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Der Westen – eine ostdeutsche Erfindung?

Über ost-westliche Projektionen

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Im 20. Jahrhundert kannte Europa nur eine Blickrichtung: die nach Westen. Das hat Folgen bis heute. Vier Jahre lang hatten die Menschen sich bereits daran gewöhnt, aus dem Osten wenig Gutes, im Westen dagegen Besseres zu erwarten. Als im Jahr 1949 die Bundesrepublik und die DDR gegründet wurden, war die wesentliche Blickrichtung bereits eingeübt: Wer wirtschaftlichen Erfolg, Eigentum und persönliche Freiheit suchte, orientierte sich nach Westen. Hunderttausende setzten sich in die Besatzungszonen der USA und Großbritanniens ab (die Franzosen weigerten sich anfangs, Flüchtlinge aufzunehmen). In den Westzonen konnten ehemalige Nationalsozialisten nach und nach auf eine gnädigere Behandlung hoffen, Individualisten auf eine gerechtere Gesellschaft und Unternehmer auf eine erfolgreiche Zukunft.

Die Himmelsrichtung der Orientierung ist im komplizierten innerdeutschen Verhältnis dieselbe geblieben. Am Westen misst man sich, man ärgert sich über ihn, man eifert ihm nach, man macht ihm Vorwürfe. Der Westen ist für viele Ostdeutsche das geblieben, was er immer war: eine Vorstellung.

Das westliche Modell hat sich durchgesetzt, es hatte von Anfang an die besseren Karten: Nicht nur die Flüchtlinge, auch die in der DDR Gebliebenen schauten nach Westen. Die DDR musste sich am politischen System und am Wohlstand der Bundesrepublik messen. Im offenen Systemwettbewerb trat sie als das „demokratische Deutschland“ anfangs selbstbewusst auf. Das Motto „Überholen, ohne einzuholen“ war verankert, lange bevor es der Vorsitzende des Ministerrats, Walter Ulbricht, zur unerfüllbaren Staatsdoktrin erkor. Was Bildungsniveau, Kultur oder die Rechte der Frauen betraf, hat die DDR den Plan erfüllt. Wo es aber um Freiheit und Wohlstand ging, hatte sie keine Chance.

 

Planwirtschaft versus Marktwirtschaft

Gemessen haben sich die Bürger der DDR an einer Fiktion: West-Fernsehen und -Radio setzten die gelegentlich unrealistischen Maßstäbe für die Konsum- und Erfolgserwartungen. Die West-Mark war bereits vor 1989 der Goldstandard der DDR, Westpakete stopften die Kaffee-, Schokolade- und Seidenstrumpflücken, die der Sozialismus nicht finanzieren konnte. Die Kosten der Freiheit dagegen wurden in den Medien der DDR so grotesk überzeichnet, dass sie in der Wahrnehmung vieler Bürger des Landes als Erfindung des Politbüros und der gelenkten Medien erschienen.

Der Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann hat mit seinem Vorwurf, die Westdeutschen hätten sich den Osten erfunden, um seine Bürgerinnen und Bürger im wiedervereinigten Land dauerhaft zu benachteiligen und herabzusetzen, eine neue Diskussion um West- und Ostdeutschland angestoßen. Oschmann bezieht sich auf die 35 Jahre nach der friedlichen Revolution. Seine These einer ungerechtfertigten neuen Landnahme und Dominanz erweckt den Eindruck, als sei der Osten in Wahrheit erst nach der Einheit westlich überformt worden. Die ökonomische Dominanz aber gab es auch vorher schon – aus guten Gründen. Sie lag nicht in der individuellen Leistungsfähigkeit, sondern in den Gegensatzpaaren Planwirtschaft versus Marktwirtschaft, Volkseigentum versus persönlicher Besitz, Kollektivismus versus Individualismus.

Das Beispiel der beiden Währungen verdeutlicht, wie sich diese materielle Dominanz gebildet hat und bis heute durchsetzt: Wenn man ausschließlich den Erfolg der D-Mark betrachtete, könnte man die Wirtschafts- und Sozialgeschichte beider deutscher Staaten zwischen 1948 und 1990 erzählen. Umgekehrt dagegen ließe sich mit der Mark der DDR nicht einmal die eigene Geschichte des Staates vollständig abbilden.1 Sie war weder im eigenen Land noch in einem anderen ein taugliches Messinstrument für Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand. Dafür gibt es mindestens drei Gründe.

Erstens: Ostdeutschland ist keine Erfindung des Westens, es war eine Erfindung der Sowjetunion.2 Das hat Ostdeutschland bis heute stärker und nachhaltiger geprägt, als es Ost- und Westdeutsche wahrhaben wollen.

Vor der Währungsreform hatten alle Alliierten zwar so etwas wie ein vereinigtes Deutschland nicht ausgeschlossen. Doch niemand brachte den Willen und die Energie auf, das möglich zu machen. Weil Konrad Adenauer die klare Westbindung verfolgte und Josef Stalin sich ein vereinigtes Deutschland nur als neutralen Staat mit sozialistischer Planwirtschaft und Volkseigentum vorstellen konnte, wurde die Teilung Deutschlands unwiderruflich, noch bevor die beiden Staaten gegründet wurden.

Umgekehrt war auch der Westen zuerst eine Schöpfung der amerikanischen Besatzungsmacht. Bevor die westdeutschen Ministerpräsidenten eine einzige Eisenbahnreise ohne Erlaubnis ihrer Besatzungsmächte unternehmen konnten, waren die Weichen für eine spätere Integration ihrer Länder in die westliche Welt gestellt.

Zwischen beiden deutschen Staaten gab es neben den offiziellen staatlichen Anstrengungen jahrelang vor allem zwei Verbindungen: die Menschen, die die DDR verließen oder in sie einwanderten (die gab es auch), dazu die fortdauernden familiären Kontakte. Die zweite Klammer war die westdeutsche Währung, die in Ostdeutschland ebenfalls nach Kräften gespart, heimlich getauscht und ausgegeben wurde. Beides wirkte bis zum Mauerbau am 13. August 1961 und erneut seit den 1980er-Jahren wie ein permanenter Volksentscheid gegen die DDR. Die D-Mark war die Erfindung des Westens, der Osten war es nicht.

Zweitens: Drei Tage nach der Währungsreform (West) von 1948 wurde auch in der Sowjetischen Besatzungszone die Reichsmark formal abgeschafft. Die Ostmark war ein Kind der Planwirtschaft. Während im Westen nahezu alle Preisgrenzen und Rationierungen aufgehoben wurden, wurde der tägliche Bedarf in der DDR teilweise bis 1958 bewirtschaftet. Das Ostgeld war nicht kompatibel, die Preise spiegelten den politischen Willen wider, nicht aber Angebot und Nachfrage. Mit fatalen Folgen: Nach vierzig Jahren war die Währung so kaputt, dass sie permanent von der Bundesrepublik subventioniert werden musste. Ostdeutschland als eine Erfindung des Westens? Vielleicht eher so: Ohne den Westen, seine Währung und die Devisen-Milliardenkredite hätte die DDR wirtschaftlich nicht bis 1989 überlebt.

Drittens: Die Sowjetunion war nicht nur die Schöpferin der DDR. Sie sorgte auch mit dafür, dass Westdeutschland als Frontstaat im Kalten Krieg seine Rolle fand. Nach der Währungsreform im Juni 1948 riegelte die Sowjetunion West-Berlin ab und versuchte, den Viermächtestatus der Stadt infrage zu stellen. Fast ein Jahr lang, bis zum Mai 1949, musste die Stadt aus der Luft versorgt werden. Nur weil der Winter ähnlich warm war wie die gerade vergangenen in Deutschland, ging die Sache gut aus. Im Winter 1948/49 war der Wettergott ebenso kein Kommunist, wie er 2022 und 2023 kein Putinist gewesen ist.

Den freien Westen verteidigt zu haben, war in den westlichen Besatzungszonen identitätsstiftend. Die meisten Westdeutschen und -berliner empfanden die Amerikaner danach nicht mehr als Besatzer, sondern als Freunde. Der Marshallplan zum Wiederaufbau, das Ende der Reparationen folgten. Die Sowjetunion hat daher nicht nur die DDR erschaffen – sie hat auch einen entscheidenden Impuls für die westdeutsche Nachkriegsidentität gegeben.

 

„Kommt die D-Mark, bleiben wir. Kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr“

Der Osten als eine Erfindung des Westens? Am 17. Juni 1953 wehrten sich Hunderttausende Arbeiter im Osten Deutschlands gegen neue Normen und Planvorgaben und verlangten die Wiedervereinigung; der Volksaufstand wurde blutig niedergeschlagen. Der Westen machte daraus seinen Nationalfeiertag, eignete sich das Datum an. In diesem Sinn prägte der Aufstand im Osten jahrzehntelang den Westen, während er in der DDR als Tag X aus dem kollektiven Bewusstsein getilgt werden sollte. 1989 gingen Millionen DDR-Bürger auf die Straße, stürzten das Regime, bereiteten den Weg in die Deutsche Einheit. „Kommt die D-Mark, bleiben wir. Kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr“ lautete ein beliebtes Plakatmotiv bei den Demonstrationen, das Tempo und Art der deutschen Einheit prägte. Das entschuldigt nicht die Ungerechtigkeiten, das postkoloniale Gehabe vieler Westdeutscher nach der friedlichen Revolution, den Export westdeutscher B-Mannschaften in die Führungsetagen ostdeutscher Universitäten, Unternehmen und Gerichte. Es relativiert auch nicht die Verweigerung eines gemeinsamen Neubeginns und darf keine Ausrede für die Fehler im Einigungsprozess sein, auch wenn die Entwicklung im Ganzen positiv war.

Aber der Osten als eine Erfindung des Westens? Nicht nur, wenn man sich die Geschichte der D-Mark anschaut, beschleichen einen Zweifel. Die DDR und die Bundesrepublik beeinflussten sich, sie maßen sich am jeweils anderen, sie litten aneinander und schrieben ganze Kapitel im Geschichtsbuch des jeweils anderen.

Die Vorstellung vom Westen wurde schließlich zum Motor der friedlichen Revolution. In der DDR war in den vierzig Jahren der Teilung das Bild einer Bundesrepublik entstanden, die es so nie gegeben hatte. Der Westen war immer auch eine Erfindung des Ostens, eine Projektion. Ein Teil der Enttäuschungen, Frustrationen und Entfremdungen zwischen Ost- und Westdeutschen ist bis heute darauf zurückzuführen.

Die westdeutsche Geschichte allerdings zur allein gültigen gesamtdeutschen Nachkriegserzählung zu machen, war und ist ein Fehler mit Ansage. Dass sich die zweite und dritte Generation junger Erwachsener, die nach 1990 geboren wurden, ihrer ostdeutschen Herkunft bewusster sind als die Älteren, ist ein Grund zur Nachdenklichkeit. Während westdeutsche junge Erwachsene die Unterschiedlichkeit zwischen West- und Ostdeutschen immer seltener empfinden, ist es bei jungen Ostdeutschen umgekehrt. Der „Vereinigungserfolg“, die zügige Anpassung Ostdeutscher an westdeutsche Lebensformen, Normen und Einstellungen, verblasst. Ist das heutige Ostdeutschland also vielleicht gar keine Erfindung des Westens, sondern eine der Ostdeutschen selbst, wie es die Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Julian Heide nahelegen?

 

Der Blinddarm der deutschen Nachkriegsgeschichte

Darüber nachzudenken, fordert nicht nur den Blick auf die Gegenwart des vereinigten Landes, sondern auch den auf die Vergangenheit des geteilten Deutschlands heraus. Bei den Verhandlungen zur deutschen Einheit und den Beschlüssen der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR wurde im Sommer 1990 der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 Grundgesetz beschlossen. Danach trat die DDR dem Geltungsbereich des Grundgesetzes bei, ohne dass dafür eine neue gesamtdeutsche Verfassung geschrieben werden musste. In der Unübersichtlichkeit der Jahre 1989 und 1990 war das zweifellos die pragmatischste und die am wenigsten zeitraubende Entscheidung.

In der Konsequenz aber bürdete dieser Weg den Ostdeutschen die alleinige Anpassungsleistung auf. Wolfgang Schäuble sagte in der Bundestagsdebatte über den Hauptstadtbeschluss am 20. Juni 2001, es könne auch im Westen „nicht alles so bleiben, wie es war“. Er hat sich getäuscht, die Erwartungshaltung im Westen war und ist eine andere: Vieles sollte genauso bleiben, wie es vorher war, nur größer. Die Bürger der damaligen DDR sollten sich in der – bis auf wenige Ausnahmen – westdeutschen Identität einrichten. Ihre eigene Geschichte vor der Deutschen Einheit wurde zum Blinddarm der deutschen Nachkriegsgeschichte: immer da, aber interessant erst dann, wenn er sich entzündet.

Es ist Zeit für einen neuen Blick in den Osten – und in die Geschichte der DDR.


Ursula Weidenfeld, geboren 1962 in Mechernich, war unter anderem Berlin-Korrespondentin der „Wirtschaftswoche“ sowie Ressortleiterin Wirtschaft und stellvertretende Chefredakteurin des Berliner „Tagesspiegels“, freie Journalistin, Kolumnistin und Kommentatorin für Verlage, Fernseh- und Hörfunksender.

1 Siehe SPIEGEL-Themenportal „DDR“, www.spiegel.de/thema/ddr/ [letzter Zugriff: 15.05.2024].
2 Siehe SPIEGEL-Themenportal „Sowjetunion“, www.spiegel.de/thema/sowjetunion/ [letzter Zugriff: 15.05.2024].


Zum Weiterlesen

Weidenfeld, Ursula: Das doppelte Deutschland. Eine Parallelgeschichte 1949–1990, Rowohlt, Verlag, Hamburg 2024.