Betrachtet man die Entwicklung des allgemeinbildenden Schulsystems in der Bundesrepublik Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, so weist diese Entwicklung eine Vielzahl von epochalen Strukturreformen auf, aus denen neue Schulformen beziehungsweise Bildungsgänge hervorgingen, die dann teilweise wieder verschwanden oder unter neuem Label erneut auftauchten. Für die alten Bundesländer gehörten sicherlich die Einführung und später der Ausbau der Integrierten Gesamtschulen zu den wichtigsten Strukturreformen, für die neuen Länder war es ohne Frage nach der Wiedervereinigung der Wechsel von einem Einheitsschulsystem zu einem differenzierten Schulsystem, der je nach Land sehr unterschiedlich ausfiel. Spätestens seit den alarmierenden Befunden der PISA-2000-Studie (Deutsches PISAKonsortium, 2001) ist ein neuer Strukturreformprozess begonnen worden, der sich durch alle sechzehn Länder zieht und im allgemeinbildenden Schulsystem auf ein sogenanntes Zweisäulen-Modell setzt, das in der Sekundarstufe I neben das Gymnasium einen zweiten Typus stellt, in dem Schülerinnen und Schüler primär auf die berufliche Erstausbildung vorbereitet werden sollen, allerdings für die leistungsstarken Schülerinnen und Schüler auch der Übertritt in die gymnasiale Oberstufe ermöglicht wird.
Sucht man in Anbetracht dieser vielen strukturellen Veränderungen im System nach Konstanten, so wird man schnell auf das Gymnasium treffen, das in seinen Zielen und bildungstheoretischen Ansprüchen mehr oder weniger unverändert geblieben ist. Diese Konstanz in der Programmatik ist zumindest beim Gymnasium verblüffend, hat es sich doch seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges von einer Eliteanstalt zu einer Massenveranstaltung gewandelt. Betrug der Anteil der Vierzehnjährigen, die ein Gymnasium besuchten, im Jahr 1960 lediglich vierzehn Prozent, so stieg er bis auf 29 Prozent im Jahre 1991 an und liegt mittlerweile (Schuljahr 2010/2011; Quelle: Fachserie 11 des Bundesamtes für Statistik) bei über einem Drittel einer Alterskohorte. In Großstädten – auch in Süddeutschland – liegen die Übertrittsquoten nach der Grundschule auf das Gymnasium bei über fünfzig Prozent. Die gymnasiale Trias aus vertiefter Allgemeinbildung, Wissenschaftspropädeutik und Studierfähigkeit ist trotz dieser enormen Expansion nie aufgegeben worden, gleichzeitig argumentieren gymnasiale Apologeten, dass die Expansion des Gymnasiums erhebliche Kosten aufseiten der curricularen Anforderungen gehabt und letztendlich zu einem Absinken der Schülerleistungen geführt hat. In der Regel fehlt allerdings in dieser Diskussion eine entsprechende empirische Grundlage.
Haben sich tatsächlich empirisch nachweisbare Kosten der Expansion ergeben? Welche Leistungen erreichen Schülerinnen und Schüler heute an Gymnasien?
Die „Kosten“ der Bildungsexpansion
Die Beantwortung dieser Fragen ist keineswegs trivial, da keine systematischen Erhebungen vorliegen, welche die Schülerleistungen am Gymnasium im Trend nachzeichnen können. Dennoch kann man sich Antworten annähern, indem man berücksichtigt, dass regional sehr unterschiedliche Expansionsraten des Gymnasiums beobachtbar sind, und so die Leistungen von Gymnasiastinnen und Gymnasiasten aus Regionen mit starker Expansion mit solchen aus Regionen mit geringer Expansion verglichen werden können. Grenzen dieser Analysen bestehen darin, dass die Expansionsrate mit vielen anderen Faktoren konfundiert ist – beispielsweise siedeln sich in Regionen mit einem stark expandierten Gymnasium auch vermehrt sozial und kulturell privilegierte Familien an. Nimmt man diese methodischen Grenzen in Kauf, so lassen sich Bundesländer hinsichtlich ihrer Expansionsraten und Schülerleistungen vergleichen. In der nachfolgenden Abbildung ist das auf der Basis der Ergebnisse des ersten in Deutschland durchgeführten Ländervergleichs zur Überprüfung der Erreichung der Bildungsstandards für das Ende der Sekundarstufe I geschehen (vergleiche Köller / Knigge/Tesch, 2010). Berücksichtigt ist dabei das Leseverstehen im Fach Englisch an allgemeinbildenden Gymnasien. Auf der x-Achse ist der prozentuale Anteil der Neuntklässler, die in den jeweiligen Bundesländern ein Gymnasium besuchen, auf der y-Achse der Mittelwert der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten in der neunten Jahrgangsstufe abgetragen. Erkennbar ist, dass in der Tat stark expandierte Länder geringere mittlere Leistungen aufweisen. Dies schlägt sich in der negativen Korrelation zwischen Expansionsrate und Leistung von r = -.73 nieder. Es zeigen sich aber auch bemerkenswerte Ausnahmen: Schülerinnen und Schüler aus dem wenig expandierten Schleswig-Holstein (knapp dreißig Prozent) erreichen vergleichbare Leistungen wie Schülerinnen und Schüler der Stadt Hamburg, deren Gymnasialbeteiligung über vierzig Prozent liegt.
Neben den methodischen Problemen des Vergleichs kann auch die Frage gestellt werden, ob Leistungsmittelwerte die richtigen Indikatoren zur Abschätzung der Folgen der Expansion für die Leistungen sind. Die interessantere Frage ist zweifelsohne, ob die Leistungsspitze am Gymnasium dadurch beeinträchtigt wird, dass mehr schwächere Schülerinnen und Schüler es besuchen. Werden also die besonders leistungsstarken Schülerinnen und Schüler durch die schwächeren gebremst?
Zu dieser Frage kann man die Leistungen der besten zehn Prozent der Schülerinnen und Schüler in den Bundesländern, wiederum in Abhängigkeit von der Gymnasialbeteiligung der Neuntklässler, berechnen. Die Korrelation zwischen Expansionsrate und erreichtem Kompetenzstand sinkt dann auf r = -.74. Man hat demnach keine starke Evidenz dafür, dass die Leistungsspitze infolge eines stärker expandierten Gymnasiums deutliche Einbußen erleidet. Weiterhin sprechen die Befunde dafür, dass die curricularen Anforderungen des Gymnasiums von erheblichen Teilen einer Geburtskohorte erfüllt werden können, die Öffnung demnach ein wichtiger Modernisierungsschritt war, der helfen konnte und kann, Begabungsreserven der Kinder beziehungsweise Jugendlichen besser auszuschöpfen.
Leistungsstand an Gymnasien
Während sich die Frage nach den Folgen der Bildungsexpansion empirisch nur unbefriedigend beantworten lässt, haben die Schulleistungsstudien der letzten fünfzehn Jahre eine Fülle an Informationen über die Leistungen deutscher Schülerinnen und Schüler an Gymnasien zur Verfügung gestellt. Berücksichtigte Fächer sind dabei Deutsch (als Verkehrssprache), Englisch (als erste Fremdsprache), Mathematik und die Naturwissenschaften. Insgesamt zeigen alle Studien, dass Jugendliche, die am Ende der Sekundarstufe I ein Gymnasium besuchen, im Vergleich zu Jugendlichen an allen anderen Schulformen deutlich höhere Leistungsstände aufweisen (zum Beispiel Klieme et al., 2010; Köller/Knigge/Tesch, 2010). Analysen im Rahmen von PISA 2009 belegen beispielsweise für Fünfzehnjährige im Fach Mathematik, dass der Leistungsvorsprung des Gymnasiums gegenüber der Realschule einem Wissenszuwachs entspricht, wie er typischerweise in zwei bis drei Schuljahren erreicht wird.
Neben diesen Vergleichen zwischen Schulformen erlauben die internationalen und nationalen Schulleistungsstudien aber auch, die Leistungen der Schülerinnen und Schüler am Ende der Sekundarstufe I kriterial mit Blick auf die Lernziele der Sekundarstufe I zu verorten. Dazu werden die sogenannten Kompetenzstufenmodelle genutzt, die für unterschiedliche Bereiche auf den Leistungsskalen beschreiben, welche kognitiven Operationen Schülerinnen und Schüler auf diesen Stufen durchführen können. Bei der PISA-Studie werden üblicherweise sechs solcher Kompetenzstufen unterschieden, die Ländervergleiche des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) unterscheiden fünf Kompetenzstufen. Gemeinsam ist den nationalen und internationalen Kompetenzstufenmodellen, dass mit Erreichen der Stufe III oder höheren Stufen Schülerinnen und Schüler ausweisen, dass sie die Lernziele der Sekundarstufe I, die einen Übertritt in eine qualifizierte berufliche Erstausbildung oder die gymnasiale Oberstufe erlauben, erreicht haben. Die Stufe III wird im Falle von PISA als Erreichung eines Grundbildungsstandards interpretiert, bei den nationalen Ländervergleichen bedeutet die Erreichung der Stufe III, dass die Ziele der Kultusministerkonferenz für den mittleren Schulabschluss erreicht wurden, die Stufen IV und V weisen aus, dass diese Ziele übertroffen wurden. Stufe II weist aus, dass wenigstens Mindeststandards erreicht wurden.
Die folgende Tabelle führt für das Fach Mathematik nach Schulform auf, wie sich fünfzehnjährige Schülerinnen und Schüler der deutschen PISA-Stichprobe von 2009 auf die Kompetenzstufen verteilen. Konzentriert man die Betrachtungen auf das Gymnasium, so verfehlen lediglich fünf Prozent jegliche Zielvorgaben im Fach Mathematik für die Sekundarstufe I. Bei einer durchschnittlichen Klassenstärke von 25 Jugendlichen legen die Zahlen nahe, dass es letztendlich nur ein bis zwei Schülerinnen/Schüler pro Klasse sind, die jegliche Standards unterschreiten.
Verteilung der Schülerinnen und Schüler in PISA 2009 auf die Kompetenzstufen im Fach Mathematik
Schulform | Unter Stufe III | Stufe III (Grundbildungsstandard) |
Über Stufe III |
Hauptschule | 77,0 | 18,1 | 4,2 |
Integrierte Gesamtschule | 50,6 | 29,3 | 20,0 |
Realschule | 34,1 | 32,4 | 33,4 |
Gymnasium | 5,2 | 17,3 | 77,6 |
Differenzierung nach Schulformen; Zahlenangaben beschreiben prozentuale Anteile Quelle: Klieme et al., 2010.
Nachfolgende Tabelle listet Befunde aus dem Ländervergleich des IQB im Fach Englisch (Hörverstehen) auf. Getestet wurden hier Neuntklässler in alten und neuen Bundesländern.
Neben den erheblichen Unterschieden zwischen alten und neuen Bundesländern fallen die großen Leistungsunterschiede zugunsten der Schülerinnen und Schüler aus Gymnasien auf. Leistungen, die unter einen Mindeststandard fallen, treten hier quasi nicht auf. Die geringeren Leistungen in den neuen Ländern sind dem Umstand geschuldet, dass bis zur Wiedervereinigung der Schwerpunkt des Fremdsprachenunterrichts auf Russisch lag und bis heute viele Lehrkräfte Englisch unterrichten, ohne das Fach studiert zu haben.
Verteilung im Ländervergleich 2009 auf die Kompetenzstufen im Fach Englisch (Hörverstehen)
Unter Mindeststandard | Mindeststandard | Regelstandard | Über Regelstandard | ||
Alte Länder |
sonstige Schulformen | 14,3 | 62,7 | 17,9 | 5,1 |
Gymnasium | 0,7 | 24,7 | 37,1 | 37,5 | |
Neue Länder |
sonstige Schulformen |
42,7 | 51,7 | 5,0 | 0,7 |
Gymnasium | 3,0 | 47,7 | 33,8 | 15,4 |
Prozentuale Anteile Schülerinnen und Schüler. Quelle: Köller / Knigge / Tesch, 2010
Bildungsexpansion: weniger Schaden für die Leistungserträge
Das Gymnasium ist die Schulform in Deutschland, die trotz Bildungsexpansion nie den Anspruch aufgegeben hat, ihre Schülerschaft systematisch auf das Studium vorzubereiten. Mit diesem Anspruch hat das Gymnasium alle Strukturreformen seit Ende des Zweiten Weltkrieges offenbar schadlos überstanden und kann als die Konstante im deutschen Bildungssystem verstanden werden. Bei aller Konstanz hat es sich dennoch modernisiert. Ausdruck dafür sind beispielsweise die Schwerpunktsetzungen durch Profiloberstufen oder Oberstufen, welche die Wahl von Grund- und Leistungskursen zulassen. Das Angebot der Fremdsprachen hat sich erweitert, und die Verkürzung der Schulzeit hat zu einer Verdichtung der Unterrichtsinhalte geführt, deren Konsequenzen bislang empirisch unzureichend untersucht sind. Hier sollte gefragt werden, ob sich die Bildungsexpansion auf die Leistungsfähigkeit des Gymnasiums ausgewirkt hat. Die Befunde, die aus den Schulleistungsuntersuchungen gewonnen werden konnten, sprechen keine eindeutige Sprache, deuten aber darauf hin, dass die Öffnung des Gymnasiums den Leistungserträgen weit weniger geschadet haben dürfte, als das mancherorts kolportiert wird.
Olaf Köller, geboren 1963 in Kellinghusen, Geschäftsführender Direktor des IPN – Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik, Kiel.
Literatur
Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen 2001.
Klieme, Eckhard/ Artelt, Cordula/ Hartig, Johannes/ Jude, Nina/ Köller, Olaf/ Prenzel, Manfred/ Schneider, Wolfgang/Stanat, Petra (Hrsg.): PISA 2009. Bilanz nach einem Jahrzehnt, Münster 2010.
Köller, Olaf/ Knigge, Michel/ Tesch, Bernd (Hrsg.): Sprachliche Kompetenzen im Ländervergleich, Münster 2010.