Frankreich hat den Ruf, nicht reformierbar zu sein. Seine Streiks, Protestaktionen und selbst körperliche Angriffe auf Manager sind legendär. Schon mit Veränderungen am Sozial- und Arbeitsrecht, die weit hinter der Agenda 2010 von Gerhard Schröder zurückblieben, hat Präsident François Hollande 2016 lange und teils heftige Streiks und Blockaden ausgelöst. Trotzdem tritt der konservative Kandidat François Fillon nun mit einem Programm an, das er selbst „radikal“ nennt und das deutlich über alle Ansätze zu Veränderungen hinausgeht, die es in den vergangenen Jahren gegeben hat. Kann er damit Erfolg haben?
Auch wenn Klischees trügerisch sind: Es ist unbestreitbar, dass unser Nachbarland spät dran ist bei der Anpassung der sozialen Demokratie an die Veränderungen in Arbeitswelt und Gesellschaft, die von Technik und Globalisierung ausgehen. Der umverteilende Staat hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht neu ausgerichtet, sondern immer stärker aufgebläht. Für Bildung, Gesundheit, Rente, Familienpolitik gibt Frankreich wesentlich mehr aus als seine Partnerländer in der Europäischen Union (EU). Doch die Ergebnisse sind häufig bestenfalls durchschnittlich.
Das Bildungssystem Frankreichs ist im internationalen Vergleich zurückgefallen; das belegen schlechte Resultate bei den PISA-Tests und hohe Schulabbrecherquoten. Jedes Jahr verlassen offiziell mindestens 80.000 junge Franzosen – andere Statistiken sprechen von deutlich höheren Zahlen – das Schulsystem ohne Abschluss. Sie werden wahrscheinlich nie eine zufriedenstellende Beschäftigung finden.
Ihr Gesundheitswesen halten viele Franzosen für weltweit vorbildlich. Doch wer an die Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland gewöhnt ist, kommt aus dem Staunen nicht heraus. In Frankreich deckt die – defizitäre – staatliche Kasse nur einen Teil der Kosten ab. Jeder Versicherte braucht eine zusätzliche Versicherung. Deren Leistungen sind sehr unterschiedlich, je nachdem, welchen Beitrag sich der Versicherte leisten kann beziehungsweise sein Arbeitgeber zuschießt. Ärmere Franzosen gehen deshalb manchmal erst gar nicht zum Arzt.
Absurde Beschäftigungsprogramme
Arbeitslosen zahlt die französische Arbeitslosenkasse die vielleicht weltweit höchsten und längsten Leistungen. Doch bei der Vermittlung von Menschen, die ihre Stelle verloren haben, in ein neues Beschäftigungsverhältnis versagt die Agentur „Pôle emploi“. Es gibt auch keine vernünftige Umschulung oder Weiterbildung. Arbeitslose werden in absurde Programme gesteckt, die für Beschäftigungen qualifizieren, die es teilweise seit Jahren nicht mehr gibt.
Kurz nach der Überwindung der Krise von 2008/09 hat die Arbeitslosenquote in fast allen EU-Ländern abgenommen. Frankreich bildet die Ausnahme. Bis Ende des vergangenen Jahres stieg die Erwerbslosigkeit an und hat damit das politische Schicksal von François Hollande besiegelt. Erst seit Anfang des Jahres ist ein Rückgang zu erkennen – zu spät für den Präsidenten. Ungenügende Margen der Unternehmen durch hohe Steuer- und Abgabenbelastung haben Frankreich seit Jahren Marktanteile und in der Folge Arbeitsplätze verlieren lassen. Die Linke hat Anfang der 2000er-Jahre versucht, mit der 35-Stunden-Woche dagegenzuhalten. Die Umverteilung des knapper gewordenen Arbeitsvolumens sollte die Arbeitslosigkeit im Zaum halten, bewirkte aber das Gegenteil. Die Konservativen trauten sich unter Nicolas Sarkozy nicht, die gesetzliche Arbeitszeit anzupassen. Hollande wagte das erst recht nicht, weil die 35-Stunden-Woche zu einer Art Heiligem Gral der Sozialisten geworden war.
Schlupflöcher bei der Arbeitszeit
Allerdings ließ Hollande eine Reihe von Schlupflöchern bei der Arbeitszeit zu und erweiterte die Spielräume. Mit dem sogenannten Macron-Gesetz (nach dem früheren Wirtschaftsminister Emmanuel Macron, der jetzt selbst für die Präsidentschaftswahl kandidiert) wurde die Sonntagsarbeit erleichtert, womit Macron und Hollande sich den unversöhnlichen Hass der linken Gewerkschaften zugezogen haben. Das neue Arbeitsgesetz, gegen das wochenlang gestreikt wurde und das sogar zu Blockaden von Treibstoffdepots führte, hat die Festlegung der Arbeitszeit in die Verantwortung der Betriebe verlagert. Die 35-Stunden-Woche ist eine gesetzliche Referenz, doch de facto kann länger gearbeitet werden. Den Ausschlag geben nicht mehr die Gewerkschaften, sondern die Beschäftigten, zur Not per Abstimmung im Unternehmen.
Bekannt geworden ist der Fall des Smart-Werkes in Lothringen: Dort wurde vereinbart, die wöchentliche Arbeitszeit auf 39 Stunden anzuheben, die entsprechend einer 37-Stunden-Woche bezahlt wird. Veränderungen sind also möglich. Das zeigen auch die weitaus umfangreicheren Verträge zur Standortsicherung, die Peugeot-Citroën und Renault abgeschlossen haben. Sie trugen zur Senkung der Produktionskosten bei und führten zusätzlich zu höherer Auslastung und verstärkter Beschäftigungssicherheit.
Wenn das in einzelnen Unternehmen funktioniert, warum dann nicht in der ganzen Gesellschaft? Dafür gibt es viele Gründe. Die wichtigste Ursache ist wohl das Fehlen einer Tradition von sozialem Dialog und Kompromissen. Radikale Gewerkschaften, aber auch ein großer Teil der Arbeitgeber haben es vorgezogen, auf extremen Positionen zu beharren, statt aufeinander zuzugehen. Der eigenen Klientel konnte man dadurch suggerieren, man bleibe aufrecht und verrate die Interessen der Mitglieder nicht. Beide Seiten verfolgen eine Politik, die eher auf den Schutz der „Insider“ ausgerichtet ist als darauf, auch „Outsidern“ eine Chance zu geben. Die Löhne und vertraglichen Bedingungen der Festangestellten sollen geschützt werden. Dafür wird die Zweiteilung des Arbeitsmarktes in Kauf genommen.
Fürstliche Lohnerhöhungen
Unternehmen erkauften sich die Ruhe im eigenen Betrieb mit teils fürstlichen Lohnerhöhungen. Diejenigen Angestellten, die dann entlassen werden, weil sie die für hohe Löhne nötige Produktivität nicht leisten, interessieren nur wenig: Um sie soll sich die staatliche Sozialpolitik kümmern. Verhandlungen zwischen „Patrons“ und Gewerkschaften sind oft eine Farce. Man verhandelt zum Schein – in der Erwartung, dass der Staat entweder eine Regelung per Gesetz vornimmt oder mit Leistungen einspringt. So konnten sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht auf eine Reform der Arbeitslosenversicherung einigen. Beide Seiten nehmen lieber ein weiteres Defizit hin, das der Staat ausgleichen soll, als sich von ihren starren Positionen zu lösen. Man hat sich an Verträge zulasten Dritter gewöhnt.
Man muss Hollande zugutehalten, dass er versucht hat, den sozialen Dialog zu beleben. In mehreren Gesetzen hat er dafür Spielräume geschaffen. Ein Teil der Gewerkschaften, vor allem die den Sozialisten nahestehende CFDT (Confédération française démocratique du travail, Französischer Demokratischer Gewerkschaftsbund), setzt inzwischen auf Kooperation. Sie liegt damit interessanterweise im Trend: Bei allen vergangenen Sozialwahlen hat sie dazugewonnen, meist zulasten der weit links angesiedelten CGT (Confédération générale du travail, Allgemeiner Gewerkschaftsbund), die früher eng mit der kommunistischen Partei verbunden war. Ohne die CFDT wäre das neue Arbeitsgesetz am Widerstand der Straße gescheitert. Dennoch bleibt es häufig bei einer Kultur des Misstrauens.
Konfrontation statt Kompromiss
Es gibt in Frankreich wenige breite gesellschaftliche Debatten. Die Zivilgesellschaft hat wenig Einfluss. Der Staat ist omnipräsent, Entscheidungen und Anstöße kommen fast immer von oben. Man erwartet sehr viel vom Staat, reagiert aber auch schnell mit Liebesentzug, wenn der Eindruck aufkommt, man ziehe den Kürzeren. Jeder Präsident sondiert permanent die Stimmungslage. Unmassen von Geld werden für Demoskopie ausgegeben, immer in der Angst, das von oben regierte Volk könnte aufmüpfig werden.
Dabei ist der Kreis derjenigen, auf die Rücksicht genommen wird, eher eng. Die Vororte (Banlieues) und die ärmeren Viertel von Großstädten sind abgehängt. Was dort geschieht, findet nur Aufmerksamkeit, wenn es zu offenen Rebellionen kommt. Große Teile der französischen Gesellschaft haben sich nun die bequeme Erklärung zurechtgelegt, die Fehlentwicklungen lägen an muslimischen Parallelgesellschaften. Dabei sind diese die Folge und nicht Ursache des Problems.
Die französische Politik schafft ein Klima, das Konfrontation statt Kompromiss begünstigt. Wer sich in Frankreich als Vertreter der Mitte bezeichnet, wird als Außenseiter und politisch chancenlos verlacht. Die Konservativen bezeichnen sich nicht als gemäßigte oder bürgerliche Mitte, sie nennen sich „rechts“. Und Sozialdemokraten wählen für sich das Etikett „links“. Das Präsidialsystem und das Mehrheitswahlrecht stärken die Fiktion, dass sich in der modernen französischen Gesellschaft wie zur Zeit der Revolution noch immer zwei Lager gegenüberstehen. Sehr viele Bürger sind dieses Maskenspiels überdrüssig, doch sie haben keinen Einfluss auf die handelnden Eliten.
Ein weiterer Grund für mangelnde Reformbereitschaft ist die französische Tradition, Ruhe mit sozialen Wohltaten zu erkaufen. Die Zahl der Sozialleistungen ist unüberschaubar geworden. Auch Bürger mit ordentlichem Einkommen oder ihre Kinder erhalten Zuschüsse für Miete oder Schulmaterial. In Paris, wo das Mietpreisniveau ungefähr dreimal so hoch ist wie in Berlin, verfügt der Staat über Tausende von Wohnungen, die nach völlig intransparenten Verfahren vergeben werden.
Viele haben sich in ihrem eigenen Biotop eingerichtet. Das ist gekoppelt mit der Befürchtung, zwangsläufig zu den Verlierern zu gehören, wenn auch nur ein Teil des Sozialsystems neu geordnet, vereinfacht oder gestrafft wird. Da Steuern und vor allem Sozialabgaben hoch sind, klammert man sich an jede bestehende Ausnahme oder Subvention. Ein Beispiel ist das Arbeitslosengeld für Mitarbeiter von Theatern und anderen Kultureinrichtungen, das oft kritisiert wird. Im Laufe der Jahre hat sich eingebürgert, dass diese Beschäftigten nur kurzfristige Verträge erhalten und den Rest des Jahres von der Arbeitslosenkasse über Wasser gehalten werden.
Ein anderes Beispiel sind die vom Rechnungshof mehrfach kritisierten Beihilfen für Film- und Fernsehproduktionen. Offiziell mit der Förderung der französischen Kultur begründet, führen sie zu einer Massenproduktion drittklassiger Filme, die fast kein Publikum finden, wenn sie überhaupt je in einem Kino gezeigt werden. Produzenten und bestimmte Schauspieler finden aber dadurch ein stattliches Auskommen.
Elektrisierendes Wahlprogramm
Fillon hat den Kern der konservativen Wählerschaft mit seinem Programm elektrisiert. 39 statt 35 Stunden arbeiten lassen, das Renteneintrittsalter heraufsetzen, Leistungen der staatlichen Krankenversicherung kürzen, die Vermögensteuer abschaffen, die Mehrwertsteuer erhöhen: Das hat es ihm ermöglicht, sich von dem als „Gesundheitstee“ verspotteten Programm Alain Juppés abzuheben und seinen Konkurrenten zu schlagen. Doch ist die Forderung nach Reformen eine Sache, die Bereitschaft, sie zu ertragen, aber eine ganz andere.
1995 scheiterte Juppé mit einer tief greifenden Rentenreform. Sarkozys gemäßigtere Variante kam erst gut zehn Jahre später durch. Alle Ansätze zu echten Umorientierungen bei den staatlichen Ausgaben oder zu einer kompletten Arbeitsmarktreform sind dagegen, soweit es sie überhaupt gab, sowohl von den Konservativen als auch von den Linken nach den ersten Protesten schnell wieder zurückgenommen worden.
Widerstände in der Gesellschaft existieren auch deshalb, weil der politische Diskurs hohl geworden ist. Denn es wird permanent über Reformen gesprochen. Allein Präsident Hollande hat mehrere große externe Berichte über wirtschaftliche und soziale Reformen in Auftrag gegeben, die teils breit diskutiert wurden. Am Steuer. und Sozialsystem wird ständig herumgeschraubt. Und in der Arbeitswelt erleben die Beschäftigten hautnah den Druck der internationalen Konkurrenz. Tief greifende politische Reformen werden entweder nicht verstanden oder als Kapitulation vor der Globalisierung und zusätzliche Verunsicherung in einer Lage gefürchtet, die ohnehin von fehlenden Gewissheiten geprägt ist. Viele, die sich dadurch in die Enge getrieben fühlen, wählen aus Protest den Front National.
Ein anderes Frankreich
Neben das nur begrenzt reformierbare Frankreich, das sich zum Abstieg verdammt fühlt, tritt inzwischen ein anderes. Es ist sich der Probleme des Landes bewusst, denkt aber gleichzeitig optimistischer, ist international und veränderungsbereit. Dafür stehen die unzähligen Start-ups und auch die großen erfolgreichen Unternehmensgruppen. Ein Umdenken scheint begonnen zu haben: Demoskopen stellen fest, dass die Mehrheit der jungen Franzosen heute lieber Unternehmer werden würde anstatt Beamter, was vor einigen Jahren noch die Traumkarriere war.
Die Kandidatur des Parteilosen Emmanuel Macron und der Sieg von Expremier François Fillon bei der Vorwahl der Konservativen sind eine Folge davon. Beide stehen allerdings für sehr unterschiedliche Herangehensweisen: Fillon will in wenigen Monaten alle Veränderungen von oben anordnen, getreu der jakobinischen Tradition des Landes. Macron dagegen will soziale und wirtschaftliche Reformen mit einer Anpassung des politischen Systems an das Zeitalter der flachen Hierarchien und der Bürgerbeteiligung verbinden. Fillon hatte allen Umfragen zufolge lange die besseren Chancen. Angesichts interner Querelen um sein Programm und eines Skandals um die angeblich fiktive Beschäftigung seiner Frau sinken seit Ende Januar seine Werte, während die von Macron zulegen. Frankreichs klassische Parteien erodieren: Der Ausgang der Wahl ist vollkommen offen.
Thomas Hanke, geboren 1954 in Wuppertal, seit Januar 2012 Korrespondent und Kommentator des „Handelsblatts“ in Paris.