesellschaften sind sehr stark davon geprägt, Nein-Stellungnahmen zu integrieren: als Opposition in den Parlamenten, als gegnerische Parteien in Gerichtsverhandlungen, als Tarifparteien, als Kritik und Gegenkritik in Wissenschaft, Kunst und Kultur, als kontroverse öffentliche Debatte, als Kritikfähigkeit als Bildungsziel. Moderne Gesellschaften sind Gesellschaften der Kritik, aber sie sind auch in der Lage, Kritik zu absorbieren, Minderheiten eine Stimme zu geben und in und durch Verfahren zu Kompromissen zu kommen. Die Demokratie ist dafür das beste Beispiel. Demokratie ist keineswegs als Mehrheitsherrschaft angemessen beschrieben; vielmehr zeichnet sich ein demokratisches Verfahren dadurch aus, dass sie auch der Minderheit, etwa in Form der Opposition, eine Stimme verleiht, und demokratische Politik muss nicht nur die Mehrheit loyal halten, sondern auch der unterlegenen Minderheit Loyalitätsangebote machen, um die Gesellschaft nicht vollständig zu polarisieren. Wozu das führt, kann man gerade in den Vereinigten Staaten deutlich beobachten.
Wo diese Integration möglicher Nein-Stellungnahmen entweder in Gefahr gerät oder zumindest aus der Perspektive bestimmter Gruppen zu wenig Berücksichtigung findet, steigt die Wahrscheinlichkeit von Protesten.
In autoritären Regimen wird das überdeutlich; man denke etwa an die beeindruckenden Proteste in Belarus nach der dortigen Präsidentenwahl. Überhaupt sind Proteste nach undemokratisch ausgeführten Wahlen ein klassisches Beispiel, weil hier deutlich wird, dass das demokratische Verfahren der Einbeziehung von Nein-Stellungnahmen sehr sichtbar unterminiert wird. Auch Proteste in der späten DDR haben sich nach Wahlen entzündet, die freilich nie auch nur den Anschein einer demokratischen Wahl hatten. In Protesten können sich auch grundlegende strukturelle Gesellschaftskonflikte manifestieren, etwa in den Black Lives Matter-Protesten in den Vereinigten Staaten.
Mechanismus des Protests
Aber auch in weniger dramatischen Situationen ist es dieser Mechanismus. In allen oben aufgezählten Protesten der Bundesrepublik kommt aus der Perspektive der Protestierenden zum Ausdruck, dass die demokratischen Verfahren – angeblich oder tatsächlich – keinen Ort für ihre kritische Stimme haben. Auch das gilt für Protestformen unterschiedlichster Couleur. Die Fridays for Future-Aktivisten würden Ähnliches behaupten wie PEGIDA oder auch Teilnehmer an Corona-Protesten. Wohlgemerkt: Die Unterschiede sind eklatant, aber der Mechanismus ist derselbe. Die Wahrscheinlichkeit von Protest steigt dann, wenn die Institutionen der Gesellschaft den Eindruck erwecken, dass sie Nein-Stellungnahmen nicht ausreichend berücksichtigen – zumindest aus der Perspektive der jeweiligen Protestgruppe oder -bewegung.
Dabei sind selbstverständlich nur diejenigen Themen protestfähig, die eine gewisse kritische Masse erzeugen können, um öffentlich sichtbar zu sein. Protest ist eine Kommunikationsform, die auf öffentliche Resonanz angewiesen ist. Sie ist darauf angewiesen, öffentlich und medial anschlussfähig zu sein, deshalb muss Protest fast notwendigerweise die eigenen Forderungen einfacher darstellen, als sie sind. Protest ist kein Hauptseminar, sondern der Versuch, Themen zu platzieren. Der größte Erfolg, den Proteste erreichen können, liegt darin, dass andere Spieler in dem Feld an den Forderungen beziehungsweise an dem Thema nicht vorbeikommen. Man kann etwa den Erfolg von Fridays for Future nicht daran messen, ob die Forderungen der Jugendbewegung eins zu eins umgesetzt werden könnten. Aber ohne Zweifel besteht der Erfolg darin, dass spätestens mit dieser Bewegung, die fast aus dem Nichts entstanden ist, niemand ernsthaft an dem Thema des Klimawandels vorbeikommt. Vielleicht kann man sogar zynisch sagen, dass selbst hartgesottene Klimawandelleugner auf diese Bewegung reagieren. Dabei hat die Bewegung das Thema keineswegs gesetzt. Die meisten Informationen und das meiste Wissen sind bereits seit den späten 1970er-Jahren einer größeren Öffentlichkeit bekannt, woran man sehen kann, dass Protest stets auf eine entgegenkommende Stimmung angewiesen ist, um sich zu kontinuieren.
Was tut Protest? Protest simuliert eine Position, die es in modernen Gesellschaften nicht gibt. Moderne Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie funktional differenziert sind, dass es im Zusammen- und Gegenspiel von politischen, ökonomischen, rechtlichen, wissenschaftlichen, bildungsförmigen, religiösen, medialen und künstlerischen Funktionen kein koordinierendes Zentrum gibt. Die Komplexität moderner Gesellschaften wird dadurch bestimmt, dass gleichzeitig Unterschiedliches geschieht, dass es Zielkonflikte zwischen diesen unterschiedlichen Funktionen gibt und dass daraus paradoxe Folgen entstehen können (vgl. dazu Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit. Kritik der komplexitätsvergessenen Vernunft, 3. Aufl., Hamburg 2020). Was moderne Gesellschaften nicht können, ist Handeln aus einem Guss – die größten Krisen der Moderne resultierten daraus, dass versucht wurde, die anderen Funktionen politisch festzulegen und damit wie aus einem Guss operieren zu können. So sehr sich die rechten und linken Diktaturen des 20. Jahrhunderts historisch konkret voneinander unterschieden haben – ob die deutsche, die italienische oder die spanische von rechts oder die sowjetische oder chinesische von links –, so sehr ähneln sie sich in dem Versuch, Gesellschaft aus einem Guss planbar zu machen. Die daraus folgenden moralischen, ökonomischen und politischen Katastrophen sind bekannt. Letztlich sträubt sich die moderne Gesellschaftsstruktur gegen solche Versuche – wie der gegenwärtige chinesische Versuch ausgeht, wäre abzuwarten, aber das ist eine andere Frage.
Protest als Vetospieler
In einer solchen dezentrierten Gesellschaft versucht Protest, eine Position zu besetzen, die gesellschaftsstrukturell letztlich nicht vorgesehen ist: die Position des Vetospielers. Protest fordert von konkreten Adressaten in Form eines Vetos eine grundlegende Entscheidung. Letztlich protestiert Protest gegen die Routinen der Gesellschaft, in denen entweder normativ als falsch behauptete Entscheidungen gefällt werden oder die kein Interesse an der Lösung eines bestimmten Problems haben. Oben wurde formuliert: Protest wird dann wahrscheinlich, wenn er plausibel machen kann, dass sein Anliegen in den Entscheidungsroutinen der Gesellschaft unter die Räder kommt. Er muss sich deshalb in fast übertriebener Weise gegen die Routinen der Gesellschaft richten und etwas erzwingen wollen, was auf direktem Wege nicht möglich ist. Allerdings kann Protest niemals direkt eine Wirkung erzielen, sondern ist dann wieder auf die Entscheidungsroutinen der Gesellschaft angewiesen. Das begründet die merkwürdige Eigendynamik und Tragik des Protestes.
Protestbewegungen zeichnen sich oft dadurch aus, dass sie sich zur Aufrechterhaltung ihrer Wahrnehmbarkeit und im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie semantisch steigern müssen. Das bedeutet nicht in jedem Fall eine Radikalisierung, aber doch eine semantische Verschärfung, die auch auf die Erfahrung reagiert, dass der Protest womöglich auf Zustimmung stößt, jedoch keineswegs auf konkrete und zählbare Konsequenzen. Man kann es bei fast allen Protestbewegungen beobachten: Nimmt man etwa Fridays for Future als Referenzbeispiel, hat sich der anfangs noch vergleichsweise unspezifische Protest in einigen Teilen zu einem Protest gewandelt, der sich als Systemopposition oder als allgemeine Kapitalismuskritik geriert, zum Teil mit apokalyptischen semantischen Formen. Dies soll hier nicht kritisiert werden – vielmehr sei darauf hingewiesen, dass solche Steigerungen einerseits erwartbar sind, andererseits aber auch die Tragik des Protests begründen. Denn je radikaler Proteste werden, desto größer erscheint die Differenz zwischen Forderung und Umsetzbarkeit. Das heißt, Radikalität und Erfolg sind in einigen Fällen umgekehrt proportional aufeinander bezogen, was die Protestierenden zum einen in der Dringlichkeit ihrer Forderungen bestärkt, zum anderen aber frustrieren kann, weil es die Aussichtslosigkeit geradezu auf den Begriff bringt. Die Funktion von Protest scheint es nicht in erster Linie zu sein, die Protestierenden zufriedenzustellen.
Daraus kann man einerseits ableiten, wie sich Protestierende in zwei Richtungen verändern können – entweder polen sie ihre Aktivität um und engagieren sich nach der Platzierung von Themen in den Institutionen der Gesellschaft, um ihre Ziele zu erreichen. Sie erleben dann gewissermaßen, wie aus großen Protestforderungen am Ende kleinere Entscheidungen erwachsen, voller Kompromisse, wie es im politischen Prozess üblich ist. Man kann das an Biographien beobachten, in denen vor allem jüngere Leute aus Protestbewegungen ihren Weg in bestimmte Berufe oder in Parteien finden, in denen sie dann nach anderen Logiken als den Protestlogiken arbeiten.
Der andere Weg besteht in einer weiteren Radikalisierung bis hin zu gewalttätigen Handlungen. Gewalt ist ohnehin das Eingeständnis für Wirkungslosigkeit und Machtverlust, aber Gewalt simuliert wenigstens temporär Wirkung und Einfluss. Zumindest im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie sorgt Gewalt für Sichtbarkeit. Man kann das in fast allen Protestbewegungen der Vergangenheit beobachten – auch, dass die gewaltbereiten Gruppen fast immer sehr viel kleiner sind als das Gros der Protestierenden.
Funktion und Gefahr von Protest
Protest – etwa in Form von Demonstrationen oder Versammlungen – gehört zu den verbrieften Rechten in demokratischen Rechtsstaaten. Er ist ein Gut, das rechtlich geschützt wird und nur unter starken Voraussetzungen begrenzt beziehungsweise verhindert werden kann und darf. Vergegenwärtigt man sich die Protestgeschichte der Bundesrepublik, hatten Protestbewegungen immer wieder die Möglichkeit, wichtige Themen auf die Agenda zu setzen – die oftmals durchaus in konkrete politische Entscheidungen gemündet sind oder Themen auf der politischen Agenda gehalten haben. Das gilt für wünschenswerte wie weniger wünschenswerte Themen und Felder – und welche wozu gehören, ist im politischen Feld naturgemäß umstritten. Aber an der demokratischen Funktion solchen Setzens von Themen kann kein Zweifel bestehen – außer dann, wenn Protest sich nicht nur gegen Entscheidungen oder bestimmte Lösungen stellt, sondern gegen die demokratischen Verfahren selbst. Die Delegitimation demokratischer Verfahren wäre exakt der Punkt, an dem die demokratiegenerierende Wirkung von Protest in ihr Gegenteil umschlagen würde.
Historisch gesehen kann man etwa an die sogenannte Machtergreifung der Nationalsozialisten in den 1930er-Jahren denken, die ja entgegen weit verbreiteten Urteilen nicht in den Parlamenten gewonnen haben, sondern vor allem durch eine permanente gewaltsame Protestbewegung, die sich explizit gegen die Verfahren des Staates, gegen die Gewaltenteilung und die demokratische Pluralität gewandt haben. An diesem extremen Beispiel kann man sehen, dass Protest dann zur Gefahr für die Demokratie werden kann, wenn er die Verfahren selbst im Fokus hat. Man kann wohl sagen, dass solche Bewegungen dann tatsächlich revolutionäre Bewegungen sind, also solche, die dem politischen System und seinen Routinen feindlich gegenüberstehen. Anderenfalls aber sind Proteste schon deswegen Demokratiegeneratoren, weil sie das politische System mit Alternativen versorgen – und selbst wenn die Alternativen nicht in Kraft gesetzt werden, nötigen sie doch Entscheider, bessere Gründe für das anzugeben, was sie tun.
Die Überlegungen folgen dem Gedankengang des in diesem Jahr erschienenen Buches des Autors: Das große Nein. Eigendynamik und Tragik des gesellschaftlichen Protests, Hamburg 2020.
Armin Nassehi, geboren 1960 in Tübingen, seit 1998 Inhaber des Lehrstuhls I für Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität München.