Niemand hatte mehr mit ihr gerechnet. Die Hoffnung war in den langen Jahrzehnten des Wartens nahezu verdunstet. Als sie kam, die deutsche Einheit, traf sie die alte Bundesrepublik fast unvorbereitet. Nur das Verfassungsrecht hatte schon früh Vorsorge getroffen. Das Grundgesetz von 1949 zeichnete dem deutschen Volk zwei Wege vor, um „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“: zum einen den Beitritt der getrennten Teile Deutschlands, zum anderen die Schaffung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung. Der erste Weg bedeutete eine räumliche Ausdehnung des Grundgesetzes, der zweite dessen zeitliches Ende. Dort seine Kontinuität, hier seine Ablösung.
In der Urfassung führte das Grundgesetz die Länder der drei westlichen Besatzungszonen auf, in denen es zunächst gelten wollte. „In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen“ (Artikel 23 Satz 2 Grundgesetz alte Fassung). Das Beitrittsverfahren hatte sich in der kleinen Wiedervereinigung mit dem Saarland 1957 bereits bewährt. Nun bot es sich für die große an. Als der beitrittsberechtigte „andere Teil Deutschlands“ kam die DDR in Betracht, die kraft ihrer staatlichen Organisation handlungsfähig, aufgrund der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 demokratisch legitimiert (nunmehr nicht bloß dem Namen nach eine „Demokratische Republik“) und aufgrund der Zurückhaltung der sowjetischen Okkupationsmacht in der Lage war, selbst über ihr staatliches Schicksal zu bestimmen.
Ihr fiel der aktive Part im Beitrittsverfahren zu. Denn der Beitritt hatte durch einseitige Erklärung des beitretenden gegenüber dem aufnehmenden Staat zu erfolgen, also der DDR gegenüber der Bundesrepublik Deutschland. Die DDR entschied darüber, ob sie die Option wahrnehmen wollte, in deren Haus einzutreten und damit auch deren Hausordnung, das Grundgesetz, anzunehmen. Die Rolle der Bundesrepublik war passiv, weil sie von Verfassungs wegen verpflichtet war, die staatliche Einheit Deutschlands zu vollenden. Mit Wirksamwerden des Beitritts ging die DDR in der Bundesrepublik auf und verlor ihre staats- und völkerrechtliche Existenz, indes blieb die Rechtspersönlichkeit der Bundesrepublik unverändert bestehen. Mit der Inkorporation in den bundesdeutschen Staatsverband übernahm der „andere Teil Deutschlands“ auch dessen Verfassung. Das Grundgesetz erweiterte so seinen räumlichen Geltungsbereich. Doch es blieb bis auf einzelne Passagen dieselbe Verfassung, die es zuvor gewesen war.
Zuweilen ist die Rede davon, die DDR sei „dem Grundgesetz beigetreten“. Hier wird die Verfassung verwechselt mit dem Staat, deren Gegenstand sie ist. Die Übernahme des Grundgesetzes war Folge, nicht Inhalt des Beitritts. Wenn die DDR sich mit der Rezeption des Grundgesetzes begnügt hätte, wäre es bei der deutschen Teilung geblieben: Es hätte dann zwei Staaten mit zwei textidentischen Verfassungen gegeben.
Vorbereitung des Beitritts
Der Weg bis zum Beitritt war mit Schwierigkeiten gepflastert. In der langen Trennungszeit hatte sich eine tiefe Kluft zwischen Ost und West aufgetan. Die sozialistische Diktatur hatte zwar ihr Endziel verfehlt, das kommunistische Endreich der Freiheit, doch ihr Zwischenziel weithin erreicht: die Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft. Am Ende erwiesen sich die politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Systeme als unvereinbar. Elementare Voraussetzungen des staatlichen Zusammenlebens und einer gemeinsamen freiheitlichen Verfassung waren verkümmert und mussten wiederhergestellt werden.
Selbst wenn die Erklärung und die Terminierung des Beitritts allein der DDR zukamen, bedurfte die Vorbereitung der gemeinsamen Anstrengung beider deutscher Staaten. Die Bundesrepublik leistete Aufbauhilfe in Rat und Tat, durch sachverständige Beratung wie durch Finanzzuwendungen. Die wesentlichen Grundlagen der künftigen Einheit wurden staatsvertraglich geregelt, so die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, die am 30. Juni 1990 ins Leben trat und einen Grad an Integrationsdichte herstellte, wie er heute zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union besteht. Dem Beitritt unmittelbar voraus ging der Vertrag der beiden Staaten über die Herstellung der Einheit Deutschlands, der die Wirkungen und Folgen des Beitritts regelte: die Überleitung des bundesdeutschen Rechts und den Fortbestand des DDR-Rechts, den Übergang der Verwaltung und Rechtspflege, des Vermögens und der Schulden sowie künftige Gesetzgebungs-, Privatisierungs-, Förderungsaufgaben, die Rehabilitierung der SED-Opfer, den Bestandsschutz für Enteignungen durch die Sowjetmacht. Der Einigungsvertrag sah auch beitrittsbedingte Änderungen des Grundgesetzes vor, darunter die Streichung aller auf Wiedervereinigung gerichteten Passagen, einschließlich der Ablösungsklausel des Artikel 146 Grundgesetz, an deren Stelle eine andere Regelung trat. Damit entsagte das Grundgesetz allen Vorläufigkeitsvorbehalten und erhob sich zur endgültigen Verfassung für das vereinte Deutschland.
Der Verzicht auf weitere Gebietsansprüche vollzog sich im Zwei-plus-Vier-Vertrag der beiden deutschen Staaten mit den vier Siegermächten, deren bis dahin verbliebene Verantwortung für Deutschland als Ganzes endete. Weitere völkerrechtliche Verträge wie der mit der Sowjetunion über den Truppenabzug und mit Polen über die Oder-Neiße-Grenze zeigten ebenfalls, dass die Herstellung der nationalen Einheit international bedingt war und der Einbettung in ein völkerrechtliches Vertragssystem bedurfte. Dennoch mussten die Deutschen der DDR alles Wesentliche selber leisten: den Mut zur bürgerlichen Freiheit, den Sturz der Diktatur, die Prozedur der Runden Tische, den Aufbau demokratischer Institutionen, die Wiederherstellung der Länder.
Der DDR entsprossen: die „neuen“ Länder
Zur Liquidation des SED-Systems gehörten die Abkehr vom sozialistischen Zentralismus und die Hinwendung zum Föderalismus. Am 22. Juli 1990 beschloss die Volkskammer durch Verfassungsgesetz die Wiedererrichtung der fünf Länder, welche die Sowjetmacht 1945/46 in ihrer Zone geschaffen hatte, weithin anknüpfend an die Grenzen vormaliger Länder und (preußischer) Provinzen. Doch im sich beschleunigenden Einigungsprozess kam die DDR über die Planung nicht hinaus. Zu rechtlicher Existenz gelangten die Länder erst mit dem Beitritt am 3. Oktober 1990, Null Uhr: Die DDR erklärte den Beitritt, die Länder sind dem Beitritt entsprossen – im Augenblick zwischen Über- und Untergang der DDR! Strenge Rechtslogik müsste eigentlich den chronologisch identischen Zeitpunkt in zwei juristische Sekunden zerlegen: die erste, in der die Länder als Rechtsgeschöpfe der DDR noch unter ihrer Ägide ins Leben traten, die zweite, in der die DDR mitsamt ihrer Rechtsordnung erlosch.
So hat sich die DDR nicht als Ganzheit, nicht als massiver Block, dem gesamtdeutschen Verband eingegliedert, sondern in der Vielheit der „neuen“ Länder, die sich ihrer Eigenart gemäß entwickeln, je auf ihre Weise mit ihrem DDR-Erbe umgehen, ihre besonderen (partei) politischen Prioritäten setzen und nach eigener Fasson als Thüringen, Sachsen et cetera sich in das vergrößerte Ganze fügen. Der Föderalismus vermag, Härten der Wiedervereinigungsfolgen abzufedern, regionale Besonderheit zu hegen und Integration zu erleichtern.
Das Volk der DDR brachte seinen Willen in den spontananarchischen Massenkundgebungen zur Geltung, in denen es seine „volksdemokratische“ Herrschaft abschüttelte, sowie in der Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990, der ersten freien Wahl, in der es – mit der spektakulären Wahlbeteiligung von 93,39 Prozent – der Parteiengruppe, die sich klar für eine rasche Vereinigung einsetzte, der Allianz für Deutschland, mit 47,79 Prozent der Stimmen den klaren Sieg verschaffte, der zögerlichen SPD 21,76 Prozent und den liberalen Parteien 5,61 Prozent zusprach; indes musste sich die alte Alleinherrschaftsgarde unter neuer Firma, die PDS, mit kläglichen 16,32 Prozent begnügen. Ähnlich fielen elf Tage nach dem Beitritt die Wahlen zu den Landtagen der neu gebildeten Länder am 14. Oktober 1990 aus sowie zwei Monate nach dem Beitritt die Wahl zum nunmehr gesamtdeutschen Bundestag.
Unwiderstehlich war die Abstimmung mit den Füßen. Seit sich die Grenze der DDR nach Westen geöffnet hatte, fand ein Massenexodus statt, der die Regierungen beider Staaten unter immer stärkeren Druck setzte, den Einigungsprozess zu beschleunigen, sodass er, entgegen den anfänglichen Vorstellungen von einem allmählichen Zusammenwachsen, schon am 3. Oktober 1990 sein Ziel erreichte. Der Ursprung der Entwicklung lag also im Volk. Alle entscheidenden Impulse, die revolutionären wie die rechtlich organisierten, kamen „von unten“.
Hypothetische Alternative
Das Grundgesetz hatte eine Alternative zum Beitritt bereitgestellt: seine Ablösung durch eine neue Verfassung, „die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung“ hätte beschlossen werden müssen (Artikel 146 Grundgesetz alte Fassung). Die staatliche Einigung wäre somit an die Schaffung einer neuen Verfassung gebunden worden. Der Inhalt des Grundgesetzes hätte nicht geändert werden müssen. Wohl aber hätte es eines neuen Geltungsbefehls bedurft, den der gesamtdeutsche Verfassunggeber direkt durch Referendum oder indirekt durch eine Nationalversammlung hätte erteilen müssen. Dieser gesamtdeutschen Verfassung wäre das Grundgesetz gewichen.
Allerdings wäre das Volk als der originäre Verfassunggeber nicht an die Vorgaben der weichenden Verfassung gebunden gewesen, nicht an die unberührbaren Grundsätze ihrer „Ewigkeitsgarantie“, nicht an die Verfahrenserfordernisse ihrer Revision. Die (einfache oder qualifizierte) Mehrheit des gesamtdeutschen Volkes hätte freilich nicht genügt. Vielmehr hätte es auch der separaten Mehrheit der DDR-Deutschen bedurft. Hätten diese nicht mehrheitlich zugestimmt, so wäre wohl auch die staatliche Vereinigung gescheitert. In dieser „ungeschehenen Geschichte“ im Sinne Alexander Demandts wäre der ohnehin schwierige Prozess der Zusammenführung zweier heterogener Staaten noch um vieles schwieriger ausgefallen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hätten sich die Beratungen so lange gedehnt, bis der Kairos, in dem die innere wie die äußere Lage Deutschlands eine Wiedervereinigung ermöglichte, verstrichen wäre – wie 1848, als die deutsche Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche den gelehrten Verfassungsdiskurs so lange und so gründlich führte, dass darüber die Chance der staatlichen Einheit und mit ihr die Chance der Verwirklichung des hochachtbaren Verfassungswerks dahin war. 1990 hätte der Streit um die neue Verfassung fundamentale Gegensätze zwischen rechts und links aufgerissen, über denen der Konsens zwischen West und Ost hätte zerbrechen können. Im Übrigen hätten Zweifel an der staats- und völkerrechtlichen Kontinuität Deutschlands als Staat auftreten können. Dagegen hat der Beitritt den Deutschen diesen Rattenschwanz an Problemen erspart, indem er nicht an die Identität der Bundesrepublik Deutschland als Rechtssubjekt rührte. Das alles hinderte jedoch Verfechter demokratischer Schulweisheiten nicht, auf ein Verfassungsplebiszit zu dringen, um einen vermeintlichen Geburtsfehler des Grundgesetzes zu heilen, und auf das nimmer endende Verfahren eines herrschaftsfreien Diskurses über die beste aller möglichen Verfassungen im Wolken reich der Habermasiaden zu setzen. Die politische Linke in beiden Teilen Deutschlands plädierte für eine neue Verfassung, mit dem Hintergedanken, dass die Wiedervereinigung auf dem langen, unsicheren Wege leicht stecken bleiben könnte und, wenn die staatliche Einheit schon nicht zu verhindern gewesen wäre, dass sich wenigstens eine genehmere, stärker sozialistisch imprägnierte Verfassung hätte erreichen lassen.
Die politische Führung der DDR unter Ministerpräsident Lothar de Maizière und die der Bundesrepublik unter Bundeskanzler Helmut Kohl ließen sich nicht beirren. Sie entschieden sich für den kurzen Weg. Ein Jahr später wäre die einzigartige Chance zerstoben. Selbst SPD-Politiker, die wie Willy Brandt die deutsche Einheit noch kurz zuvor als Lebenslüge geschmäht hatten, stimmten am Ende der Beitrittslösung in der Einsicht zu, dass man dort, wo das Eis dünn ist, schnell darübergehen muss.
Nach dem Beitritt
Mit Wirksamwerden der Beitrittserklärung am 3. Oktober 1990, Null Uhr war die deutsche Einheit rechtlich hergestellt. Die praktischen Probleme der Vereinigung erledigten sich damit freilich nicht, sondern brachen nachher auf, als die Illusion platzte, dass sich die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse rasch und mühelos ergeben werde, als die volle Wahrheit über die strukturelle Schwäche der DDR-Wirtschaft zutage trat und die Arbeitslosigkeit aufschoss. Auf der linken Seite des geeinten Deutschland regte sich Enttäuschung darüber, dass sozialistische „Errungenschaften“ zu Ende gingen, auf der rechten Seite, dass Alteigentum nicht restituiert wurde. Nun erwies es sich als fatal, dass die demokratische Phase der DDR zu kurz war, um ihre SED-Vergangenheit für sich zu „bewältigen“, das Unrecht zu ahnden, den Opfern Genugtuung zu verschaffen. Diese undankbare Aufgabe fiel der vereinten Bundesrepublik zu, die sich als Rechtsstaat hier überaus schwertat.
Trotz allem steht die deutsche Einheit außer Streit. Sie weckt keine Emphase mehr, aber auch keinen Protest. Sie ist selbstverständliche Lebensform geworden. Doch täte es den Deutschen wohl, sich zuweilen daran zu erinnern, dass die Geschichte es einmal sehr gut mit ihnen gemeint hat und sie klug genug gewesen sind, die Gunst der historischen Stunde zu nutzen.
Josef Isensee, geboren 1937 in Hildesheim, Staatsrechtler, Staatsphilosoph, emeritierter Professor an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.