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Wie sich politische Empörung in der deutschen Parteienlandschaft positioniert

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Seit den 1960er-Jahren war es keiner „kleinen“ Partei1 gelungen, bei einer Bundestagswahl so knapp an der Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern wie der AfD 2013. Nachdem die Partei durch die Spaltung in Alternative für Deutschland (AfD) und Allianz für Fortschritt und Aufbruch (Alfa) zwischenzeitlich dem Untergang geweiht schien, erholte sie sich 2015 im Verlauf der Flüchtlingskrise.

Dennoch geht den Wahlerfolgen der AfD ein langjähriger Trend voraus. Seit Jahrzehnten haben sich die Bedingungen für kleine Parteien kontinuierlich verbessert, da immer mehr Wähler bereit sind, den sogenannten „sonstigen“ Parteien ihre Stimme zu geben. Diese Entwicklung setzte bereits in den 1990er-Jahren ein. In Hamburg erhielten die sonstigen Parteien bereits 1993 und 1997 über sechzehn Prozent der abgegebenen Stimmen, 1991 blieben in Bremen knapp zehn Prozent der Stimmen bei den kleinen Parteien, und bei der Europawahl 1994 votierten gut zehn Prozent für die Parteien außerhalb des Parlaments. In den 1990er-Jahren gelang es einigen kleinen Parteien, in Parlamente einzuziehen; genau genommen waren es zuerst 1989 die Republikaner, die mit 7,5 Prozent in das Berliner Abgeordnetenhaus einzogen.

Seit dieser Zeit gelang es – neben den Republikanern – der Statt-Partei, der Schill-Partei, der Deutschen Volksunion (DVU), der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), der Partei Arbeit für Bremen und Bremerhaven, den Bürgern in Wut, den Freien Wählern und der Piratenpartei, auf Landesebene zu reüssieren. Diese Parteien verbindet programmatisch wenig. Manche sind populistisch, manche extremistisch, andere sind reine Protestparteien oder haben ein spezifisches Themenfeld in den Fokus gerückt. Langfristig konnte sich keine dieser Parteien etablieren, was im europäischen Vergleich ungewöhnlich ist, da sowohl populistische als auch extremistische Parteien in vielen Ländern politisch Fuß fassen konnten.

Ursache des bislang zeitlich und/oder geografisch begrenzten Erfolges der kleinen Parteien ist die Veränderung des Abstimmungsverhaltens. Infolge des schleichenden Rückgangs der Parteiidentifikation seit den 1970er-Jahren und des Anwachsens ungebundener Wählerschichten hat volatiles Wahlverhalten zugenommen, ist fast die Norm und nicht mehr die Ausnahme. Stammwählerschaften sind auf eine überschaubare Kernklientel geschrumpft. Alle Parteien müssen von Wahl zu Wahl die Wähler immer wieder neu für sich gewinnen.

Wer mit „denen da oben“ und den etablierten Parteien unzufrieden ist, entscheidet sich häufig für eine der kleinen Parteien. Sie profitieren von unterschiedlichem Protest – mal konkreter, mal diffuser Natur – und mobilisieren immer (unabhängig von der Höhe der Wahlbeteiligung) überdurchschnittlich viele ehemalige Nichtwähler. Ideologisch war der Protest in den letzten Jahrzehnten nicht „rechts“ oder „links“ zu verorten, was auch daran liegt, dass viele politische Themen und die Einstellungen der Bürger nicht in das Rechts-Links-Schema passen.

 

Weder rechts noch links

Seit 1992 zeigte sich ein Trend, der bis heute – cum grano salis – immer wieder durch die Erfolge der „sonstigen“ Parteien bestätigt wird. Bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg erhielten die Republikaner (REP) 10,9 Prozent der Stimmen. Gleichzeitig verlor die CDU 9,4 Prozent. Wer vorschnell meinte, dies sei „Fleisch vom Fleische der CDU“ gewesen, wurde rasch eines Besseren belehrt. Die Wählerwanderungsbilanz zeigte, dass die Zusammensetzung der REP-Wählerschaft auf vielen Säulen basierte. Jeweils etwa ein Drittel der Wählerschaft kam von der CDU, aus dem Nichtwählerlager und aus den anderen Parteien (vor allem der SPD). Bei allen Wahlen (siehe Abbildungen auf Seite 14), bei denen Protestparteien in die Parlamente einzogen, wiederholte sich dieses Muster. Sie mobilisieren auch bei sinkender Wahlbeteiligung ehemalige Nichtwähler. Ansonsten kommen die Wähler aus allen politischen Lagern – auch quer zur ideologischen Ausrichtung der Parteien.

Die AfD ist in Bezug auf die Zusammensetzung ihrer Wähler eine heterogene Sammlungspartei. Auch wenn gelegentlich behauptet wird, die AfD würde besonders der Union schaden, so kann dies anhand der Daten nicht bestätigt werden. Die AfD sammelt aus allen politischen Lagern und Richtungen Wähler ein. Wie jede Protestpartei gewinnt sie aus allen politischen Richtungen Wähler hinzu. Dass es sich hierbei um ein bekanntes Phänomen handelt, zeigt der Vergleich mit der Piratenpartei (Piraten). Auch bei ihr kommen die Wähler aus dem gesamten politischen Spektrum. Protest ist nicht links oder rechts.

Die Wahl von 1992 beseitigte auch ein weiteres Vorurteil, und ein neuer Trend entstand: Stimmten in den 1960er-Jahren vor allem ältere Wähler für die NPD, wiesen die REP eine umgekehrte Alterspyramide auf. Sie waren umso erfolgreicher, je jünger die Wähler waren. Dieses Muster zeigt sich immer wieder. Eine gewisse Protestaffinität ist bei jüngeren Männern und Wählern mit einem einfachen bis mittleren Bildungsniveau sichtbar. Frauen zeigen gegenüber „neuen“ Parteien insgesamt und schon immer eine größere Zurückhaltung. Selbst die Partei Bündnis 90 / Die Grünen hatte zu Beginn einen Männerüberhang. Fasst man die sozialstrukturellen Charakteristika der Wähler von Protestparteien zusammen, so könnte man grob verkürzt sagen: männlich, mittleres bis niedriges Alters- und Bildungsniveau und konfessionell ungebunden. Zudem sind Protestparteien bei Arbeitern und Arbeitslosen überdurchschnittlich beliebt.

 

Dinge „beim Namen nennen“

Bei den Wählern zeigt sich eine diffuse Unzufriedenheit, die sich an einem oder wenigen Themen festmacht. Wie alle Protestparteien profitiert auch die AfD von dem Glauben, man würde mit der Wahl einer solchen Partei keinen Schaden anrichten, und andere (etablierte) Parteien würden wenigstens das Zeichen verstehen und darauf reagieren. Darüber hinaus hat die Partei in den Augen der Wähler das typische Profil einer Protestpartei, von der man zwar keine Problemlösung erwartet, die aber die „Dinge wenigstens beim Namen“2 nennt. Enttäuschung über andere Parteien und diffuse Unzufriedenheiten bilden weitere Wahlmotive. Bei den AfD-Anhängern ist die Skepsis gegenüber Europa besonders ausgeprägt; das gilt zudem für negative Haltungen gegenüber Ausländern, Flüchtlingen und Muslimen.

Die AfD hat das Wählerprofil einer typischen Protestpartei, wie es sie seit den 1990er-Jahren in vielfachen Variationen gegeben hat. Die Wahlerfolge der AfD basieren nicht auf einer spezifischen Mobilisierung eines Wählermilieus, sondern resultieren aus dem erfolgreichen Sammeln diffusen Protestes aus dem gesamten parteipolitischen Spektrum. Die Analogie zu den Erfolgen anderer Protestparteien ist sicher nicht zufällig. Dies könnte man durchaus so interpretieren, dass politischer Protest keine Heimat hat.

 

Mit dem „gesunden Menschenverstand“ gegen Freiheitsrechte

Zweifellos sind die politischen Positionen der AfD für die Wähler von nachgeordneter Bedeutung. Es lohnt jedoch, das politische Denken der AfD noch etwas genauer zu untersuchen.

Seit dem 1. Mai 2016 hat die AfD ein Grundsatzprogramm. Neben einer Vielzahl von „Antis“, Kritik an „denen da oben“, will sie konsequent „zurück in die Vergangenheit“ gehen. Die AfD sieht sich als die Partei des „gesunden Menschenverstandes“.

Dieser lässt sie unter anderem schließen, der Klimawandel sei nicht vorhanden. Dies mag man noch für eine mehr oder minder possierliche Aussage halten. Hier soll jetzt keine umfassende Programmanalyse vorgenommen, sondern nur auf einen Teil hingewiesen werden, der aus verfassungsrechtlicher Perspektive bedenklich erscheint. Freiheitsrechten, wie Forschungs-, Glaubens-, Religions- und Pressefreiheit, steht die Partei ablehnend gegenüber. Sie formuliert im Programm zwar auch, dass sie diese Freiheiten gewähren würde, gleichermaßen votiert sie für eine willkürliche Einschränkung dieser Freiheitsrechte, welche in der Konsequenz zu ihrer völligen Aushöhlung führen würde. So schreibt die AfD beispielsweise in ihrem Grundsatzprogramm: „Die Freiheit von Forschung und Lehre sind unabdingbare Grundvoraussetzungen für wissenschaftlichen Fortschritt.“ „Gender-Forschung“ würde jedoch nicht den Anspruch „seriöser“ Forschung erfüllen und solle demnach abgeschafft werden. Hier stellt sich die Frage nach der Instanz, die über dieses Kriterium der „Seriosität“ entscheiden sollte: Mit ihrer Einsetzung würden die Grundlagen freier Forschung unmittelbar zerstört und der Wesensgehalt des Grundrechtes würde in sein Gegenteil verkehrt.

Auch wenn unübersehbar ist, dass die AfD Einschränkungen von Grundrechten nicht grundsätzlich widerspricht, übt sie harsche Kritik an der Demokratie, den Parteien, den Eliten, der Kultur und den Medien. Aus dieser Kritik bezieht sie ihre Legitimation. In diesem Sinne ist sie eine klassische

„Anti-Parteien-Partei“. Kulturpessimismus ist ein weiteres Bindeglied der Partei. Das Frauenbild ist maximal vormodern, „Individualismus“ ein Schimpfwort. Ein- und Zuwanderung werden als Bedrohung empfunden. Allem Fremden und Andersartigen, was nicht als typisch deutsch empfunden wird, steht die AfD misstrauisch gegenüber. Verfemt ist alles, was sie mit den „68ern“ in Verbindung bringt. Der Parteivorsitzende (bei der AfD Sprecher genannt) Jörg Meuthen wählte in seiner Parteitagsrede die Adjektive „versifft“ und „verseucht“.

Fraglich ist, welche Tragfähigkeit das Programm hat. Derzeit wird die Partei von Erfolgen geeint, doch schon auf dem Parteitag war sichtbar, dass viele Beschlüsse eher knapp gefasst wurden. Dies deutet auf ein weiteres erhebliches Konfliktpotenzial innerhalb der Partei hin, das jederzeit aufbrechen kann.

 

Viola Neu, geboren 1964 in Ludwigshafen (Rhein), Leiterin des Teams Empirische Sozialforschung, Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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1 Die NPD erhielt bei der Bundestagswahl 1969 4,3 Prozent.

2 Infratest dimap.

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