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Der lange Abschied von der Entspannungspolitik

Die Krim-Annexion vor zehn Jahren und die deutschen Russlandbeziehungen

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„Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“ – Søren Kierkegaards Satz zur begrenzten Erkenntnis über die Zukunft trifft auch für die Politik und ihre Gestalter zu. Das gilt umso mehr, wenn die Entwicklungen radikale Haken schlagen, weg von Erwartungen und der Logik der eigenen politischen Kultur und Rationalität – und die Pfadabhängigkeit in Beziehungen zur Gefährdung wird. Bundeskanzlerin Angela Merkel soll gesagt haben: „Putin lebt in einer anderen Welt“ – das ist sicher richtig, aber es fiel gerade Deutschen schwer, zu verstehen, dass in dieser anderen Welt andere Regeln gelten und auch brutale Kriege als probate Instrumente angesehen werden.

Fasziniert saßen wir im Winter 2013/14 vor den Fernsehnachrichten und sahen, wie sich in Kiew auf dem Majdan Nesaleschnosti, dem Platz der Unabhängigkeit, Menschen versammelten – und es trotz der Kälte immer mehr wurden. Sie protestierten gegen die im letzten Moment ausgesetzte Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union (EU) durch Präsident Wiktor Janukowytsch. Bald entwickelte sich der „Euromaidan“ zu einer Massenbewegung – für Europa, für Demokratie und gegen den pro-russischen Kurs der Regierung. Am 22. Februar 2014 floh Janukowytsch nach Russland.

Gleichzeitig begann Moskaus Operation zur Annexion der Krim mit militärischen Spezialkräften, den sogenannten „Grünen Männchen“ ohne Hoheitsabzeichen. Sie wurden in den westlichen Medien als aufständische Bewohner der Krim angesehen, die mit dem neuen, europäischen Kurs der Ukraine nicht einverstanden waren. Die „Selbstverteidigungskräfte der Krim“ schalteten umgehend unabhängige Medien ab, verhafteten, verschleppten oder vertrieben pro-ukrainische Bürger, insbesondere auch die Krimtataren. Sie übernahmen die Herrschaft über die Institutionen und die Infrastruktur der Krim. Ein manipuliertes und unter Drohungen abgehaltenes Referendum am 16. März 2014 stimmte für den Beitritt zur Russischen Föderation. Zwei Tage später verkündete Präsident Putin die Annexion der Halbinsel.

Das Vorgehen des Kremlchefs mit nicht gekennzeichneten schwerbewaffneten Spezialkräften – dazu bekannte er sich erst im April 2014 –, verbunden mit der unklaren Umbruchsituation in Kiew, ließ rätseln, inwieweit auf der überwiegend russischsprachigen Krim eine pro-russische Bewegung agierte oder ein wohlvorbereitetes, strategisches Vorgehen Putins zur Verschiebung einer Grenze zugunsten Russlands stattfand.

Nach der Einverleibung der Krim begann Putin, von Noworossija („Neurussland“) zu sprechen – einem weitaus größeren Gebiet in der Ukraine, das einst unter Katharina der Großen zu Russland gehört hatte. Ein nächster Schritt erfolgte, als am 27. April 2014 von Putin ebenfalls durch reguläre Truppen militärisch unterstützte Separatisten im Donbass die Volksrepubliken Lugansk und Donezk ausriefen und weitere Gebiete zu erobern versuchten. Seither steht die Ukraine im Krieg, der bis Februar 2022 als sogenannter low intensity war geführt wurde, mit von Russland gelieferten Waffen und unter Bruch zweier Waffenstillstandsabkommen. Der Westen wurde erstmals mit der hybriden Kriegsstrategie Moskaus konfrontiert.

Am 24. Februar 2022 überzog die Armee des russischen Präsidenten schließlich die gesamte Ukraine mit einem gegen die Zivilgesellschaft gerichteten brutalen Angriffskrieg, nicht „nur“ deren Osten. Es geht nun um die Vernichtung des ukrainischen Staates, vor allem der ukrainischen Nation und Kultur. Die Bewertung der deutschen Russlandpolitik änderte sich nach dem Angriff in wenigen Stunden radikal. Man fragt sich deshalb: Wie und in welchem innen- und außenpolitischen Kontext machten die damaligen Regierungen unter Bundeskanzlerin Angela Merkel Russlandpolitik?

 

„Wandel durch Verflechtung“

 

Als Angela Merkel am 22. November 2005 zur Bundeskanzlerin gewählt wurde, erbte sie nicht nur die auf Stabilisierung und Integration Russlands in das westliche Wertesystem gerichtete Politik von Bundeskanzler Helmut Kohl, sondern auch die ihres unmittelbaren Amtsvorgängers Gerhard Schröder, der gegen Ende seiner Amtszeit ein ausgesprochen kumpelhaftes, unkritisches Verhältnis zum russischen Präsidenten entwickelte. Präsident Putins Staatsbesuch 2001 mit seiner Rede auf Deutsch im Deutschen Bundestag hatte alle Bundestagsfraktionen, die Medien und die Wirtschaft begeistert und ihm große Sympathie bei den Bürgern verschafft. Ohnehin hielt bei den Parteien, aber auch in der Öffentlichkeit zumindest bis 2014 das Gefühl der Dankbarkeit über die Deutsche Einheit und den problemlosen Abzug der großen sowjetischen, nach Auflösung der Sowjetunion 1991 dann russischen Militärverbände aus Deutschland an. Schröder zog in seiner Amtszeit die Russlandpolitik an sich. Der Petersburger Dialog (2001) brachte Partner aus Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft zusammen.

So fand die Bundeskanzlerin auf Regierungsebene eingefahrene deutsch-russische Beziehungen vor, die von der deutschen Industrie, insbesondere vom Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft, massiv unterstützt wurden. Billige Energielieferungen standen im Zentrum des Interesses; dafür hatte die Vorgängerregierung bereits im Sinne Moskaus den Einfluss von Gazprom und russischen Staatsunternehmen in der deutschen Energiewirtschaft gefördert. Nur Wochen vor der Bundestagswahl 2005 war der auf deutscher Seite privatwirtschaftliche Vertrag für die Ostsee-Pipeline im Beisein von Gerhard Schröder und Wladimir Putin unterzeichnet worden. Schröder trat nach der verlorenen Wahl 2005 nicht nur in den Vorstand von Gazprom und weiteren Staatsunternehmen ein, sondern wurde bis 2022 Russlands einflussreichster Lobbyist in der SPD und für die deutsche Wirtschaft. Außenminister Frank-Walter Steinmeier hatte sich als Kanzleramtsminister unter Schröder um die Beziehungen zu Russland gekümmert und ein enges Verhältnis zur russischen Führung. Jetzt lag die Aufgabe in seinem Ressort – gemäß der traditionellen Auslegung des Ressortprinzips mit weitgehender Handlungsfreiheit.

„Wandel durch Verflechtung“ war Steinmeiers Konzept, das eine „irreversible“ Partnerschaft mit Moskau festigen sollte. Das Narrativ entsprach der SPD-DNA, das seit der Brandt’schen Ostpolitik ebenso Teil ihrer Identität geworden war wie der verbreitete Skeptizismus gegenüber den USA und der NATO sowie eine generelle Neigung nach Russland. Dieses Konzept erhielt unter Präsident George W. Bush und später unter Donald Trump reichlich Nahrung.

 

Empfang im KGB-Stil

 

Angela Merkel kennt Russland seit ihren Studientagen, spricht gut Russisch und hat große Sympathien für Land und Leute. Ein Porträt von Katharina der Großen zierte lange ihr Amtszimmer. Allerdings machte sie sich keine Illusion über die mangelnde Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sowie den Charakter des früheren KGB-Offiziers Putin. Er selbst bestätigte seine Prägung offenbar lustvoll, indem er versuchte, die Bundeskanzlerin – deren Abneigung gegen Hunde dem Kreml bestens bekannt war – bei ihrem Besuch in Russland durch seinen großen Labrador einzuschüchtern, was sie als KGB-Stil bezeichnete.

Deutlich wurde der Unterschied zum Verhältnis zwischen Schröder und Putin durch eine neue Sachlichkeit und andere Prioritätensetzung: Während die Bundeskanzlerin für ihren Antrittsbesuch zwei Tage in Washington war, nahm sie sich im Januar 2006 für Putin nur einen halben Tag Zeit. Sie betonte jedoch ihr Interesse an Kontinuität und intensiver Zusammenarbeit, an jährlichen Regierungskonsultationen und zivilgesellschaftlichem Austausch im Rahmen einer strategischen Partnerschaft. Anders als ihr Amtsvorgänger sprach sie aber auch Differenzen über Moskaus brutales Vorgehen im Tschetschenienkrieg und die Einschränkung der Arbeit von Menschenrechtsorganisationen an. Sie ließ es sich auch nicht nehmen, in Moskau mit Menschenrechtlern und Oppositionellen zusammenzutreffen.

Über die Jahre gewann die Kanzlerin aufgrund der vielen persönlichen Treffen bilateral, auf internationalem Parkett und in zahlreichen Telefongesprächen den Respekt Putins. Erst in den letzten Tagen ihrer Amtszeit – als sich Putins Truppen an drei Grenzen der Ukraine positionierten – verweigerte er sich ihren Anrufen.

Putin empfindet den Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums als tiefe Schmach, „als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, die es zu revidieren gilt. Er strebt nach der Wiederherstellung des russischen Imperiums. Als Feind sieht er die USA, die für ihn Verursacher jeglicher Demokratiebestrebungen sind. Den Westen verachtet er, hält ihn für schwach, zerstritten, dekadent, nicht durchhaltefähig. Die Europäische Union ist in seiner Sicht kein Machtfaktor. All das fließt in seine Entscheidungen ein. Bereits in den 1990er-Jahren war zu erkennen, dass Russland seinem früheren Machtbereich – dem „Nahen Ausland“ – nicht die volle Souveränität zugestehen wollte; die russischen „Friedenstruppen“ wurden nicht wie vereinbart aus Transnistrien abgezogen und blieben auch in Südossetien. 2005/06 reagierte der Kreml auf die Orangene Revolution in der Ukraine und die Wahl des pro-europäischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko (2004) mit Druck und drastischen Gaspreiserhöhungen sowie schließlich mit dem zeitweiligen Stopp der Lieferungen. Energie wurde zur Waffe.

 

Außenminister kritisiert Kanzlerin

 

Aus der konfrontativen Rede Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 ließ sich ein Politikwechsel herauslesen, der sich mit einem Cyberangriff auf das neue NATO-Mitglied Estland 2007 manifestierte. Die Reaktion auf die Rede und den Cyberangriff war in Deutschland völlig anders als im alarmierten Osteuropa: In der Öffentlichkeit und in Talkshows, vor allem aber beim Koalitionspartner herrschte die Meinung vor, man müsse Russland mehr einbinden, Putin entgegenkommen. Pro-russische Journalisten, deren Verbindungen nach Moskau – wie im Falle von Hubert Seipel – teils erst jetzt aufgedeckt werden, und „Putin-Versteher“ kamen in Medien und prominenten Talkshows regelmäßig zu Wort, so die damals scheinbar unvermeidliche Gabriele Krone-Schmalz als Pro-Putin-Star. Prominente Politiker, allen voran Altkanzler Schröder, drängten in diese Richtung und hatten starken Einfluss auf die SPD-Fraktion. Der vom Kreml verbreitete Mythos, die NATO habe zugesagt, östlich der DDR keine neuen Mitglieder aufzunehmen, fand inzwischen Resonanz – das Argument tauchte erst Mitte der 2000er-Jahre auf. Der Außenminister kritisierte die Kanzlerin, weil sie gegenüber Putin rechtsstaatliche Defizite in Russland deutlich ansprach.

Während Außenminister Steinmeier in seinem Ressort – gedrängt und unterstützt durch das beachtlich große Netzwerk um Schröder aus SPD-Politikern der ersten und zweiten Reihe sowie Wirtschaftsführern – die Energiebeziehungen mit Russland vorantrieb, entwickelten sich die Verhältnisse in Moskau scheinbar in eine bessere Richtung: Der damals liberal auftretende Dmitri Medwedew löste Putin im Amt ab. Bald war aber erkennbar: Dieser bleibt der eigentliche Machthaber. Während Medwedews Amtszeit nahm die Regierung einen neuen Anlauf zu intensiverer Kooperation. Der Kreml akzeptierte Steinmeiers Angebot einer „Modernisierungspartnerschaft“ – scheinbar eine Win-win-Situation: deutsche Investitionen in Russland mit moderner Technologie, wachsende deutsche Exporte und vor allem billige Energie für die deutsche Industrie –, das alles, so die Zielsetzung, vor einem Hintergrund nun wieder wachsender Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Russland.

Die Bundeskanzlerin konnte die Befindlichkeiten und Probleme des zerfallenen russisch-sowjetischen Imperiums nachvollziehen und setzte sich bei ihren Gesprächen mit ihren westlichen Partnern für Verständnis der russischen Sicherheitsinteressen ein. Auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 widersprach sie, gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, den Plänen des amerikanischen Präsidenten Bush, der die Aufnahme Georgiens und der Ukraine in die NATO anstrebte. Das Kommuniqué eröffnete die Perspektive auf einen späteren Eintritt. Vier Monate später griff das abtrünnige Südossetien unter dem Schutz russischer „Friedenstruppen“ Georgien an, dessen Präsident mit seiner militärischen Antwort dem Kreml den Vorwand für den Einmarsch der russischen Armee lieferte.

Heute wird Merkels Veto vielfach als strategischer Fehler gesehen, der den Überfall auf Georgien und die Ukraine ermöglichte. Vergessen wird allerdings: Die politische und technische Vorbereitung eines Beitrittskandidaten durch den Membership Action Plan der NATO kann Jahre dauern. Anschließend müssen alle NATO-Mitglieder und der Kandidat den Vertrag ratifizieren; auch das kann dauern, wie wir aktuell im Fall Schwedens sehen. Zudem ist die Ukraine heute kaum noch mit dem Land von 2014 zu vergleichen. Ihre seit 1990 chronisch instabilen Regierungen hielten nicht einmal zwei Jahre; die Hälfte der Bevölkerung lehnte einen NATO-Beitritt ab; hinzu kamen die notorische Korruption im Staatsapparat und eine desolate Armee. Kurz: In Anbetracht der festen Überzeugung Putins, die früheren Teile der Sowjetunion in seinen Machtbereich integrieren zu wollen, war eine unmittelbare Invasion in einer schwachen Ukraine ebenso wahrscheinlich, um einem NATO-Beitritt zuvorzukommen.

Nach gefälschten Duma-Wahlen 2011 und Putins Volte, 2012 nach ebenfalls manipulierten Wahlen wieder das Präsidentenamt zu übernehmen, verschlechterte sich das Verhältnis Merkels zu Putin, weil dieser sofort die Repressionen verschärfte: das Vorgehen gegen die Band Pussy Riot sowie gegen zivilgesellschaftliche Organisationen und das sogenannte Agentengesetz führten nun zu deutlicheren Reaktionen in Deutschland. Ein Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP mit scharfer Kritik an der russischen Innenpolitik erinnerte daran, dass die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft unter rechtsstaatlichen Bedingungen Teil der Modernisierungspartnerschaft war, setzte sich jedoch für eine weitere intensive Zusammenarbeit mit Russland ein. Die Entschließung milderte der Bundestag auf Intervention des Auswärtigen Amtes noch ab. Nicht nur in der SPD gab es den Willen, eng mit dem Kreml zusammenzuarbeiten – auch in Merkels eigener Fraktion war die Rücksicht auf Russland und auf deutsche Wirtschaftsinteressen groß. Eine Kooperation mit Moskau schien fundamental für die deutschen Interessen.

 

Ukraine im Windschatten deutscher Politik

 

Obwohl Putin Russland unübersehbar zu einer Diktatur umbaute und unter dem Agentengesetz auch die Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung in Moskau mit Razzien überzog (2013), hat Bundeskanzlerin Merkel einen Koalitionsvertrag mit der SPD akzeptiert, der unter dem Leitsatz „Sicherheit in und für Europa lässt sich nur mit und nicht gegen Russland erreichen“ einen langen Passus enthielt, der vollständig vom Narrativ des Wandels durch Verflechtung durchtränkt war. Der Bürgerkrieg in Syrien war aus dieser Sicht nur ein weiteres Argument für die Einbindung Moskaus. Gernot Erler (SPD) als Vertreter dieser Richtung ersetzte in der Großen Koalition den verstorbenen putinkritischen Russlandbeauftragten Andreas Schockenhoff.

Trotz der Warnungen mittelosteuropäischer Mitgliedsländer der Europäischen Union, besonders Polens und der baltischen Staaten, blieb die Ukraine im Windschatten deutscher Politik.

Angela Merkel wird nachgesagt, ein distanziertes Verhältnis zur Bundeswehr beziehungsweise allgemein zum Militär zu haben. Im Grunde war das Konzept der Abschreckung bereits 1990 von der deutschen Politik ad acta gelegt worden. Auch als Washington und europäische Partner bereits mit Sorge das massive Aufrüstungsprogramm des Kreml, seine ZAPAD-Manöver – gemeinsame Militärmanöver der russischen und belarussischen Streitkräfte – und die neue, hybride Militärstrategie betrachteten, ließen die CDU-Verteidigungsminister auf Druck der rüstungsskeptischen SPD, aber auch mit Rücksicht auf die Sparziele aus dem Finanzministerium die Schwächung der Bundeswehr (Personal und Ausrüstung) zu. Sie war zulasten der Bündnisverteidigung den Anforderungen der Zeit, also Auslandseinsätzen, angepasst worden und weit entfernt vom 2002 verabredeten Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung aufzuwenden. Auch auf der NATO-Tagung in Wales 2014 gelang es nicht, dieses Ziel verbindlich festzuschreiben.

 

„Diplomatisch-politischer Weg aus der Krise“

 

Der Abbau der hohen Staatsverschuldung infolge der Finanzkrise 2010 und die Haltung der jeweiligen Koalitionspartner hatten eine Erhöhung des Militärhaushalts Deutschlands aussichtslos gemacht. Um Putin nicht das Argument der Verletzung der NATO-Russland-Akte (1997) zu liefern, lehnte Merkel Forderungen nach der Verstärkung von NATO-Truppen im Baltikum und in Polen ab. Bei der Verweigerung von Waffenlieferungen an die Ukraine blieb es auch nach dem hybriden Überfall Putins auf die Krim 2014 und den Donbass – offenbar, weil Merkel diese innenpolitisch nicht hätte durchsetzen können und eine Konfrontation der Ukraine mit Russland als aussichtslos ansah, ferner Moskaus Mitwirken am Waffenstillstand nicht gefährden wollte. Analysen von Russlandexperten, der Kreml wolle die Ukraine als vermeintlich russisches Territorium reintegrieren, wollte das Auswärtige Amt – und die Kanzlerin – nicht wahrnehmen beziehungsweise durch Eingehen auf Russland abwenden. Merkels Instrument waren die Diplomatie und Strategien der De-Eskalation. Diese Haltung wurde in Deutschland und in Frankreich überwiegend geteilt. Daran änderte auch die Analyse von Ost-Experten nichts, die aus Äußerungen des Kreml andere Entscheidungen ablasen. Historiker werden herausfinden, wie stark Christopher Clarks Buch Die Schlafwandler die Entscheider in ihrer Sorge vor einem Hineinschlittern in die Eskalation beeinflusste.

Merkel bekannte sich in ihrer Regierungserklärung zum russischen Überfall auf die Krim 2014 „zum diplomatisch-politischen Weg aus der Krise“, für den es einen „langen Atem“ brauche. Die Hand nach Russland blieb somit ausgestreckt, um den Konflikt über Verhandlungen zu lösen. Sie nannte die Konsequenzen für Moskau, falls eine Einigung nicht zustande käme. Moskau würde aus der G8 ausgeschlossen, Kiew sollte wirtschaftliche und politische Unterstützung erhalten. Sie setzte sich in einem diplomatischen Kraftakt für Waffenstillstandsverhandlungen ein, an denen neben Frankreich und der Ukraine auch Putin teilnahm und in die darüber hinaus die USA, die Europäische Union und die OSZE eingebunden waren. Letztlich gingen die Vereinbarungen (Minsk I und II) allerdings zulasten der Ukraine; die Annexion der Krim stand ohnehin nicht mehr zur Diskussion, und der Waffenstillstand wurde zu keinem Zeitpunkt befolgt.

Putin hielt die Fiktion aufrecht, an der Abtrennung der Ostukraine nicht beteiligt zu sein. Nach dem Abschuss der MH17-Maschine im Juli 2014 setzte Merkel gegen den Widerstand einiger Partner Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland durch – und hielt mit aller Kraft an deren Beibehaltung fest. Vom Koalitionspartner SPD, von der Wirtschaft, den Medien, den rechten „Montagsdemonstrationen“ und EU-Partnern war bald die Forderung nach Aufhebung der Sanktionen gekommen.

 

Trotz allem keine Neuausrichtung der Russlandstrategie

 

Erstaunlich bleibt, dass auch zu diesem Zeitpunkt keine grundlegende Neuausrichtung der Russlandstrategie folgte, trotz Moskaus Rolle in der Ostukraine, in Syrien, in Libyen und trotz seiner Hochrüstung. Im Gegenteil: Nord Stream 2 wurde 2015 unterzeichnet. Steuereinnahmen aus Energielieferungen machten rund vierzig Prozent des russischen Staatshaushalts aus, siebzig Prozent des Gasexports gingen in die Europäische Union. Nord Stream mochte so als ein (letztes) Instrument gesehen werden, Putins Interesse an einer kooperativen Politik mit dem Westen zu erhalten. Schon Nord Stream 1 schwächte die Ukraine, weil die Durchleitung von Gas nicht nur finanziell von Bedeutung war, sondern ihr auch ein Druckmittel gegen Moskau in die Hand gab. Nord Stream 2 würde dem Kreml ermöglichen, die Ukraine völlig zu umgehen – ein klares geostrategisches Instrument des Kreml. Aber die Kanzlerin blieb ebenso wie die Union, SPD und die Grünen bis 2021 bei ihrer Aussage, die Pipelines seien rein wirtschaftliche Projekte, was rechtlich zutraf, deren geostrategische Bedeutung aber negierte. Vizekanzler Olaf Scholz zeichnete noch im Dezember 2021 ein Papier aus dem Wirtschaftsministerium ab, das die Versorgungssicherheit als ungefährdet, ja als durch Nord Stream 2 besser gesichert ansah. Es war US-Präsident Joe Biden, der bei Scholz’ Antrittsbesuch als Bundeskanzler Anfang Februar 2022 in Washington das Pipelineprojekt zu Grabe trug, als er keinen Zweifel daran ließ, dass ein Einmarsch Russlands in die Ukraine das Ende von Nord Stream 2 bedeuten werde. Scholz erklärte, man werde „gemeinsam agieren“, weigerte sich aber weiterhin beharrlich, die konkrete Maßnahme und Drohung zu wiederholen.

Durch die Verpflichtung der Koalition, sowohl aus der Kernenergie als auch aus der Kohle auszusteigen, musste (preiswertes) Gas zur unabdingbaren Brückentechnologie der Versorgungssicherheit werden. Die Industrie lehnte Flüssigerdgas (Liquefied Natural Gas, LNG) aus Kostengründen ab und drohte mit dem Verlust von Arbeitsplätzen. SPD und Grüne waren aus ökologischen und politischen Gründen dagegen, umso mehr, als Donald Trump ultimativ forderte, die Abhängigkeit von russischem Gas zu reduzieren. Das LNG-Terminal wurde daher nicht gebaut – Investoren hielten es nicht für zukunftsträchtig. So entstand – ausgerechnet nach der russischen Aggression 2014 – eine Abhängigkeit von russischem Gas, die zum Ende der Großen Koalition 2021 bei 55 Prozent lag. Der Glaubenssatz, Russland habe selbst im Kalten Krieg immer zuverlässig geliefert und werde es daher weiter tun, stand unerschütterlich fest. Aufgrund der deutschen Wirtschaftsphilosophie, Unternehmen müssten selbst ihre Rohstoffversorgung sichern, genehmigte das Wirtschaftsministerium unter Sigmar Gabriel auch noch den Verkauf der größten Erdgasspeicher an Russland.

Die SPD hatte weder Russlands Art der Kriegsführung in Syrien noch der Überfall auf die Ukraine wachgerüttelt. Das Auswärtige Amt hielt an der vermeintlichen Wirksamkeit von Entspannungspolitik fest und forderte Abrüstungsvereinbarungen. Steinmeier brandmarkte 2016 ein NATO-Manöver als „Säbelrasseln und Kriegsgeheul“. Die SPD machte 2017 Wahlkampf unter dem Slogan „Lieber sechs Prozent für Bildung als zwei Prozent für Rüstung“. Insbesondere ihr Fraktionsvorsitzender Rolf Mützenich agitierte weiter dafür, Moskau entgegenzukommen. Nur mit Mühe war die Partei nach der Bundestagswahl 2017 zu überzeugen, erneut eine Große Koalition mit der CDU/CSU einzugehen, was Merkels Stand gegenüber der SPD und deren Ministerien nicht stärkte.

Außenpolitik entsteht im Kontext anderer politischer Aufgaben und Krisen, die gleichzeitig zu beherrschen sind, im Kontext von stets zu engen finanziellen Rahmenbedingungen, Anforderungen des Koalitionspartners und der Ressortchefs, der Wirtschaft und nicht zuletzt der (ver)öffentlich(t)en Meinung. Eine Kette von schweren Krisen galt es parallel zu bearbeiten – die europäische Staatsschuldenkrise, die steigenden Flüchtlingszahlen seit 2014/15 und schließlich Corona. Angela Merkel war sich des Charakters des russischen Präsidenten bewusst. Er galt als risikoscheu. Dass er mit einem Überfall auf die Ukraine massiv den Wohlstand und die Zukunft seines Landes gefährden würde, ist aus der Logik demokratischer Regierungschefs, die auf Zustimmung angewiesen sind, wohl schwer nachzuvollziehen – insbesondere, wenn man erlebt hat, wie machtvoll Diplomatie im Prozess der Deutschen Einheit war.

Putin wartete mit dem Angriff, bis die pazifistisch und durch den Glauben an die Wirkung von Entspannungspolitik um beinahe jeden Preis geprägte rot-grün-gelbe Koalition im Amt war. In Anbetracht der pazifistischen Grundhaltung des Landes, der SPD und der Grünen bedurfte es dieses großen Schocks, um ein Umdenken in Gang zu setzen.

 

Beate Neuss, geboren 1953 in Essen, emeritierte Professorin für Politikwissenschaft, 1994 bis 2018 Leiterin der Professur für Internationale Politik, Technische Universität Chemnitz, 2001 bis 2023 Stellvertretende Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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