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„Der Staat ist für den Menschen da“

Zum Verhältnis von Bürger und Staat

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Die Frage, wie die Politik auf die aktuellen Krisen reagieren soll, lenkt den Blick darauf, wie sich das Verhältnis von Bürger und Staat verändert hat und was dies für die Demokratie bedeutet.

Den Griechen verdanken wir die Grundform der Demokratie, das heißt, dass nicht eine oder mehrere Personen die Herrschaft über das Volk ausüben und allein entscheiden, sondern die Herrschaft vom Volk ausgeht. Rom verdanken wir das Prinzip der Gewaltenteilung und der Gewaltenkontrolle. Wesentlichen Einfluss auf die Demokratieentwicklung hatte die Reformation mit ihrer gewaltsamen Befreiung der Individuen aus der Unmündigkeit der Kirche. Die Aufklärung war die Grundlage für die Individualisierung und die Überzeugung, dass Vernunft und Bildung dem Menschen zur Selbstbestimmung verhelfen. Schließlich führte die Industrialisierung zu einem grundlegenden Umbruch der sozialen und ökonomischen Strukturen. In der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika wurde 1787 die Bedeutung des Menschen verfassungsrechtlich als Individuum begründet, was europaweit prägend wurde.

Die Geburtsstunde der deutschen Demokratie ist das Jahr 1919. Die Nationalversammlung beruhte auf allgemeinen, gleichen, geheimen und unmittelbaren Wahlen, und auch Frauen durften erstmals wählen. Es gehört zu den großen Schicksalsschlägen der deutschen Demokratiegeschichte, dass die Demokratie in der Bevölkerung keinen ausreichenden Rückhalt hatte, auch nicht bei den Eliten oder beim Militär, der Richterschaft oder den Beamten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und den Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ist es gelungen, die Demokratie in Deutschland sowohl im Staatssystem als auch in der Gesellschaft zu verankern. Als Lehre aus der Vergangenheit enthält die deutsche Verfassung die Ewigkeitsgarantie, wonach der Deutsche Bundestag die Grundrechte der Staatsbürger nicht aufheben kann – durch keine wie auch immer geartete Mehrheit. Ebenso enthält sie eine Bestandsgarantie für die Demokratie, den föderalen Staat, den Rechtsstaat und den Sozialstaat.

 

Verfasstheit der heutigen Demokratie

 

Es gibt kaum ein Land der westlichen Welt, in dem die Machtverhältnisse zwischen den Verfassungsorganen so ausbalanciert sind wie in Deutschland zwischen dem Deutschen Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung und dem Bundesverfassungsgericht. Diese Verfasstheit sichert allen Bürgern bis heute rechtsstaatliche Freiheiten. Sie schützt sie vor Willkür. Auch dass sich die politischen Parteien – trotz aller Gegensätze – jeweils zu Regierungskoalitionen zusammenfinden, sichert die Regierungsfähigkeit und zeigt, dass sie bei aller Kritik die notwendige Verantwortung für unseren Staat zu tragen bereit sind.

„Es ist also das Gemeinwesen die Sache des Volkes, ein Volk ist aber nicht jede irgendwie zusammengescharrte Ansammlung von Menschen, sondern die Ansammlung einer Menge, die in der Anerkennung des Rechts und der Gemeinsamkeit des Nutzens vereinigt ist“, so Cicero. Was für eine Aussage, und das im Jahr 51 vor Christus! Sind wir heute in Deutschland eine Gesellschaft, die sich hinter unserer Rechtsordnung versammelt und ein gemeinsames Verständnis von den Vorzügen eines freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaats hat? Die Wahlergebnisse der AfD und der Linken lassen Zweifel daran aufkommen.

Betrachten wir zunächst das Diktum von Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Was bedeutet das? Für Böckenförde, der dies 1964 formulierte, war eine der zentralen Fragen, woraus der Staat lebt und worin er die ihn tragende Kraft und die inneren Regulierungskräfte der Freiheit findet, die er benötigt, zumal die Bindungskraft der Religion für ihn nicht mehr essenziell ist. Eine Demokratie kann ihre Existenz weder mithilfe ihrer Institutionen noch mit der Reichweite ihrer Exekutivgewalt sichern. Sie ist darauf angewiesen, dass sich die Bürgerinnen und Bürger freiwillig an die Regeln halten und den Staat tragen.

Wie sieht dies aktuell in unserem Land aus? Drei Themenfelder sollen hierzu näher betrachtet werden: Die sozialen Medien, die Partizipationsbewegung und die Funktionsfähigkeit des Staates.

Kommunikation gehört zum zentralen Instrument der Politik und insbesondere des Regierens. Die Digitalisierung hat der Demokratie neue Spielregeln politischer Öffentlichkeit verordnet. Die Online-Öffentlichkeit ist ohne feste Strukturen und nicht steuerbar.

 

Die sozialen Medien

 

Politiker haben es mit einer Netzwerkgesellschaft zu tun, in der Interaktion in grundlegend anderen Formaten stattfindet. Kommunikative Schwärme bilden sich plötzlich und sind ohne erkennbare Anführer – ganz im Gegensatz zu politischen Bewegungen in Zeiten der analogen Demokratie.

Facebook kennt keinen Rudi Dutschke. Gleichzeitig geht die Zahl der Zeitungsleser massiv zurück. Die amerikanische Journalistin Megan Garber meint, dass die sozialen Medien und Onlinenachrichten kein Ersatz für Tageszeitungen sind. Für den Zusammenhalt einer demokratischen Gesellschaft sei wichtig, dieselben Nachrichten und Kommentare zu lesen. Dies schaffe ein Gemeinschaftsgefühl. Die gemeinsame Faktenkenntnis verbinde sowohl die Bürger untereinander als auch die Bürger mit dem Staat. Dies geht immer stärker verloren. Hinzu kommt die Manipulationsgefahr. Diese belegt etwa der Wahlkampf von Donald Trump und ganz aktuell der russische Einfluss auf die Meinungsbildung in Deutschland.

Was bedeutet das für unsere Demokratie? Wir können und wollen die sozialen Medien nicht zurückdrehen, jedoch müssen sie staatlich besser kontrolliert werden, und die Medienerziehung in unseren Schulen ist unabdingbar. Die Politik muss sich Kommunikationswege suchen, wie sie die Bevölkerung erreicht. Deshalb sind die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender existenziell wichtig. Wir sollten Verfehlungen konsequent ahnden, aber keine Grundsatzdebatten führen und Verfassungsfeinden in die Hände spielen.

 

Politische Partizipationsbewegung

 

Deutschland gehört nicht zu den Staaten, die über eine große Tradition politischer Partizipation verfügen. Noch bis in die 1960er-Jahre hinein herrschte bei vielen Bürgern ein Obrigkeitsdenken vor. Dies änderte sich erst mit der 68er-Bewegung. Seitdem gehören Demonstrationen und Unterschriftenaktionen zum politischen Alltag, in Wellen erleben wir Protestaktionen, vor allem der Friedensbewegung, der Atomkraftgegner oder gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21.

Bürgerinnen und Bürger sind nun endgültig mündig geworden. Die Zivilgesellschaft hat ihre eigenständige Rolle gefunden. Stärkt dies die Demokratie oder wird sie dadurch geschwächt? Grundsätzlich wird man sagen können, dass sie dadurch eher gestärkt wird. Politische Entscheidungsprozesse, vor allem bei Infrastrukturprojekten, finden durch Bürgerbeteiligungen eine bessere Akzeptanz. Es stärkt das Vertrauen der Bürger in den Staat, weil sie zumindest gehört werden.

Gleichwohl darf die Gefahr einer Radikalisierung und Manipulation nicht unterschätzt werden. Dies hat sich zuletzt bei den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen gezeigt. Der Staat muss deshalb wachsam und handlungsfähig sein. Angesichts der Erwartungshaltung einer immer besser ausgebildeten Bevölkerung und des gewachsenen Selbstbewusstseins der Bürger gegenüber Vertretern staatlicher Einrichtungen sowie der Politik erleben wir aktuell eine weitere Aufwertung von Elementen direkter Demokratie.

 

Funktionsfähigkeit des Staates

 

Bis zur Flüchtlingskrise 2015 waren die meisten Menschen der Auffassung, dass die Staatsund Kommunalverwaltung zwar behäbig, aber verlässlich ist. Dieser Eindruck hat sich grundlegend verändert. Der Zweifel an der Funktionsfähigkeit unserer Verwaltung hat sich durch die Pandemie verfestigt. Wir liegen bei eGovernment auf Platz 21 der 27 EU-Staaten, die Genehmigungsverfahren dauern zu lange, und die Überbürokratisierung feiert Urstände. 1948 ist Carlo Schmid beim Verfassungskonvent in Herrenchiemsee für das Paradigma eingetreten: „Der Staat ist für den Menschen da und nicht der Mensch für den Staat“! Dies trifft das Kernproblem des heutigen Kulturverständnisses in vielen Verwaltungen. Überlastet durch die Überregulierung und den Personalmangel sowie einen jahrelangen Rückstau an Verwaltungsreformen, hat sich eine Mentalität in vielen Behörden etabliert, die die Funktionsfähigkeit des Staates einschränkt. Nicht selten wird ausschließlich auf die Einhaltung von Vorschriften geachtet, egal, wie lange ein Verfahren dauert, und egal, was eventuelle Auflagen den Antragsteller kosten. Das Bürokratiemodell von Max Weber, also klare Zuständigkeiten, Hierarchien und die eiserne Regel, dass jeder vor dem Gesetz gleich ist, diente ihm Anfang des 20. Jahrhunderts dazu, ein Exekutivmodell als Gegenentwurf zum Willkürstaat zu entwerfen. Darum geht es heute aber nicht. Wir benötigen ein Fitnessprogramm für die Verwaltung, um die Leistungsfähigkeit wiederherzustellen. Dies bedeutet: Staatsmodernisierung, Digitalisierung der Verwaltung, Flexibilität, Kundenorientierung, Teamarbeit, Agilität und vor allem Transparenz der Verfahren und der Verwaltungsleistungen.

Unsere Verfassung bietet nach wie vor einen verlässlichen Rahmen, auf den sich eine immer heterogener werdende Gesellschaft verständigen kann. Die für den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat relevanten Organe sind institutionell gut aufgestellt. Die Fliehkräfte der digitalen Welt sowie der Verlust an Gemeinsamkeiten in den Wertvorstellungen einer heterogenen Gesellschaft gefährden jedoch unsere Demokratie im Innern und verlangen entschlossenes Handeln von Politik und Verwaltung. Gleiches gilt für Bedrohungen von außen, das heißt insbesondere für die Beeinflussung demokratischer Prozesse durch ausländische Diktaturen.

Auch die weltweite Flüchtlingskrise stellt eine Herausforderung für unsere Demokratie dar. Wir müssen deshalb als Gesellschaft wachsam sein und uns aktiv für den Erhalt der Demokratie einsetzen. Dies ist neu, weil wir die Komfortzone bürgerlicher politischer Konsumentenhaltung verlassen müssen. Staat und Politik benötigen die Unterstützung der demokratischen Bürgergesellschaft. Und wir wissen, wofür wir uns einsetzen. Wie sagte Winston Churchill: „Wenn es morgens um 6.00 Uhr an meiner Tür läutet, kann ich sicher sein, dass es der Milchmann ist, denn ich weiß, dass ich in einer Demokratie lebe.“

 

 

Gisela Meister-Scheufelen, geboren 1956 in Stuttgart, promovierte Juristin, 2012 bis 2016 Kanzlerin der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, 2017 bis 2022 Vorsitzende des Normenkontrollrats Baden-Württemberg.

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