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Was Bürger von Parteien erwarten

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Man bräuchte „PEGIDA“ nicht. Wirklich nicht. Nicht einmal, um zu illustrieren, wie relevant das Thema „Was Bürger von Parteien erwarten“ ist. Ein kleiner, aber nennenswerter Teil der Bürgerschaft ist mit dem aktuellen Erscheinungsbild von Parteien und Politik unzufrieden; das war Beobachtern bereits vor jenem Montag im Oktober 2014 bewusst, als sich 350 Personen zusammenfanden und erstmals unter dem Motto „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ demonstrativ schweigend durch Dresden zogen. Nicht nur diese Bewegung, von der man im Augenblick noch nicht sagen kann, ob es sich dabei nur um ein Dresdner Lokalphänomen oder doch um eine auch überregional relevante Erscheinung handelt, sondern vor allem die auf allen politischen Ebenen tendenziell sinkende Wahlbeteiligung sowie die Meinungsumfragen zum Ansehen von Politik und Parteien zeigen, dass es um eine zentrale Funktion bundesdeutscher Parteien schlecht bestellt ist: Ihrem Auftrag, „für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen“ zu sorgen (Paragraph 1 Absatz 2 Parteiengesetz), werden die politischen Parteien nicht mehr gerecht. Das zeigt Folgen: Die Verführbarkeit und womöglich auch Radikalisierbarkeit der Bürger durch populistische Parteien und Bewegungen steigt in dem Maße, die die Bindungskraft und damit auch die immunisierende Wirkung klassischer gesellschaftlicher Großorganisationen wie Parteien, Kirchen und Gewerkschaften nachlassen.

Bei der Suche nach den Ursachen dieses Funktionsverlusts und zur Antwort auf die Frage, was Bürger von den Parteien erwarten, lohnt es sich, tiefer anzusetzen, als dies PR-Berater, Talkshows und Parteistrategen gemeinhin tun: zum Beispiel bei der Frage, welche Faktoren überhaupt zur Herausbildung sowohl der westlichen Parteiensysteme als auch der Parteifamilien führten und welche Bedeutung diese Faktoren zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch haben. Dies führt zum Konzept der sogenannten „cleavages“, also der Konfliktlinien, entlang derer sich seit dem ausgehenden 19. bis in die ersten siebzig Jahre des 20. Jahrhunderts identitätsstiftende Milieus formierten.

Als besonders wirkmächtig für die Parteienentwicklung erwiesen sich dabei zwei Konflikte: zum einen der Klassenkonflikt, der Arbeitnehmerbeziehungsweise Gewerkschaftsinteressen von den Interessen der bürgerlich-mittelständisch-freiberuflichen Gruppe schied, und zum anderen der religiös-konfessionelle Konflikt, der zwischen Personen mit religiös-kirchlicher Bindung sowie den Nichtreligiösen beziehungsweise den kirchlich Ungebundenen ablief. Die immense Relevanz dieser gesellschaftlichen und politischen Spaltungslinien zeigt sich in beiden Richtungen: sowohl beim früheren Bedeutungsgewinn als auch beim jetzigen Bedeutungsverlust der Parteien. Der Ausbau des Wohlfahrtsstaates zum einen und die Säkularisierung zum anderen schwächten die tradierten Konfliktlinien ebenso ab wie die gesellschaftliche Modernisierung und die Individualisierung der Lebensverhältnisse. Anders, als dies noch vor fünfzig Jahren der Fall war, kann man inzwischen kaum mehr von der sozio-ökonomischen Lage einer Person auf ihre Wertvorstellungen und damit auf ihre Parteipräferenzen schließen.

 

Das Ringen um die Mitte

Der Rückgang der Erklärungskraft der sozialen Milieus wirkt sich zwangsläufig nicht nur auf Parteibindung und Wahlverhalten aus, sondern auch auf die politische Orientierung der Wählerschaft: Ungefähr sechzig Prozent der bundesdeutschen Wählerinnen und Wähler ordnen sich derzeit selbst der politischen Mitte zu – mit klaren Konsequenzen für die Ausrichtung der Parteien: Da Wahlen „in der Mitte“ gewonnen werden, müssen sich zumindest die Volksparteien programmatisch auch dort bewegen. Dies könnte zu der Feststellung verleiten, dass dann ja „alles gut“ ist: Die Wähler haben ihre ideologisch aufgeheizten Milieus verlassen, die Parteien reagieren darauf, und beide begegnen sich. Aber – nicht nur „PEGIDA“ zeigt: So einfach ist es nicht.

Die Mitteorientierung der Parteien, mit der diese auf die Auflösung der tradierten Milieus und die Volatilität des Wahlverhaltens reagieren, geht fast  zwangsläufig mit einer geringen Unterscheidbarkeit politischer Positionen einher. Grundsätzlich entspricht diese programmatische Annäherung der großen Parteien dem konsensual geprägten Politikverständnis, das die meisten Deutschen haben. Aber die Ergebnisse der Demokratie- und Parteienforschung zeigen auch: Ungeachtet aller Konsensorientierung bleibt der Parteienwettbewerb nur dann lebendig und damit attraktiv für die Wählerschaft, wenn er auf der „Konfiguration der Gegnerschaft“ (Chantal Mouffe) basiert.

 

Eingeschränkt steuerungsfähig

Die Mitteorientierung der Parteien tritt zeitgleich mit dem Phänomen der nachlassenden Steuerungsfähigkeit demokratischer Nationalstaaten und damit der Politik insgesamt auf. Je intensiver sich Wirtschaft, Umwelt, Politik, Kultur, Kommunikation und öffentliche Sicherheit international verflechten, desto schwieriger wird es für die einzelnen Staaten und ihre politischen Führungen, den spezifischen Erwartungen ihrer Bürger gerecht zu werden – zum einen, weil die politischen Anforderungen der Bürger sich von jeher nach ihrer Interessenlage unterscheiden, zum anderen aber auch deshalb, weil es keine friedens- und wohlstandsichernde internationale Einbindung ohne Zugeständnisse und Kompromisse geben kann.

Die Notwendigkeit des Abstimmens mit anderen und die Rücksichtnahme auf die Interessen von Verbündeten und Handelspartnern oder auch Beschlusslagen in supranationalen Gremien haben zwar den Frieden in Europa und den Wohlstand gerade auch in Deutschland ermöglicht, fordern aber allen Beteiligten viel ab: Politiker müssen sich mehr denn je auf einzelne Problemfelder spezialisieren und sich jenseits dieser auf die Beschlussempfehlungen von Parteiund Parlamentsgremien verlassen. Und die Bürger benötigen ein Mindestmaß an historischen, politischen und wirtschaftlichen Kenntnissen, um den fundamentalen Wandel der Welt einordnen zu können.

Aber es ist bei Weitem nicht nur die Globalisierung, die die Handlungsfähigkeit nationalstaatlicher Politik einschränkt und bei den Bürgern den Eindruck erweckt, ihre nationalen Politiker seien zur Ohnmacht verurteilt. Auch die finanzielle Gestaltungsmacht von Politik ist stärker begrenzt, als dies in den 1950eroder 1960er-Jahren der Fall war: Die Finanzkrise sowie das politische Ziel, die Verschuldung der öffentlichen Haushalte auch mit Blick auf die Erfordernisse des demografischen Wandels zurückzufahren, erschweren es inzwischen, politische Probleme dadurch zu lösen, dass man die Staatsausgaben erhöht. Wie eingeschränkt die politische Steuerungsfähigkeit ist, zeigt im Übrigen die Flüchtlingspolitik: Die Zahl der Asylbewerber, der Bürgerkriegsflüchtlinge und derjenigen, die vor dem Terror des IS fliehen müssen, kann die bundesdeutsche Politik nicht einmal mehr im europäischen Verbund nennenswert beeinflussen.

Bürger erwarten von Politikern, dass diese die Sachverhalte, über die sie zu entscheiden haben, verstehen und getroffene Entscheidungen auch kompetent vertreten können. Politische Entscheidungen sollen nachvollziehbar und zuordenbar sein, und die Bürger wünschen sich, zwischen klaren politischen Alternativen eine Auswahl treffen zu können. Einerseits sollen die Parteien ein klares inhaltliches Profil aufweisen, andererseits verteufeln viele Deutsche kaum etwas mehr als das „Parteiengezänk“.

Diese divergierenden Erwartungen der Bürger sowie die Komplexität moderner Politik überfordern Parteien und Politiker. Es gelingt jedoch weder ihnen noch den Medien oder der politischen Bildung, den Tatbestand der strukturellen Überforderung angemessen aufzuzeigen und zu erklären.

Hinzu kommt, dass die Parteien – unterstützt von den Medien – den Komplexitätszuwachs der Politik dadurch zu entschärfen suchen, dass sie Politik immer mehr personalisieren, inszenieren und ritualisieren. Auch wenn dies kurzfristig wirksame Rezepte sein mögen, um das Interesse der Bürger an politischen Fragen lebendig zu halten, die strukturell bedingte Abwendung eines Teils der Bürgerschaft von der Politik wird man nicht dadurch aufhalten, dass man mit oberflächlichen Botschaften auch noch die politisch Interessierten enttäuscht.

 

Gestörte Rückkoppelung

Der im Parteiengesetz formulierte Auftrag, dass Parteien „für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen“ zu sorgen haben (Paragraph 1 Absatz 2 Parteiengesetz), basiert auf dem Demokratiemodell unseres parlamentarischen Regierungssystems: Ausgehend von der Wahlentscheidung der Stimmbürgerschaft, wird auf der Basis des Wettbewerbs programmatisch unterscheidbarer Parteien über die Mehrheitsentscheidung des Parlaments eine Legitimationskette zur parlamentarisch gewählten und kontrollierten Regierung hergestellt. Zwischen den Bürgern und den sich zur Wahl stellenden Parteien läuft unablässig ein Rückkoppelungsprozess ab. Funktioniert dieser, erhalten die verschiedenen Parteien immer wieder ein neues Mandat für ihre parlamentarische und ihre außerparlamentarische Arbeit. Funktioniert er nur unzureichend, bietet dies Anlass für die Gründung einer neuen Partei, die auf den Wettbewerb der Parteien ausstrahlt, den Rückkoppelungsprozess belebt und im Idealfall wieder ins Lot bringt. Im ungünstigsten Fall jedoch führt die unzureichende Rückkoppelung zwischen Bürgern und Parteien dazu, dass sich Teile der Bürgerschaft vorübergehend oder dauerhaft von den Parteien insgesamt abwenden. Das geschieht dann, wenn sich die Mehrheit der Parteien nicht „responsiv“ gegenüber den sich verändernden Erwartungen der Bürger erweist.

Wie vermeiden Parteien die demokratiegefährdende Abwendung der Bürger von der Politik? Und was müssen Parteien bedenken und tun, um auch in Zeiten zurückgehender Steuerungsfähigkeit der Politik, nachlassender Parteibindung und sinkender Wahlbeteiligung ihre für das Gemeinwesen unverzichtbare Responsivität zu erhalten?

 

Demokratiegefährdendes Vakuum

Diese Fragen führen zu einem Grundproblem unserer repräsentativen Demokratie: Es sind häufiger die Bürger der unteren Einkommens- und Bildungsschichten, die politisch desinteressiert sind und für sich die Entscheidung treffen, dass ihre Stimmabgabe keine Bedeutung hat. Da es angesichts verfestigter Politikferne und Wahlabstinenz unwahrscheinlich ist, dass sich diese Wähler mobilisieren lassen, verzichten Parteien mit Mitteorientierung darauf, programmatisch auf diese Klientel einzugehen. Schließlich bestünde angesichts der unterschiedlichen Mobilisierbarkeit die Gefahr, dass eine etwa auf Umverteilung abzielende Programmatik mehr Wähler in der Mitte des Spektrums abschrecken als Wähler an den Rändern des Parteienspektrums anziehen würde. Das heißt, dass die Funktionsmechanismen der repräsentativen Demokratie es den Parteien geradezu nahelegen, nicht responsiv auf jene Bürger zu reagieren, die den Wahlen fernbleiben. Ein derartiges Verhalten der Parteien erscheint zunächst rational, jedoch nur, wenn man eine sehr kurzfristige Perspektive einnimmt. Tatsächlich lässt es ein demokratiegefährdendes Vakuum entstehen, das auch nicht durch die Ausweitung direktdemokratischer Elemente zu füllen ist. Schließlich unterscheidet sich die Beteiligungswahrscheinlichkeit der unterschiedlichen Gruppen von Bürgern bei Abstimmungen nicht wesentlich von ihrem Verhalten bei Wahlen.

Verhindern lässt sich dieses Vakuum nur, wenn die Parteien programmatisch auch die Nichtwähler vertreten. Geschieht dies nicht, hätte dies zur Folge, dass die Interessen der Mittel- und Oberschicht sowie die Interessen der Älteren, die jeweils deutlich häufiger zum Wählen gehen, dauerhaft besser vertreten würden als die Interessen der Angehörigen unterer Einkommens- und Bildungsschichten und der Jungen. Aus der Zweidrittelpartizipation würde eine Zweidrittelrepräsentation (Wolfgang Merkel, 2015). Das würde den (Selbst-)Ausschluss der Politikfernen nicht nur zementieren, sondern den Grundstein dafür legen, dass diese Gruppe größer wird. Indem die Parteien die Interessen und Belange der Nichtwähler in ihrer Programmatik und im politischen Prozess stärker berücksichtigen, zeigen sie nicht nur Verantwortung für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft, sondern verhindern gleichzeitig die Delegitimierung der Parteiendemokratie.

 

Ursula Münch, geboren 1961 in Esslingen am Neckar, Direktorin der Akademie für Politische Bildung, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr München.