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Individualisierung der Bildung zwischen Natur, Pädagogik und den normativen Grundlagen der modernen Gesellschaft

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In der Debatte über „Bildung“ wird kaum ein Thema so intensiv und kontinuierlich behandelt wie das der „Begabung“. Das gilt seit dem frühen 20. Jahrhundert, als der Begriff in die öffentliche Debatte eintritt und den älteren des „Talents“ beerbt (ohne ihn zu ersetzen). Begabung gehört seither zu den Schlüsselbegriffen der Bildungsdiskussion, und wie für alle Schlüsselbegriffe – „Bildung“ eingeschlossen – gibt es kein einheitliches und eindeutiges Verständnis des Begriffs. Auch „Begabung“ steht in einem mehrdimensionalen Verweisungskontext: Bis heute wird die Abgrenzung zu „Intelligenz“ immer neu diskutiert und damit die Frage, ob mit Begabung nur die kognitive Dimension gemeint ist oder die gesamte Breite des individuell gegebenen Entwicklungspotenzials – also eine Vielfalt von Fähigkeiten, die je für sich eigenes Recht haben. Strittig sind auch Annahmen über die Wurzeln der Begabung: ob sie sich eher der „Anlage“ verdankt, wie es in der Tradition, bei manchen Psychologen und wohl auch im Alltag meist unterstellt wird, oder der „Umwelt“, wie in der Begabungsforschung früh betont wurde. Sie habe „die durch Umgebung und Einwirkung erzeugte Entfaltung der Disposition“ zum Thema gemacht, also die jeweils „individuelle Ausprägung intellektueller Befähigung“, die biografisch im Zusammenwirken von Anlage und Umwelt in bestimmten Lernkontexten konstruiert werde.1 „Begaben“ als Prozess, pädagogisch nahezu beliebig gestaltbar, wurde noch in den Bildungsreformdebatten der 1960er-Jahre zur Losung der Reformer.2

Konstant hält sich auch offen oder verdeckt die Annahme, dass nicht Begabung insgesamt, sondern nur die „höhere“ oder „Hochbegabung“ das wirklich interessante Thema sei – nicht selten wird dies an den „Wunderkindern“ von Mozart bis zu diversen Mathegenies exemplifiziert, die dann vermeintlich schlagend auch das „Anlage“-Argument zu bekräftigen scheinen. Dieser Blick auf die Hochbegabten hat neben der individuellen auch eine gesellschaftliche Seite, sei es doch ökonomisch, aber auch politisch geboten, alle Begabungen „auszuschöpfen“, „Begabungsreserven“ nicht brachliegen zu lassen und den „Aufstieg der Begabten“ zu organisieren. Als Gebot der Gerechtigkeit soll „jede intellectuelle Individualität … ihr Recht und ihren Platz [finden], keiner brauchte seine Bestimmung früher als in seiner allmäligen Entwicklung selbst zu suchen“3 – sagt Wilhelm von Humboldt 1809, wenn er die Prinzipien der Schulorganisation diskutiert. Doch bis heute überlagert der Streit über die Praxis in der Schule, über „Auslese“ und „Förderung“, über Individualisierung und Standardisierung die Debatte – und die Kontroversen sind wieder da.

Auch Begabungsförderung ist also bestimmt von den kontroversen Positionen – zwischen Anlage und Umwelt, zwischen der Förderung aller und der Konzentration auf die Hochbegabten oder auf die jeweils gesuchten Begabungen etwa im MINT-Bereich oder beim Sport – so wie die Zeitlage es gerade vorgibt.

Die Rede von Begabung wird immer wieder politisiert, und es wundert nicht, dass die beteiligten Forscher ihre eigenen Begrifflichkeiten jenseits des Begabungsbegriffs zwischen Dispositionen und Fähigkeiten, Potenzialen und Leistungen suchen und der Interaktion einer Vielzahl von Faktoren unterstellen, statt simplen Dualen zu folgen.

 

Weder allen die Natur noch allein die Umwelt

Man kann die Debatte über Begabung nicht allein den Spezialisten überlassen. Sie erzeugen selbst politisch relevante Entwicklungen, wie die Geschichte der Intelligenzmessung belegt. Das Thema verdient öffentliche Resonanz, sodass es vielleicht nützlich sein kann, die Dimensionen sorgfältiger zu unterscheiden, in denen die Argumente gebraucht werden – schon weil sie in der Rede von der „Begabung“ zwar vernetzt, aber nicht wechselseitig zu ersetzen sind. Zumindest drei Dimensionen sollte man unterscheiden: Die Annahme einer bestimmten „Natur“ des Menschen und die Möglichkeiten der individuellen Bildungsprozesse bezeichnen die erste Dimension; politisch ist die zweite, in der die Fragen der Bildungsgerechtigkeit und die legitimen individuellen und gesellschaftlichen Erwartungen erörtert werden; eine operative, pädagogische Dimension tritt als dritte hinzu, in der zu klären ist, wie erreicht werden kann, was als wünschenswert gilt.

In der ersten Dimension kann man inzwischen aus zwei Jahrhunderten der Forschung über die „Natur“ des Menschen alle Vereinfachungen der öffentlichen Diskussion zur Seite legen. Das gilt vor allem für die vermeintlich immer noch diskussionswürdige Alternative von „Anlage“ versus „Umwelt“ (oder „nature“ versus „nurture“), die die je individuellen Begabungen konstituieren und entwickeln würden.

Allein die Interaktion zählt, selbst wenn man nur im Dual denkt. Besser sind noch triadische Figuren wie in der klassischen Bildungstheorie, nach der der Mensch als Produkt „seiner Natur, seines Geschlechts [das heißt seiner gesellschaftlichen Umwelt] und seiner Selbst“ gedacht ist (Pestalozzi), also nach der man den Menschen auch als Akteur seiner eigenen Geschichte denken kann und nicht allein als von Genen oder Umwelten abhängig. Akzeptabel ist insofern allein eine sparsame Naturprämisse, die im Grunde nur mit der „Bildsamkeit“ des Menschen rechnet – also seiner Fähigkeit, Fähigkeiten auszubilden. Schon wenn man über „Bildungspotenziale“ oder „Dispositionen“ spricht, geht es um eine individuelle Leistungsfähigkeit, die sich aus Lernprozessen, Umweltbedingungen und den je subjektiven Erwartungen und Anstrengungen, Motivationen und Herausforderungen angesichts konkreter Aufgaben speist. „Natur“, über die uns die Biologen und Genetiker belehren, erklärt dann so gut wie nichts mehr. „Begabung“ ist vor diesem Hintergrund individuell und spezifisch, nicht allein in einer Dimension sichtbar oder gleich in allen Dimensionen – kognitiv oder emotional oder ästhetisch – entfaltet; sondern sie ist nur biografisch erklärbar und in der Entwicklung abhängig von weiteren Lernprozessen und -gelegenheiten.

Nicht Natur ist also die wesentliche Referenz, sondern die historisch gegebenen Möglichkeiten, unter denen sich individuelle Dispositionen und Potenziale entfalten können. Politik und Gesellschaft oder die Wissenschaft können sich deshalb auch nicht mit dem Rekurs auf Natur, die „Anlage“, herausreden und nur für die Identifizierung der naturgegebenen Möglichkeiten und für „Auslese“ plädieren. Die Bildungswelten und -prozesse gestalten die Entwicklung. Die „Ausbildung der Fähigkeiten“, das ist politischer Konsens, darf daher nicht von Faktoren sozialer Herkunft oder des Geschlechts oder der Ethnizität bestimmt sein, sondern allein von den individuell zugänglichen und genutzten Lernmöglichkeiten und Lernanstrengungen. Die Notwendigkeit der Individualisierung von Bildungsprozessen in individuell verfügbaren Lerngelegenheiten ist daher auch das erste und wesentliche Kriterium, an dem sich die Frage der Bildungsgerechtigkeit bewähren muss.

Diese Erwartung steht keineswegs im Widerspruch zu der universalistischen Erwartung, dass Bildungskarrieren meritokratischen Prinzipien und Bildungssysteme dem Prinzip der Leistung in der Zuteilung von Belohnung (oder im Konstatieren des Misserfolges) unterworfen seien. Bildungsgleichheit ist nicht identisch mit Bildungsgerechtigkeit, die Gleichheit der Chancen erfüllt sich nicht im Versprechen der Zielgleichheit oder der unterschiedslosen Zielerreichung aller, sondern in der Möglichkeit der gleichen Teilhabe an Prozessen, deren logisches Ergebnis die Erzeugung von Differenz ist – Individualisierung durch Lernen eben, auch wenn man gelegentlich diese Seite der Individualisierung ungern eingesteht. Aber mehr als das kann man nicht erwarten: Einheit in der Differenz.

Entscheidend für den Prozess ist deshalb auch nicht die Prinzipiendimension, sondern die dritte, die operative Dimension, also die Frage, wie Individualisierung, d. i. Begabungsförderung, als einzulösendes Postulat der Bildungsgerechtigkeit möglich ist. Gesellschaften wie unsere haben dafür ein zweistufiges System entwickelt: Die Normalform sind die Angebote von familiären, öffentlichen und staatlichen Bildungseinrichtungen, die das Individuum von der Vorschule bis ins Erwachsenenalter begleiten. Sie umfasst ebenso Spezialeinrichtungen ganz unterschiedlicher Art, in denen die Förderung von Begabungen in großer Breite und in vielfältigen Formen zur Geltung kommt. Hier, in dieser operativen Dimension, entscheidet sich die Begabungsproblematik als Entfaltung von Fähigkeiten in ihren Unterschieden; hier liegen auch die wesentlichen Optionen bei der Gestaltung.

 

Wenn alle hochbegabt sind

Zunächst ist eindeutig: Der erste Ort der Begabungsförderung für alle ist nach der Familie das öffentliche Bildungssystem – zunehmend obligatorisch von der Vorschule bis zum 18. Lebensjahr. Die Schule erfüllt dabei eine dreifache Aufgabe: Sie universalisiert erstens im Modus schulischer Allgemeinbildung – Kenntnisse, Verhaltensweisen und Einstellungen, die für die kompetente Teilhabe aller an der Gesellschaft und zur selbstbestimmten und selbstverantwortlichen Lebensführung notwendig und unentbehrlich sind; Schule individualisiert zweitens, indem sie einen Ort bietet, der den Lernenden die Erfahrung ermöglicht, ihre je subjektiven Erwartungen, Leistungspotenziale und Handlungsperspektiven soweit zu erproben, dass sie nicht nur schulische, sondern individuelle Bildungsbiografien aufbauen können.

Schule ist zudem drittens mit der Aufgabe betraut, diese Gleichzeitigkeit von Individualisierung und Universalisierung in einem kompensatorischen Sinne zu erbringen, also Nachteile der sozialen Herkunft auszugleichen, sodass Leistung und nicht Herkunft den Bildungsgang entscheidet.

Heute weiß jeder, dass das mehr oder weniger gut gelingt – zumal die kompensatorische Leistung intensiv als ungelöste Aufgabe diskutiert wird. Im Kontext der Debatte über „Hochbegabte“ tritt jedoch eine andere Defizitzuschreibung an das Bildungssystem hinzu, die in der Literatur als „Drama des begabten Kindes“ eine eigene Tradition seit dem 20. Jahrhundert hat.4 In der Schule, so die These, finde sich das begabte Kind „Unterm Rad“ wieder, weil – so Hermann Hesse – „ein Schulmeister lieber zehn notorische Esel als ein Genie in seiner Klasse“5 habe und der Selbstmord von Schülern deshalb quasi systemisch erwartbar sei (gelegentlich gilt schon als hochbegabt, wer Probleme mit der Schule hat). Aktuell äußert sich eine vergleichbare Kritik an der Schule bei Neurologen, zugespitzt in der so werbewirksamen wie sinnfreien These „Jedes Kind ist hochbegabt“.6 Das ist Nonsens, denn wenn alle hochbegabt sind, sogar mit Blick auf die „angeborenen Talente unserer Kinder“ (ebenda), dann gibt es auch nicht mehr die Möglichkeit der Unterscheidung von „hoch“ und „niedrig“ – dann ist alles „Hochbegabung“ und letztlich alles „Natur“, dann ist alles „angeboren“. Aber was soll das?

Man sollte deshalb den Neurologen weder in den längst überholten genetischen Annahmen noch in den unbegründeten schulkritischen Behauptungen folgen und allenfalls ihre These aufnehmen, dass Pädagogik „eine Art Potentialentfaltungskunst“7 sei und Begabung und ihre Förderung – als Programm der Individualisierung – viele Dimensionen hätten. Aber das weiß man auch ohne Neurologie! Die Kultusministerkonferenz zum Beispiel hat jüngst und unter bemerkenswert sparsamer Verwendung des Begabungsbegriffs eine gut begründete und breit entfaltete, schulisch wie außerschulisch bedeutsame „Förderstrategie für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler“8 beschlossen – verstanden als „begabungsgerechte Förderung“, umschifft sie klug die Hochbegabten-Debatte. In der Debatte über Inklusion und den Umgang mit Heterogenität steht ebenfalls die operative Dimension im Zentrum. Die Reflexion von Strategien der Individualisierung gewinnt dabei – in einem universalisierenden Kontext – an Präzision und Erfahrung. Man muss also nicht pessimistisch sein, wenn man schulische Individualisierungsprogramme verfolgt, denn auch Profilbildung von Schulen in Spezialbereichen – musisch oder mathematisch, naturwissenschaftlich oder sozial, sportlich oder technisch – ist ganz alltäglich geworden (und kann natürlich immer besser werden).

Relativ gelassen darf man auch die zweite Ebene der Förderung, die der Spezialveranstaltungen, betrachten. Früh in der „Studienstiftung“ für die besonders leistungsstarken Schüler mit Blick auf ein Hochschulstudium entwickelt, später von den Stiftungen der Parteien, Gewerkschaften und Kirchen erweitert, gibt es heute eine Vielzahl an Programmen, die biografisch und thematisch offen orientiert sind. Die Helmholtz-Gemeinschaft zum Beispiel fördert die Arbeit in der Kita-Phase, es gibt nicht nur Förderung bei „Jugend forscht“, sondern auch, wenn Jugend musiziert, argumentiert, schreibt und liest oder politische und sportliche Fähigkeiten entfaltet. Und es gibt natürlich „MINT-Programme“. Die Förderung der Vielfalt von Begabungen erweist sich zu Recht als ein zivilgesellschaftliches Thema. Hier haben die Stiftungen eine ihrer Aufgaben gefunden, und man muss nicht nach dem Staat rufen. Eher ist darauf zu achten, dass Bildung den freien Raum findet, der Individualisierung und damit die Entfaltung von Begabungen möglich macht.


Heinz-Elmar Tenorth, geboren 1944 in Essen, ist emeritierter Professor für Historische Erziehungswissenschaft und unter anderem Mitglied des Kuratoriums des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) der Länder der Bundesrepublik Deutschland an der Humboldt-Universität zu Berlin.

 

[1] So argumentiert die empirisch orientierte Begabungsforschung um 1900; zur Übersicht: Ernst Meumann: Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik und ihre psychologischen Grundlagen, 2. Bd., 2. Aufl. 1913.
[2] Dafür steht natürlich Heinrich Roth (Hrsg.): Begabung und Lernen, Stuttgart 1969 – und die Kritik z. B. bei Franz E. Weinert: Begabung und Lernen. Zur Entwicklung geistiger Leistungsunterschiede, in: Max Planck Forschung 1999, S. 60–67, dort: „Was für eine pädagogische Utopie; aber auch welch ein psychologisches Fehlurteil.“
[3] Wilhelm von Humboldt: „Königsberger Schulplan“, in: Humboldt, Werke, Ed. Flitner/Giel, Bd. IV, S. 168–195, zit. S. 175.
[4] So, publikumswirksam, Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes. Frankfurt a.M. 1979 – und man kannte dabei noch nicht die familiäre Leidensgeschichte ihres Sohnes.
[5] Hermann Hesse: Unterm Rad (1905/06), Frankfurt a.M. 1970 (u. ö.).
[6] Gerald Hüther / Uli Häuser: Jedes Kind ist hochbegabt. Die angeborenen Talente unserer Kinder und was wir aus ihnen machen, München 2012.
[7] So Hüther in einem Interview, in: Der Spiegel, vgl. www.spiegel.de › SchulSPIEGEL › Wissen › Arbeitsplatz Schule, 21.08.2012: Schulkritiker Gerald Hüther: „In jedem Kind steckt ein Genie“.
[8] Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 11.06.2015.

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