Zum 50. Todestag Konrad Adenauers konnten die Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus und die Konrad-Adenauer-Stiftung noch einmal eine neue Quelle zu seiner Lebensbeschreibung erschließen: das von Hanns Jürgen Küsters herausgegebene, mit einer Einführung versehene und vorzüglich bearbeitete Tagebuch des Adenauer-Sohns Monsignore Paul Adenauer (1923 bis 2007).
Die Notizen Paul Adenauers wurden erst im Jahr 2015 aufgefunden und waren wohl nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Sie sind weder ein durchgehender Kommentar noch eine umfassende Ergänzung zu den Memoiren Adenauers und den Biographien über ihn, zumal sie große zeitliche Lücken aufweisen, vor allem für die letzten, ereignisreichen Monate der Kanzlerschaft Adenauers im Sommer 1963. Das lag wohl daran, dass Paul Adenauer damals die Leitung des Kölner Zentralinstituts für Ehe und Familienfragen übernahm, aber auch an den Erholungsaufenthalten seines Vaters in Cadenabbia. Die Tagebücher Paul Adenauers, der seit 1960 im Hause seines Vaters in Rhöndorf wohnte, geben jedoch einen interessanten und guten Einblick in die persönliche Welt Konrad Adenauers, in sein Wirken und seine Stimmungen in den letzten Regierungs- und Lebensjahren.
Ich habe in diesen Jahren den Bundeskanzler häufiger persönlich gesprochen und ihm im März 1962 zur Aufnahme der internationalen Arbeit der späteren Konrad-Adenauer-Stiftung ausführlich Bericht erstattet. Natürlich hatte ich keine detaillierte Einsicht in die Arbeit des Bundeskanzleramtes. Aber als Leiter der Politischen Akademie Eichholz ab April 1960 und ihres internationalen Instituts ab 1962 hatte ich durch den ständigen Kontakt zur Bundesgeschäftsstelle und zur Bundestagsfraktion einen guten Überblick über die damalige Situation der CDU, über die Stimmungen, die Machtkämpfe und Intrigen.
Adenauers „Hinauswurf“
Im Streit um die Nachfolge Konrad Adenauers und der mit seinem Rücktritt verbundenen personellen Erneuerung der CDU geriet die Partei intern in eine Krise, in der nicht nur persönliche Ambitionen, sondern auch die unterschiedlichen Auffassungen vor allem über die sicherheits- und europapolitische Ausrichtung Deutschlands eine erhebliche Rolle spielten.
Die Tagebücher beschönigen die Konflikte nicht. Die Gespräche, die Adenauer mit seinem Sohn führte, spiegeln nicht nur seinen Groll wegen des erzwungenen Rücktritts als Bundeskanzler, seinen „Hinauswurf“, wider, sondern vor allem die Ängste eines großen alten Staatsmannes, der sein Lebenswerk gefährdet sieht und dagegen mit seinen letzten Kräften ankämpft. Der Sohn, der seinen Vater verehrt, bekräftigt oft noch dessen düstere Stimmungen, zumal er außer zur Sozial- und Familienpolitik kaum eigene Bewertungen und Meinungen beisteuern kann.
In seiner Einführung analysiert der Herausgeber die aus dem Tagebuch ersichtliche Stimmung Adenauers: „Nach der Bundestagswahl 1961 schwankt Konrad Adenauer zwischen Machterhalt und Selbstmitleid darüber, was ihm im hohen Alter noch zugemutet wird, zwischen Überdruss, alles hinwerfen zu wollen, und Kampfbereitschaft, sich nicht unterkriegen zu lassen, zwischen nicht loslassen können und physischer und psychischer Erschöpfung angesichts der Beanspruchungen. Er lamentiert und kokettiert gleichzeitig damit, was er sich mit der Wahl zum Kanzler nochmals selbst angetan hat. Diese innere Zerrissenheit ist spürbar.“
Bis zum September 1961 war Konrad Adenauer die unbestrittene Autorität in der CDU. Diese war damals noch eine „Honoratiorenpartei“ mit einer schwachen Organisation. Auch Meinungsumfragen spielten kaum eine Rolle. Wichtig waren die Veröffentlichungen in den Zeitungen, zumal auch das Fernsehen noch am Anfang stand. Der Parteivorsitzende hatte – im Gegensatz zur späteren Ära Kohl – kaum Einfluss auf die Landesverbände und Parteigliederungen, seine Macht beruhte auf der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers, der Personalpolitik auf der zentralen Ebene und auf dem Ausbalancieren des Einflusses der jeweiligen „Provinzfürsten“.
Kampf um die Führung der Partei
Die Verschiebung der Machtstrukturen begann mit der Bundestagswahl 1961, die zur zeitlichen Begrenzung seines Amtes führte und damit den Kampf um die zukünftige Führung der Partei auslöste. Die Richtlinienkompetenz war durch die FDP-Minister und die Ambitionen von Außenminister Gerhard Schröder, Verteidigungsminister Franz Josef Strauß und Wirtschaftsminister Ludwig Erhard eingeschränkt. Die entscheidende Zäsur bildete natürlich der Rücktritt im Herbst 1963. Adenauer blieb zwar Bundesvorsitzender der CDU, aber bereits 1962 waren ihm Josef Hermann Dufhues als geschäftsführender Parteivorsitzender und Kai-Uwe von Hassel als dessen Stellvertreter zur Seite gestellt worden.
Die Sitzungen des Parteivorstands und die Parteitage, die zuvor den großen politischen Entscheidungen nur Beifall spenden durften, erwiesen sich für die neu beanspruchte Rolle Adenauers als ungenügendes Steuerungsorgan. Der Parteivorsitz war ein symbolisches Amt ohne Macht. Aus den Eintragungen im Tagebuch Paul Adenauers hat man den Eindruck, dass dieser das nicht realisierte und selbst sein Vater sich dieses grundlegenden Einschnitts nicht immer bewusst war. Allenfalls über Vorträge, Interviews und persönliche Gespräche konnte er noch politischen Einfluss ausüben.
Natürlich war es übertrieben, dass Adenauer sein gesamtes Lebenswerk gefährdet sah. Der Wiedereintritt der Deutschen in die Gemeinschaft der freien Völker und seine internationale Anerkennung als wichtiger weltpolitischer Akteur wurden durch die triumphalen Besuche Präsident Charles de Gaulles vom 4. bis 9. September 1962 und Präsident John F. Kennedys vom 23. bis 26. Juni 1963 bestätigt.
Dem leidenschaftlichen Politiker Adenauer lag vor allem die Fortführung der engen Zusammenarbeit mit Frankreich und seinem Präsidenten de Gaulle am Herzen. Dessen Besuch wurde in der deutschen Öffentlichkeit als Aussöhnung einer jahrhundertealten Erbfeindschaft bejubelt, obwohl die deutsch-französische Zusammenarbeit letztlich auch der Logik der europäischen Nachkriegsentwicklung entsprach und deshalb mit einem Vertrag besiegelt wurde.
Adenauer warf seinem Nachfolger Ludwig Erhard vor, dies nicht zu erkennen und die deutsch-französische Freundschaft durch die demonstrative und einseitige Ausrichtung seiner Politik auf die Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritannien zu gefährden: Bei Außenminister Schröder sah er zudem anti-französische Ressentiments. Die Gespräche zwischen Vater und Sohn zeigen jedoch, dass selbst Adenauer sich nicht immer sicher war, wie er de Gaulles Außenpolitik einschätzen sollte. Zwar blieb er dabei, dass jeglicher Zweifel an der deutsch-französischen Freundschaft die Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik infrage stelle und die Deutschen die enge Bindung an Frankreich bräuchten. Gleichzeitig wuchsen bei ihm Zweifel an de Gaulles Politik.
Das Kernproblem der deutsch-französischen Zusammenarbeit, die Konrad Adenauer und Charles de Gaulle mit dem deutsch-französischen Vertrag 1963 festschreiben wollten, war, dass die langfristigen Motive de Gaulles und die Interessen Deutschlands unterschiedlich waren. De Gaulle, der, wie oft übersehen wird, den Algerienkrieg beendete und Frankreich von seinem Kolonialreich trennte, sich dabei aber von den USA mangelhaft unterstützt fühlte, wollte vornehmlich die weltpolitische Großmachtstellung Frankreichs wiederherstellen beziehungsweise bewahren. Für dieses Ziel sah er in der engen Bindung zwischen Frankreich und Deutschland einen wesentlichen Vorteil.
De Gaulles „Größenwahnsinn“
Die Veränderung des deutsch-französischen Vertrags durch die vom Bundestag vorangestellte Präambel und seine missmutige Hinnahme durch die Regierung Erhard entwertete den Vertrag. De Gaulle sprach von einer vereinbarten, aber nicht vollzogenen Ehe. Seine folgenden Schritte, die Beendigung der Unterstellung der französischen Armee unter die NATO, der Streit mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und seine Politik des leeren Stuhls, der anschließende Luxemburger Kompromiss mit der europäischen Sonderrolle und der Flirt mit Polen und Russland sind aus dieser Enttäuschung heraus zu verstehen. Er betonte zwar immer wieder, dass Frankreich, wenn ein Weltkonflikt drohe, das erste Land bleibe, das mit den Amerikanern solidarisch sei. Unter normalen Verhältnissen gelte es aber, der Abhängigkeit Europas von den Amerikanern ein Ende zu setzen. Wenn Adenauer gegenüber seinem Sohn vom „Größenwahnsinn“ de Gaulles sprach, meinte er wohl damit, dass er diese weitreichenden Ziele de Gaulles als zu ambitiös und unerreichbar einschätzte.
Auch Adenauer ging es bei der Intensivierung der Beziehungen zu Frankreich um die Stärkung des internationalen Status der Bundesrepublik, allerdings auf einer bescheideneren Ebene. Die Partnerschaft mit Frankreich sollte politische Zugeständnisse an die Sowjetunion, die er John F. Kennedy und Harold Macmillan zutraute, erschweren. Sie sollte aber auch die Widerstandsfähigkeit Deutschlands gegenüber den finanziellen Forderungen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens, mit denen er 1960/61 konfrontiert war und die später auch Erhard erhebliche Probleme bereiteten, stärken. Der Grundsatz, dass für die Sicherheit der Bundesrepublik die NATO eine zentrale Bedeutung habe, wurde selbstverständlich von ihm nie infrage gestellt. Trotz der zunächst enttäuschten Erwartungen und daraus resultierenden Spannungen hat der Élysée-Vertrag Bestand gehabt. Die beiden Völker kamen sich näher, und die gemeinsamen Beratungen der Regierungen zeitigten zwar keine großen Ergebnisse, vertieften aber das wechselseitige Verständnis.
Sorge um die CDU
Adenauers zweite große Besorgnis galt der CDU: Er beklagt, dass er zu wenig Macht habe, um eine Reform der Partei anzustoßen, fühlt allenthalben, dass die Leute ihn nicht mehr fürchten, ihn nicht mehr achten, spürt, dass er sehr einsam und allein dasteht.
Die CDU befand sich in einem Umbruch – nicht nur durch den Abschied von ihrem langjährigen, dominierenden Parteivorsitzenden, sondern auch durch das Ausscheiden der letzten seiner vor 1900 geborenen politischen Weggenossen in der Weimarer Republik. Aber auch für die nächste Altersgruppe der zwischen 1900 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs Geborenen, die erst in der Zeit des Nationalsozialismus ins Berufsleben eintraten und sich nach 1945 politisch engagierten, nahte das Ende ihrer politischen Karrieren, sie kamen allenfalls für einen Übergang infrage.
Es war die Generation der im Ersten Weltkrieg und in den Jahren danach Geborenen, die im Zweiten Weltkrieg zumeist als Soldaten gedient hatten, die jetzt in die Verantwortung drängten. Keiner von ihnen hatte sich allerdings so positionieren können, dass ihm der Parteivorsitz unbestritten zugefallen wäre. Dies war der Grund, dass 1966 gegen den Willen Adenauers und seiner immer noch zahlreichen Anhänger Bundeskanzler Ludwig Erhard, obwohl auch schon 66 Jahre alt, zum CDU-Vorsitzenden gewählt wurde, allerdings eingehegt von Rainer Barzel als stellvertretendem Vorsitzenden und Bruno Heck als geschäftsführendem Präsidiumsmitglied. Für die Wahl Hecks spielte die Unterstützung Adenauers eine maßgebliche Rolle.
Im Gegensatz zur falschen Einschätzung der Macht des Parteivorsitzenden steht die Treffsicherheit Adenauers in der Beurteilung der politischen Qualitäten seiner Gegner und seiner Unterstützer. Erhard und Schröder wurden von ihm abgelehnt, Strauss, Dufhues, Rasner und Barzel werden von ihm – aus späterer Sicht berechtigt – kritisch gesehen.
Bemerkenswert ist sein Urteil über den späteren langjährigen Vorsitzenden der Konrad-Adenauer-Stiftung Bruno Heck. Paul Adenauer berichtet dazu: „Sicher ist, dass die CDU nicht gerettet werden kann ohne eine feste Parteispitze, die es bisher eben nie richtig gab. Vater glaubt, dass dazu auch ein Bundesgeschäftsführer oder ein Mann als geschäftsführendes Vorstandsmitglied mit entsprechendem Format gehört. Heck ist der einzige, dem er das zutraut. Nur sei der als Schwabe etwas langsam. Aber er sei bereit, sein Ministerium und seinen Abgeordnetensitz dafür aufzugeben und sich dieser Aufgabe zu widmen.“ Diese Aufgabe hat Heck meisterlich erfüllt, indem er als geschäftsführendes Präsidiumsmitglied und dann als Generalsekretär von 1966 bis 1971 die Voraussetzungen für die Erneuerung der Bundespartei unter Helmut Kohl, Heiner Geißler, Gerhard Stoltenberg, Manfred Wörner und anderen schuf.
Das eigentliche Lebenswerk Konrad Adenauers – die Konsolidierung der Bundesrepublik Deutschland und der europäische Zusammenschluss – reicht, wie wir heute wissen, über die Gründung und Führung der CDU und die Zusammenarbeit mit Frankreich weit hinaus. Aber auch für diese Weichenstellungen, die Konrad Adenauer in den letzten Lebensjahren so leidenschaftlich bewegten, wirkten sein Urteil und sein Wirken noch viele Jahre nach seinem Tod am 19. April 1967 fort.
Peter Molt, geboren 1929 in Stuttgart, 1960 Leiter der Politischen Akademie Eichholz und gleichzeitig ab 1962 Leiter des Internationalen Instituts der Konrad-Adenauer- Stiftung, ab 1966 Geschäftsführer des Deutschen Entwicklungsdienstes, später beim Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, zuletzt Beauftragter für die Partnerschaft des Landes Rhein-land-Pfalz mit Ruanda sowie Lehrtätigkeit an der Universität Trier.