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Auf das Flüchtlingsdrama gibt es nur Fragmente von Antworten

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Darf man von Völkerwanderung, von Invasion gar sprechen? Wer sich hierzulande zum Flüchtlingsthema äußert, muss seine Worte sorgfältig wählen. Von Fremdenfeindlichkeit ist rasch die Rede. Selbst das Offensichtliche, von jedermann Wahrnehmbare auszusprechen, ist in diesem Land mit seinem häufig neurotisch anmutenden Bemühen um politische Korrektheit nicht selten ein Wagnis. Aber im gegebenen Fall wohl doch ein notwendiges.

Die elementaren Fakten jedenfalls sprechen eine klare Sprache. Nach Schätzungen, so der Innenminister, muss Deutschland in diesem Jahr mit bis zu 800.000 Flüchtlingen rechnen. Das sind mehr als doppelt so viele wie im vergangenen Jahr. Was diesen Zahlen ihr wahres Gewicht gibt: Ein Ende oder auch nur ein Abschwellen des Zustroms ist nicht absehbar. Eher muss man damit rechnen, dass die Zahlen weiter steigen. Sie spiegeln wider, dass Deutschland keine Kontrolle mehr über seine Außengrenzen hat. Es hat sie, will man es europarechtlich korrekt formulieren, aufgegeben. In der Wahrnehmung der Bevölkerung hat es sie verloren. Diesen Flüchtlingsstrom darf man getrost eine Völkerwanderung nennen und das Hereindrängen von Hundert tausenden von Flüchtlingen über unkontrollierbar gewordene Grenzen eine Invasion, eine gewaltlose, eine Elendsinvasion, aber eben doch eine Invasion.

 

Alles andere als ein Hirngespinst

Natürlich wird sich jeder Politiker hüten, ein solches Reizwort in den Mund zu nehmen. Aber mit ihrem angestrengten Be mühen um unanstößiges Reden läuft die Politik Gefahr, am Ende nicht mehr wahr zunehmen, wie das, was täglich in der Zeitung zu lesen und in den Fernsehnach richten zu sehen ist, auf die wirkt, die in diesem Land zu Hause sind. Natürlich gibt es Fremdenfeindlichkeit, gibt es blanken Hass, der sich vor allem im Internet in widerwärtigen Worten und auf der Straße auch in brutaler Gewalttätigkeit äußert. Aber es gibt eben auch und sicher viel verbreiteter das, was die Politiker gern „Ängste“ nennen, die man ernst nehmen müsse, um sich mit dem Ernst-Nehmen in der Regel dann doch schwerzutun. Ernst nehmen hieße ja, zuzugestehen, dass die Ängste nicht ganz und gar grundlos sind; hieße, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Sorge, das eigene Land könne einem fremd werden, jedenfalls in manchen Regionen alles andere als ein Hirngespinst ist; dass die Befürchtung, das Gemeinwesen könne sich mit Integrationsaufgaben dauerhaft hoffnungslos überlasten, nicht aus der Luft gegriffen ist; und dass die Wahrnehmung, in einem Land zu leben, dessen Grenzen nicht mehr kontrollierbar sind, keine beruhigende ist.

Das harte Wort Invasion, mag es auch, was vor sich geht, auf seine Weise deutlich beschreiben, darf freilich nicht für sich al lein stehen bleiben. Es muss Teil einer Einsicht werden, die lautet: Wir haben es mit einer Invasion zu tun, der wir mitmenschlich begegnen müssen. Die weitaus meisten Menschen, die Zuflucht bei uns suchen, werden ja von der Not getrieben: der Not des Bürgerkrieges, der terroristischen Glaubensverfolgung, des Staatszerfalls, auch der wirtschaftlichen Not. Und selbst da, wo es keine Flucht ist, sondern nur eine Wanderung dorthin, wo die Hoffnung auf ein besseres Leben winkt, verdient das Migrationsmotiv jedenfalls Respekt. Aber wie geht man mit der Spannung um, die dieser Einsicht eingeschrieben ist – eine Invasion, der wir mit menschlich begegnen müssen? Wie hält man sie auch nur aus?

 

Man kann es sich einfach machen …

Man kann es sich einfach machen und nur das eine oder das andere gelten lassen. Man kann die Invasion nur als Invasion wahrnehmen und darüber das Gebot der Moral wie der Vernunft, ihr mitmenschlich zu begegnen, ignorieren. So halten es die, die die Parole „Ausländer raus“ brüllen und im schlimmsten Fall Häuser an zünden. Und man kann das Gebot der Mitmenschlichkeit predigen, ohne seine Implikationen für ein Gemeinwesen, das zu einem Hauptziel weltweiter Elendsmigration geworden ist, zu Ende zu denken. So halten es die, die die Grenzen am liebsten ganz öffnen würden; für die immer und allein das aufnehmende Land auf der Anklagebank sitzt.

Man kann es sich einfach machen, aber man darf es sich nicht einfach machen. Man muss beides gelten lassen: Ja, es ist eine Invasion; und ja, wir müssen ihr mitmenschlich begegnen. Erst wenn wir uns der Spannung, die sich in dieser doppelten Einsicht artikuliert, stellen, wird ein vernünftiges Nachdenken darüber möglich, wie mit der Herausforderung umzugehen sei, vor der wir stehen.

Die ersten Einsichten, auf die solches Nachdenken stößt, sind nicht ermutigend. Die Politik steht vor einer jener Aufgaben, die ihr größte Anstrengungen abverlangen und die sie doch grundsätzlich über fordern. Von der Politik erwartet man, dass sie Probleme „löst“.

 

Überall stößt Politik auf Widersprüche und Grenzen

Im Flüchtlingsdrama gibt es aber keine „Lösung“. Es gibt nur ein Hantieren mit Fragmenten von Antworten, die auch in ihrer Summe nicht entfernt so etwas wie eine Lösung sind. Überall stößt die Politik auf Grenzen ihrer Möglichkeiten, auf Widersprüche, in die sie sich mit ihrem Handeln verstrickt.

Nirgends wird das deutlicher als bei dem scheinbar so eindeutigen Gebot, die Menschen, die von den Schleusern in überfüllten, seeuntüchtigen Booten aufs Mittelmeer hinausgeschickt werden, aus Seenot zu retten. Die Fragedrängt sich ja auf: Warum wartet man, bis sie in Seenot sind? Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer lassen sich verlässlich nur dadurch verhindern, dass Europa seine Grenzen vorbehaltlos öffnet und außerdem für einen sicheren, einem jeden erschwinglichen Transfer übers Mittelmeer Sorgeträgt. Aber öffnete Europa sich vorbehaltlos, trüge es für sicheren Transfer Sorge, so würde der Zustrom, zumal aus Afrika, nur immer weiter anschwellen, bis hin zur hoffnungslosen Überforderung der europäischen Demokratien, ihrer demokratischen wie sozialstaatlichen Strukturen. Also führt an der Limitierung legaler Einwanderung, an der Eingrenzung des Asylrechts, an der Konditionierung aller Nothilfe kein Weg vorbei. Das aber heißt, welche Zulassungskriterien auch immer man wählt: Hunderttausende, Millionen von Migrationswilligen werden ausgeschlossen, von denen sich viele dennoch auf den Weg machen und den Schlepper banden auf Lebensgefahr anvertrauen werden. Der Versuch, dies zu bekämpfen, muss gewiss gemacht werden. Aber der Krieg gegen den Drogenhandel lehrt uns: Wo Milliardengewinne locken, sind die kriminelle Energie und der kriminelle Erfindergeist dem, was rechtsstaatlich verfasste, in ihren Handlungsmöglichkeiten territorial eingegrenzte Demokratien zu tun in der Lage sind, immer ein Stück voraus.

Weist der Rat, sich nicht nur mit den Folgen, sondern vor allem mit den Ursachen zu beschäftigen, einen Ausweg? Er bringt die Herkunftsländer in den Blick. Und damit ist auch schon gesagt: Die Vernunft der Maxime, ein Problem an der Wurzel anzugehen, bleibt abstrakt. Tatsächlich sind die Möglichkeiten der deutschen und selbst der europäischen Einwirkung auf die Herkunftsländer sehr, sehr begrenzt. Das gilt in besonderem Maße für jene Krisenregionen, aus denen die Menschen vor Krieg und Bürgerkrieg fliehen – Syrien, den Irak, Afghanistan, den Sudan. Alle Erfahrung der letzten Jahrzehnte hat uns gelehrt, dass sich diese Regionen durch Einwirkung von außen nicht dauerhaft befrieden lassen. Das gilt auch für Regionen der Anarchie, wie Somalia eine ist, in denen funktionierende, ein Minimum an Lebenssicherheit gewährende Staatlichkeit von außen her offensichtlich nicht aufzubauen ist. Und es gilt für die vielen Länder, in denen die staatlichen Institutionen ausschließlich oder hauptsächlich der Bereicherung korrupter Eliten dienen, mit der Folge, dass viele Menschen in der Heimat keine Zukunft mehr für sich sehen. Eine Regierungspraxis, auch dafür gibt es inzwischen viel Lernstoff, die sich wenigstens elementar an den Belangen aller orientiert, ist von außen her kaum zu erzwingen.

Viel Grund also zur Skepsis. Aber Skepsis darf nicht Untätigkeit zur Folgehaben. So bescheiden die Möglichkeiten, die Ursachen der weltweiten Elendsmigration wirksam anzugehen, für Deutschland und Europa auch sein mögen, man muss sie nutzen. Und es könnte sein, dass sie sich, wenn man beginnt, ernsthaft über sie nachzudenken und sie zu erproben, als größer erweisen, als sie auf den ersten Blick erscheinen. Dass man auf diesem Weg in absehbarer Zeit den Flüchtlingsstrom zum Versiegen bringen kann, dagegen freilich spricht alles.

So werden wir uns also auf ungewisse Zeit darauf einzurichten haben: Flüchtlinge werden kommen, aus vieler Herren Länder, von verschiedenen Arten des Elends getrieben, in großen Scharen; Deutschland wird in Europa ein bevorzugtes Fluchtziel bleiben. Und die Antwort auf die Frage, was denn die doppelte Einsicht bedeute, dass wir es mit einer Invasion zu tun haben, aber einer Invasion, der wir mitmenschlich begegnen müssen, hat vor allem die Wirklichkeit hier im Land ins Visier zu nehmen.

 

Menschenwürdige Behandlung für alle, Bleiberecht für die Bedrohten

In Kants berühmter Abhandlung „Zum ewigen Frieden“ lautet der dritte und letzte Definitivartikel des kommentieren Vertragsentwurfs, der den Kern der Schrift bildet: „Das Weltbürgerrecht soll auf die Bedingungen der allgemeinen Hospitalität beschränkt werden.“ Kant definiert die Hospitalität als „das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines anderen wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden“. Und fügt dann hinzu, der Einheimische könne den Fremdling abweisen, „wenn es ohne seinen Untergang geschehen könne“. Das Recht und die Pflicht, das Eigene zu bewahren, sagt Kant damit, wird durch die Pflicht dem Fremden gegenüber nicht aufgehoben, vielmehr setzt diese Pflicht jenes Recht voraus. Die Kodifikationen der modernen Welt sind Kant aus guten Gründen im Wesentlichen gefolgt: Keine Feindseligkeit gegen den Fremdling, das heißt, ein Recht auf menschenwürdige Behandlung muss im Maße des Möglichen gewährt werden, ein Bleiberecht ist aber nur dann zwingend, wenn es dem Fremdling nicht „ohne seinen Untergang“ versagt werden kann. Die Genfer Flüchtlingskonvention fasst die Bedingung des Bleiberechts in die Formel „Bedrohung von Leben und Freiheit“ (Artikel 31), das Grundgesetz spricht lapidar (und auslegungsbedürftig) von politischer Verfolgung.

Es ist offensichtlich, dass die Unterscheidung zwischen denen, die „ohne Gefahr des Untergangs“ nicht abgewiesen werden können, und denen, für die das nicht gilt, zwischen denen also, die ein Bleiberecht haben, und denen, die es nicht haben, zur zwingenden Notwendigkeit wird, wenn Flüchtlingsströme in den in zwischen erreichten Größenordnungen ins Land drängen. Und es ist ebenso offensichtlich, dass im Blick auf die, die bleiben, Integration zur Schlüsselaufgabewird. Was wiederum bedeutet, dass die Frage nach den Grenzen der Integrationsfähigkeit des Gemeinwesens, für die sehr unterschiedliche Ressourcen bedeutsam sind, wesentlich wird.

 

Ohnmächtig taumelnd, von den Ereignissen überrollt

Es scheint, als sei die Politik, von den Rändern abgesehen, sich inzwischen über beides im Klaren: Wer kein Bleiberecht hat, kann nicht bleiben. Und: Integration derer, die bleiben, ist die vielleicht größte gesellschaftliche Aufgabe, vor der wir stehen. Aber noch fehlt es an der sichtbaren Entschlossenheit, die Einsichten, zu denen die Wirklichkeit zwingt, ganz und gar ernst zu nehmen. Man kann sich ja noch nicht einmal dazu entschließen, auch nur die selbst gesetzten Migrationsanreize für die, von denen man doch im Vorhinein weiß, dass sie nicht werden bleiben können, abzuschaffen. Dass die Verantwortung in unserer föderalen Ordnung lange und zäh hin- und her geschoben werden kann, macht die Sache nicht einfacher.

Für die sichtbare Entschlossenheit, das Notwendige und Mögliche in beiden Richtungen zu tun, ist es auch deshalb allerhöchste Zeit, weil der Eindruck, dass die Politik ohnmächtig taumelnd von den Ereignissen überrollt werde, alles Vertrauen der Bürger in die Politik überhaupt zerstört. Und noch eins ist zu bedenken: Gerade ein Land, das auf geplante, nach seinen eigenen Bedürfnissen gesteuerte Einwanderung angewiesen ist, kann sich einer von niemandem kontrollierten Migrationsinvasion nicht einfach ausliefern.

 

Peter Graf Kielmansegg, geboren 1937 in Hannover, bis 2003 Inhaber des Lehrstuhls Politische Wissenschaft III an der Universität Mannheim.

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