Der Kolumnist Mathias Greffrath wendet sich in der taz dagegen, dass Wolfgang Koeppens Nachkriegsroman Tauben im Gras (1951) Pflichtlektüre für das Abitur an beruflichen Gymnasien in Baden-Württemberg werden solle: zu komplexe literarische und historische Bezüge, eine Zumutung an antisemitischen und rassistischen Wörtern und insgesamt ein unverständlicher Text für die deutsche Einwanderungsgesellschaft, von der ein beachtlicher Teil keine familiengeschichtliche Verbindung zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts habe, so lauten seine Einwände.1
Greffraths Bedenken ist nur teilweise zuzustimmen. Sicher werden nicht alle Abiturienten hinter Formulierungen wie „Die Fahne Hoch“ auf Anhieb das sogenannte „Horst-Wessel-Lied“, also die Parteihymne der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), erkennen. Auch lässt sich schwerlich abstreiten, dass Koeppens Sprache verletzend wirken kann. Allerdings ist zu bedenken, dass Koeppen seinen Roman in einer anderen Zeit schrieb, in der für den Autor statt politischer Korrektheit eine genaue und authentische sprachliche Darstellung seiner Zeit im Vordergrund stand. Koeppens literarische Sprache ist statt als Beleidigung vielmehr als Echo einer noch immer von nationalsozialistischer Ideologie und Rassenwahn geprägten deutschen Gesellschaft zu verstehen.
Zu verwerfen ist Greffraths dritter Einwand, dass Koeppens Roman aufgrund fehlender familiengeschichtlicher Verbindungen zur deutschen Vergangenheit nicht gelesen werden sollte. Denn hier verkennt der taz-Kolumnist das Potenzial von Literatur, sich vergangenen Zeiten anzunähern – für junge Abiturienten aus Einwandererfamilien ebenso wie für diejenigen, deren Urgroßeltern und Großeltern allmählich versterben und selbst kein Zeitzeugnis mehr ablegen können. Koeppens Roman ist deshalb nicht nur ein Ersatz für das schwindende kollektive Gedächtnis. Er ist auch nicht das einzige lesenswerte Stück Nachkriegsliteratur.
„Bekenntnis zur Trümmerliteratur“
In der unmittelbaren Nachkriegszeit setzten Schriftsteller wie Heinrich Böll den Krieg und seine Folgen als wesentliche Themen. In Bölls Aufsatz Bekenntnis zur Trümmerliteratur (1952) erläuterte der spätere Literaturnobelpreisträger, warum seine Generation über das im Krieg und bei der Rückkehr vorgefundene Elend schrieb. Bölls programmatische Schlagwörter „Kriegs-, Heimkehrerund Trümmerliteratur“ finden sich auch in seiner Kurzgeschichte Wanderer, kommst du nach Spa… (1950) wieder. Darin erkennt ein kriegsverwundeter Erzähler unter Todesqualen, dass es sich bei dem Krankenlazarett, in dem er behandelt wird, um das humanistische Gymnasium handelt, das er einst besucht hat. Zwar hatte er darauf gehofft, dass es auch an anderen Schulen die von ihm gesehenen vertrauten Gegenstände geben könnte, doch den endgültigen Beweis findet der Erzähler im zum Operationssaal umfunktionierten Zeichensaal: Hier steht noch der von ihm selbst in Schönschrift an eine Tafel geschriebene, titelgebende Satz „Wanderer, kommst du nach Spa…“. Indem Böll die Leiden des jungen, kurz vorher aus der Schule in den Kriegseinsatz abberufenen Soldaten darstellt, brandmarkte er das Schulsystem des Nationalsozialismus, das zu Rassismus und Militarismus erzog.
Werke wie Bölls Kurzgeschichten ermöglichen einen besseren historischen und kulturellen Einblick in die unmittelbare Nachkriegszeit und die Ära Adenauer, die Jahre 1949 bis 1963 in der Bundesrepublik, mit den Auswirkungen des Krieges auf das individuelle und kollektive Bewusstsein. Die Lektüre dieser Autoren heute ermöglicht einen Blick auf die Herausforderungen, mit denen die Menschen konfrontiert waren, und fingiert, wie sie mit den traumatischen Erfahrungen umgegangen sein könnten. Ein solches Trauma schildert beispielsweise Elisabeth Langgässer in ihrer Kurzgeschichte Glück haben (1946), in der eine Erzählerin zufällig das Selbstgespräch einer Patientin in einer psychiatrischen Anstalt mithört. Die Patientin spricht über ihre zwischen Höhen und Tiefen oszillierende Biographie – die glückliche Kindheit, die Armut im Ersten Weltkrieg, dann die Ehe und der Umzug in den Osten des Deutschen Reiches. Zunehmend setzen der nur scheinbar glücklichen Familie der Tod von Familienangehörigen, Krieg, Krankheit und Flucht zu. Auch wenn die Patientin sich selbst immer wieder manisch versichert, dass sie Glück hatte, wird eine Verkettung der Unglücksfälle ab den 1930er-Jahren unübersehbar. Ihr Selbstgespräch endet mit einem psychischen Anfall.
Verdrängen der NS-Zeit
Elisabeth Langgässer ist selbst eine kontrovers diskutierte Autorin, denn ihre Tochter Cordelia Edvardson (geborene Langgässer) wurde deportiert und überlebte Theresienstadt und Auschwitz nur knapp, während sich die Mutter in die „innere Emigration“ und in das Schreiben christlich-mythischer Texte flüchtete.2 Glück haben ist dennoch mehr als die Schilderung eines ungewöhnlichen Einzelfalls. Wie es für Kurzgeschichten der Nachkriegszeit typisch ist, weist Glück haben vielmehr hin auf die Existenz unzähliger ähnlicher Schicksale und die kollektive Verdrängung der Zeit des Nationalsozialismus durch die Deutschen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Zeitgenössische Kritiker erachteten, wenn auch meist zu Unrecht, die 1950er- und die frühen 1960er-Jahre als eine Zeit der politischen und gesellschaftlichen Restauration: Remilitarisierung, konservative Familienpolitik und Rehabilitation ehemaliger Nationalsozialisten einerseits; eine nach Anerkennung durch politische Eliten strebende und zu konforme Autorschaft andererseits. Das Verdrängen der NS-Zeit und der Wunsch, ein neues Leben aufzubauen, spielen auch in Wolfgang Koeppens Roman Tauben im Gras (1951) eine zentrale Rolle. Das Werk schildert in einem multiperspektivischen Bewusstseinsstrom die schroffe, rassistische Realität Münchens in der Nachkriegszeit. Dazu gehören finanzielle Unsicherheiten, psychische Krankheiten, die Auseinandersetzung mit den amerikanischen Besatzern und nicht zuletzt die Frage, inwiefern die rassistische NS-Ideologie fortdauern werde. Damit muss sich ein großes Ensemble an hinsichtlich Geschlechts, Alters, Herkunft, Hautfarbe und Bildungsgrades unterschiedlichen Figuren auseinandersetzen. Rassistische oder diskriminierende Sprache, eine Weltvorstellung ausdrückend, die Menschen aufgrund bestimmter Merkmale wie ihrer Hautfarbe die Menschlichkeit abspricht, gibt es zur Genüge in dem Roman – etwa, wenn weiße Romanfiguren ihre Gedanken über die dunkelhäutigen US-Soldaten teilen. Konzentriert zeigt sich dieses Fortdauern des Alltagsrassismus in den Gedanken Frau Behrends, die die Beziehung ihrer Tochter mit einem schwarzen Amerikaner für „Rassenschande“ hält.
Ijoma Mangold, Literaturkritiker der ZEIT, lobt Koeppens Gelingen, „zu beschreiben, wie sich in einer bestimmten reaktionären Klasse der Rassismus, der vorher Antisemitismus war, jetzt eine neue Projektionsfläche sucht, dafür den schwarzen Menschen identifiziert und ihn mit dem Wort ‚Neger‘ bezeichnet“.3 Dies wiederum könne man heute zum Anlass nehmen, unser Verhältnis zu Sprache und Wörtern zu diskutieren: Rassistische Sprache mag heute subtiler wirken – es ist die Rede von „Masseneinwanderungen“ und „ausländischen jungen Männern, die eine Gefahr für deutsche Mädchen sind“. Doch gerade solche Formulierungen erinnern stark an jene Worte der besorgten, rassistischen Frau Behrend in Koeppens Roman. Der 1906 geborene Autor zitiert hier ein diskriminierendes, menschenverachtendes Denken einer verrohten Gesellschaft, das in der Vergangenheit zu Krieg und Holocaust führte. Dabei ist sich Koeppen bewusst, dass weder mit dem verlorenen Krieg und der vielbeschworenen „Stunde Null“ noch mit Re-Education und „Persilscheinen“ eine Moral im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland hergestellt war.
Politischer Neuanfang und verspätete Erinnerung
Ob sich diese gesellschaftliche Moral jemals herstellen lässt, ist zu bezweifeln. Doch dürfen die Leistungen der Ära Adenauer nicht verkannt werden, die die jüngere Geschichtsschreibung gegen die Verfechter des Restaurationsvorwurfs anführt: die Stabilisierung der jungen Demokratie, wirtschaftlicher Aufschwung, ein neues Parteiensystem, deutsch-israelische Wiedergutmachungsverhandlungen, die Westbindung und Integration in internationale Organisationen.4
Auch dem literarischen Restaurationsvorwurf ist mit Blick auf die neuen narrativen Darstellungsweisen – erwähnt seien Multiperspektivität und filmisches Erzählen in Kurzgeschichten – und inhaltlich zu widersprechen. Neben der Auseinandersetzung mit neuen Themen wie Wirtschaftswunder und Tourismus in Bölls oder Marie Luise Kaschnitz’ Kurzgeschichten fand besonders zu Beginn der 1960er-Jahre die Frage nach der Schuld am Holocaust Eingang in die Literatur: Parallel zum Eichmann-Prozess in Jerusalem (1961) und den Frankfurter Auschwitzprozessen (1963 bis 1965), auf die beispielsweise Peter Weiss sein Drama Die Ermittlung (1965) stützte, verfasste Alexander Kluge seine pseudodokumentarische Kurzerzählung Ein Liebesversuch (1962). Darin fingiert er das Protokoll über ein medizinisches Experiment in einem Konzentrationslager: Um zu testen, wie erfolgreich Massensterilisationen durch Röntgenbestrahlungen sind, sollen zwei jüdische Gefangene, die vor ihrer Deportation ein Liebespaar waren, zum Geschlechtsakt angetrieben werden. Sie werden zu Versuchsobjekten, doch als die beiden Gefangenen einander nicht annähern können und das Experiment als gescheitert betrachtet wird, werden sie erschossen. Die Zeugenschaft, das letzte Wort in Kluges experimenteller Erzählung, bleibt bei den Tätern – die Opfer können nicht mehr sprechen.
Kluges Liebesversuch demonstriert exemplarisch, dass Texte der Ära Adenauer keinesfalls leichte oder restaurative Lektüren sind, dafür aber umso notwendigere. Ihre Themen wie Krieg und Zerstörung, Trauma und Verbrechen, Schuld und Verantwortung sind zeitlos. Deshalb können, wie Hilmar Klute in der Süddeutschen Zeitung anmerkt, die Gedanken und Geschichten der Nachkriegszeit „für Generationen, die wieder vor der Aufgabe stehen könnten, eine Demokratie gegen ihre Feinde zu verteidigen“,5 hilfreich sein und den Blick auf unsere Gegenwart schärfen.
Achim Schmid, geboren 2000 in Esslingen am Neckar, Student und wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Literaturwissenschaft der Universität Stuttgart und Stipendiat der Studienförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.
1 Mathias Greffrath: „Höllen der Väter. Debatte um rassistische Sprache“, in: taz, 20.04.2023, https://taz.de/Debatte-um-rassistische-Sprache/!5926122/ [letzter Zugriff: 04.09.2023].
2 Vgl. dazu Cathy S. Gelbin: „Elisabeth Langgässer and the question of inner emigration“, in: Neil H. Donahue / Doris Kirchner (Hrsg.): In Flight of Fantasy: New Perspectives on Inner Emigration in German Literature, 1933–1945, New York / Oxford 2003, S. 269–275.
3 Ijoma Mangold / Mischa Kreiskott: „‚Tauben im Gras‘ als Abi-Lektüre: ‚Eine gewisse Robustheit gehört dazu‘“, in: NDRkultur, 03.04.2023, www.ndr.de/kultur/Tauben-im-Gras-als-Abi-Lektuere-Eine-gewisse-Robustheit-gehoert-dazu,koeppen114.html [letzter Zugriff: 04.09.2023].
4 Norbert Frei: „Die langen Fünfziger“, in: Die Zeit, 16.02.2006, www.zeit.de/2006/08/I__Essay_1/komplettansicht [letzter Zugriff: 04.09.2023].
5 Hilmar Klute: „Die Mahner treten ab“, in: Süddeutsche Zeitung, 24.08.2023, www.sueddeutsche.de/kultur/guenter-grass-martin-walser-auschwitz-nachkriegsliteratur-literatur-paulskirchenrede-1.6158752?reduced=true [letzter Zugriff: 04.09.2023].