Die Bedrohung ist nicht immer schwer bewaffnet wie eine Armee oder mikroskopisch klein wie ein Virus, nicht immer auf dem Schlachtfeld zu stellen oder im Labor zu erforschen. Manchmal kommt die Bedrohung so nüchtern daher wie simple Prozentangaben in einer Umfrage. In der aktuellen Ausgabe von The State of Southeast Asia, der jährlich vom Institute of Southeast Asian Studies (ISEAS) in Singapur veröffentlichten Studie zur geopolitischen Verortung von Entscheidungsträgern in den zehn Mitgliedsländern der Association of Southeast Asian Nations (ASEAN), findet sich ein alarmierendes Zahlenwerk.
Die Mehrheit der Befragten (50,5 Prozent) plädiert dafür, die Position Chinas zu wählen, sollte die Region gezwungen sein, sich in der anhaltenden Rivalität zwischen Peking und Washington für eine Seite zu entscheiden. Für die USA optierten in dieser Umfrage 49,5 Prozent im Durchschnitt aller ASEAN-Staaten. Ein denkbar knappes Ergebnis – es kippte allerdings erstmalig in diese Richtung. Noch in der Studie des Jahres 2023 bezog nur etwas mehr als jeder Dritte (38,9 Prozent) Position für China, während die Vereinigten Staaten damals eine ausgesprochen klare Mehrheit an Unterstützern (61,1 Prozent) hatten.
Wie sieht man im Osten den Westen? Was weiß man im Westen vom Osten? Oder geht es längst um eine noch größere Region, den sogenannten Globalen Süden insgesamt? Wie definiert Asien, derzeit in Sachen ökonomische Aufbrüche und gesellschaftliche Umbrüche die dynamischste Weltregion, die Zustände auf dem Globus? Und wie agiert und reagiert man im Westen, der, denkt man etwa an Länder wie Japan oder Südkorea, längst als Wertegemeinschaft und nicht mehr als geografische Einheit begriffen werden muss?
Die Macht über die Welt
„Die Geschichte lehrt“, schrieb vor rund 700 Jahren der chinesische Schriftsteller Luó Guànzhōng in seinem Monumentalwerk Geschichte der Drei Reiche, „dass die Macht über die Welt, wenn sie lange geteilt war, geeint werden muss, und wenn sie lange geeint war, geteilt werden muss.“ Und vor gut 200 Jahren proklamierte Johann Wolfgang von Goethe in seinem Westöstlichen Divan: „Wer sich selbst und andre kennt/Wird auch hier erkennen:/Orient und Okzident/Sind nicht mehr zu trennen.“
„Nicht mehr zu trennen“ – das war eine prophetische Formulierung, wenn man den Grad der Globalisierung betrachtet. Dennoch kann sie sich als falsche Vorhersage erweisen, falls sich die Handelskonflikte (und vor allem die Gründe dafür) zwischen Washington und Peking zuspitzen sollten, schlimmstenfalls ergänzt durch einen militärischen Konflikt um Taiwan – und wenn sich eines Tages möglicherweise auch Europa entscheiden muss für die eine oder andere Seite: für jene, die uns seit achtzig Jahren Sicherheit gewährt, oder für die andere, die unseren Produkten heute den größten Markt der Welt garantiert. Sind wir, im Sinne von Guànzhōng, aktuell im Zustand einer geteilten Welt, in der Nachfolge einer vorübergehenden Phase amerikanischer Dominanz nach dem Sieg im Kalten Krieg? Oder schon auf dem langen Weg zu einer Einigung nach der derzeitigen Zerfaserung – von welcher Seite wird die Welt aber dann zu welchem Preis für die andere Seite geeint?
Zurück zu der ISEAS-Untersuchung, durchgeführt unter Menschen mit zumeist hoher Bildung: Auch wenn die Befragten in den ASEAN-Ländern inzwischen mehrheitlich China einen knappen Vorzug vor den USA geben würden, kommt dies keiner Sympathiebekundung für Peking gleich. 42,4 Prozent (2023: 54,2 Prozent) der Befragten vertrauen darauf, dass die USA „die richtigen Dinge tun“ würden, um global zu Frieden, Sicherheit, Wohlstand und verlässlicher Ordnung beizutragen. Von China denken dies nur 24,8 Prozent (2023: 29,5 Prozent). Andere globale Player werden als vertrauenswürdig eingeschätzt, darunter die Europäische Union (41,5 Prozent); zugleich aber hält man Brüssel weder auf wirtschaftlichem noch auf politischem Feld für sonderlich wirkmächtig.
Und noch ein Faktor ist wichtig: Die Mitgliedsländer des relativ lax organisierten Staatenbündnisses ASEAN sind weit entfernt von jeder Interessenkongruenz, auch hinsichtlich außenpolitischer Bündnisse und Ziele. ASEAN vereinigt rund 670 Millionen Menschen in unterschiedlichsten politischen Systemen, darunter mehr oder weniger ambitionierte oder gar nur nominelle Demokratien (Indonesien, Kambodscha, Malaysia, die Philippinen, Singapur), konstitutionelle (Thailand) und absolute Monarchien (Brunei), ein Militärregime (Myanmar) – und mit Vietnam und Laos sogar zwei marxistisch-leninistische Einparteiensysteme.
Auf die Seite Chinas zieht es Malaysia (75,1 Prozent), Indonesien (73,2 Prozent), Laos (70,6 Prozent), Brunei (70,1 Prozent) und Thailand (52,2 Prozent). Wer aufgrund der gemeinsamen Berufung auf Marx und Lenin auch Vietnam dem China-Lager zurechnen möchte, wird nicht zuletzt durch die Umfrage korrigiert: Im kommunistischen Vietnam, dem einstigen Gegner in einem erbitterten Krieg, würden im Falle eines Zwangs, zwischen den USA und China entscheiden zu müssen, 79 Prozent für Washington optieren. Nur auf den Philippinen ist die Zustimmung zu den USA mit 83,3 Prozent noch höher. Beide Länder streiten mit China über Grenzfragen und Territorien vor allem im Südchinesischen Meer; sie setzen darum auf ein regionales Engagement Washingtons. Singapur (61,5 Prozent), das von einem Bürgerkrieg erschütterte Myanmar (57,7 Prozent) oder Kambodscha (55 Prozent) bevorzugen ebenfalls den Schutz durch die Vereinigten Staaten.
Revitalisierung jahrtausendealter Hochkulturen
Der Westen steht also nicht allein – weder innerhalb von ASEAN noch in Asien insgesamt. Japan, Südkorea und Taiwan, obwohl Letzteres nicht als eigener Staat anerkannt, setzen ebenfalls auf Amerika. Unwiederbringlich verflogen ist gleichwohl jener naive Optimismus, der nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks ein „Ende der Geschichte“ und die weltweite Adaptierung des westlichen Modells von freier Marktwirtschaft und parlamentarischer Demokratie für gekommen sah. China und vier weitere Staaten (Vietnam, Laos, Kuba, Nordkorea) agieren mit einem sozialistischen Gegenwartsanspruch und behaupten, auf dem Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft zu sein. Russland hat sich nach seiner Selbstbefreiung vom Kommunismus und einem kurzen Flirt mit westlichen Idealen erneut zu einem diktatorischen System entwickelt. Im Iran sind trotz aller Proteste die Mullahs weiterhin an der Macht. In etlichen asiatischen, arabischen, afrikanischen oder lateinamerikanischen Staaten hält man sich ideologisch fern von der Gesellschaft des Westens, die Francis Fukuyama als neue Norm erachtet hatte. Das totalitäre 20. Jahrhundert ist keinem liberalen 21. Jahrhundert gewichen.
Wer nach den Gründen fragt, wird einige zu hören bekommen. Doch entgegen populären Vorstellungen dürften ungeschickte Kriege im Nahen Osten, Abu Ghraib, Guantánamo oder der peinliche Abzug aus Afghanistan nicht zu den gewichtigsten zählen. Zentraler ist das Argument der Revitalisierung jahrtausendealter Hochkulturen. China und Indien nahmen keinen dauerhaften Abschied von Welthandel und Weltpolitik. Hinzu kommt die simple demografische Entwicklung, die beide Bevölkerungstitanen nach Perioden globaler Passivität wieder zu aktiven Playern gemacht hat: Indien, das kürzlich zum bevölkerungsreichsten Staat avancierte, und China, das seit Kurzem schrumpft, haben sich in die Phalanx der wichtigsten Wirtschaftsmächte „hineingekindert“. Die Gewichte in der Geopolitik haben sich auch damit verschoben.
Allerdings nicht überall. Die USA sind hinsichtlich ihrer Bevölkerung recht jung geblieben und immer noch vergleichsweise dünn besiedelt. Amerika wurde seit 1814, als britische Truppen das Weiße Haus und das Kapitol niederbrannten, unzählige Male für tot erklärt und ist doch sehr vital. Andere Teile des Westens, Europa ebenso wie das asiatische Japan, sind dagegen auf dem Weg in die Vergreisung. Das schafft Raum für jüngere Kräfte mit ehrgeizigen Zielen. Es war Präsident Xi Jinping, der bei seinem (aus vielerlei Gründen schwierigen) Besuch 2014 in Indien die Vision von der neuen Dominanz der beiden ökonomischen Schwergewichte entwickelte: China sei die Fabrik der Welt und Indien dessen „back office“ oder Verwaltungsgebäude.
Doppelstandards westlicher Industrieländer
Lange Zeit wurde der Westen in Asien als Lehrmeister nicht nur akzeptiert, sondern auch gesucht. So erzählt es ein erfolgreicher deutscher Unternehmer, der nicht zuletzt durch seine China-Geschäfte vermögend wurde, in seinem Büro am Berliner Kurfürstendamm: „Über viele Jahre kamen Chinesen in mein Büro, allesamt klug, allesamt bescheiden, und sagten mir: ‚Wir wollen von Ihnen lernen.‘ Die Chinesen kommen heute immer noch in mein Büro, aber diesen Satz habe ich schon seit Jahren nicht mehr gehört.“
Inzwischen sei der Globale Süden den mangelnden Respekt des Westens leid, schreiben der Indonesier Dino Patti Djalal und der Australier Michael Sheldrick in einer Analyse für das Onlineportal NIKKEI Asia. Westliche Nationen „sitzen gern auf einem hohen Podest, predigen und agieren als Richter und Jury zugleich gegenüber dem Rest der Welt“, zitieren sie den indonesischen Diplomaten Wiryono Sastrohandoyo. Zweifellos haben die Autoren einen Punkt, wenn sie etwa Doppelstandards westlicher Industrieländer beklagen, die einerseits für Freihandel werben, aber andererseits Palmölimporte aus asiatischen Ländern unter Verweis auf die Gefahr des Abholzens von Regenwäldern protektionistisch limitieren. Ist der Westen auf seinem eigenen Terrain in den letzten Jahrzehnten wirklich so vorbildlich mit den Ressourcen umgegangen, dass er jetzt jüngeren Marktteilnehmern die Spielregeln diktieren sollte? Die Autoren erinnern daran, dass der Westen seine stolzesten Errungenschaften wie die Vielparteiendemokratie, den Sozialstaat und die Achtung von Menschenrechten erst nach Jahrhunderten mit Kriegen, Zerstörung, Faschismus (man möchte hinzufügen: Kommunismus) und Armut realisiert hat.
Der Westen muss pragmatischer agieren, und das gilt vor allem für die weiterhin noch zu missionarischen EU-Europäer. Das heißt nicht, dass man beim Import auf sämtliche Regulierungen zur Sicherstellung ökologischer und menschenrechtlicher Standards verzichtet. Aber wer Handelspartner aus dem Globalen Süden durch Lieferkettengesetze auf tugendhaftes Verhalten verpflichten will, schützt möglicherweise nicht die Umwelt, sondern überlässt den Raum anderen Akteuren, die sich um derartige Auflagen nicht scheren. Wenn man so gern von „wechselseitigem Respekt“ und „Augenhöhe“ spricht, sollte man Partnern, die ja ein natürliches Interesse am langfristigen Schutz ihrer Ressourcen haben, Eigenverantwortung zugestehen. Warum sollte der Globale Süden dies schlechter machen als der verunsicherte Westen?
Kaum Hoffnung auf „Westernisation“
Der Abschied des Westens von seinem Hochmut ist überfällig. Er darf dabei allerdings daran erinnern, dass es kein Monopol für arrogantes Verhalten gibt. Moralische Überhöhungen waren allen mächtigen Kulturen eigen. Bekanntlich wurde der Kotau mit dreimaligem Knien und neunmaligem Berühren des Bodens mit der Stirn nicht im Westen erfunden. Und so wenig der Westen erzwingen kann, dass sich wichtige Länder nach dem russischen Angriffskrieg auf die Seite Kiews stellen, muss er gleichwohl nicht die Haltung etwa Indiens loben, eine Position der Neutralität sei moralisch erhabener als die Unterstützung der Ukraine.
Es gibt gute Gründe für das neue asiatische Selbstbewusstsein, und es geht einher mit einem Inferioritätsgefühl im Westen. 2022 antworteten in einer Umfrage des Democracy Perception Index 83 Prozent der Chinesen, sie lebten in einer Demokratie – in den Vereinigten Staaten, tatsächlich die älteste demokratische Gesellschaft der Welt, wähnten sich nur 49 Prozent in einer solchen Staatsform. Nach unterschiedlichen Erhebungen glauben die Republikaner mehrheitlich und bis zu vierzig Prozent der US-Wähler insgesamt, die Präsidentschaftswahl 2020 sei Donald Trump gestohlen worden und Joe Biden sitze zu Unrecht im Weißen Haus. Wie will man aber die Welt von den Vorzügen der Demokratie überzeugen, wenn eine sehr starke Minderheit in deren politischer und wirtschaftlicher Führungsmacht selbst nicht mehr glaubt, in einem solchen System zu leben? Und es damit China erleichtert, das eigene Modell als das effizientere und demokratischere zu promoten?
Der Westen hat nach wie vor wichtige Verbündete, die gleichwohl nicht alle für westliche Werte eintreten. Auch diese Erkenntnis gehört zu einem pragmatischeren Umgang mit einer Welt in Unordnung, der den USA geläufiger ist als den Europäern. Vor wenigen Jahren stand der Begriff der „Easternisation“ hoch im Kurs, und kaum jemand zweifelte, dass China die USA binnen weniger Jahre als größte Wirtschaftsmacht ablösen würde. Zumindest mittelfristig sieht es danach nicht mehr aus. Es gibt mithin durchaus optimistisch stimmende Signale für den Westen. Jetzt gilt es, an den eigenen Werten unbedingt festzuhalten und die Realpolitik wieder stärker zu gewichten als die Hoffnung auf eine Rückkehr zur „Westernisation“.
Ansgar Graw, geboren 1961 in Essen, Leiter des Medienprogramms Asien der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Singapur.