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Die neue Verletzlichkeit

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Vulnerabilität ist mehr als ein Modewort. Sie beschreibt nicht bloß immer mehr gesellschaftliche Gruppen in unterschiedlichen Lebensbereichen – beginnend mit der Pandemie und den vom Coronavirus gesundheitlich besonders Gefährdeten über sozial Marginalisierte bis hin zu Menschen, die bestimmte Berufe ausüben, oder gar nicht menschliche Entitäten wie die kritische Infrastruktur, arme Länder et cetera. Eine Konjunktur von Begrifflichkeiten lässt sich immer wieder beobachten; im Zusammenhang mit der Vulnerabilität erweist sie sich jedoch ebenso aus ethischer wie rechtlicher Perspektive als besonders bedeutsam. Denn allzu oft dient die Kennzeichnung von Personen oder Gruppen hier nicht lediglich der Beschreibung. Vielmehr tritt die Zuschreibung von Vulnerabilität mit einem normativen Anspruch auf – mit der mehr oder weniger offen kommunizierten Forderung, dass sich infolge der besonderen Verletzlichkeit der Beschriebenen etwas am Recht ändern solle. Vulnerabilität wird damit zur Herausforderung der Freiheit – immer mehr Verletzlichkeit führt dazu, dass die Landkarte individueller Freiheiten neu vermessen wird und am Ende für den Einzelnen weniger bleibt als zuvor. Das muss nicht falsch sein – doch sollte die Gesellschaft darüber ins Gespräch kommen.

Jeder Mensch ist verletzlich. Seien es Alter und Krankheit, eine Fluchterfahrung oder Armut – Verletzlichkeit kann sich aus ganz unterschiedlichen Gründen ergeben, und jeden Einzelnen trifft sie im Verlauf seines Lebens in der einen oder anderen Weise. Vor diesem Hintergrund ist Verletzlichkeit auch kein neues Phänomen, im Gegenteil: Sie ist aus dem menschlichen Leben und dem gesellschaftlichen Miteinander nicht wegzudenken. Was indes neu ist, ist die Art und Weise, wie unsere Gesellschaft mit Verletzlichkeit umgeht.

Zum einen ist die Entwicklung zu beobachten, dass sich Verletzlichkeit in immer mehr Lebensbereichen und im Hinblick auf immer mehr Menschen offenbart. Wir sind sensibler geworden, womit gemeint ist, dass die Antennen, die wir für uns selbst und unser Gegenüber haben, geschärfter sind als in früheren Zeiten. Das zeigt sich an einem erhöhten Risikobewusstsein und einer erhöhten Risikoaversion vieler Gesellschaftsmitglieder. Phänomene, die noch vor einigen Jahren nicht als relevantes Risiko eingestuft wurden, erfahren mittlerweile durch weite Teile der Bevölkerung ebenjene Einstufung. Dadurch kann der Eindruck entstehen, es gäbe tatsächlich mehr Risiken. Dies stimmt allerdings lediglich für einen kleinen Teilbereich von Risiken, und zwar jene, die tatsächlich auf einer neuartigen Entwicklung beruhen – zum Beispiel auf den technischen Fortschritten im Bereich der Künstlichen Intelligenz oder der Zunahme der Folgen des globalen Klimawandels. Viele Risiken sind allerdings solche, die altbekannt sind, aber mittlerweile anders, und zwar gewichtiger, eingestuft werden. So wird zum Risiko, was bislang keines war. Und was bereits Risiko war, erhält mitunter eine geänderte, nämlich höhere Bedeutung als zuvor.

 

Der abnehmende Wert der Selbstverantwortung

Um einige Beispiele zu nennen: Sich mit den Masern anzustecken, ist ein Risiko, um das die Gesellschaft lange weiß und das sich nicht relevant erhöht hat. Gleichwohl wird es mittlerweile anders eingestuft, was selbst in den Augen des Bundesverfassungsgerichts eine Masernimpfpflicht in Kindertagesstätten rechtfertigt. Oder: Das Hinterherpfeifen auf der Straße oder Zurufen anzüglicher „Komplimente“ sind lang bekannte, durchaus lästige Alltagserscheinungen. Neu ist, dass derartige Verhaltensweisen mittlerweile von vielen als so schwerwiegend erachtet werden, dass nach ihrer staatlichen Regulierung – mindestens als Ordnungswidrigkeitentatbestand – gerufen wird. Die Liste ließe sich verlängern.

Aus juristischer Perspektive sind diese Veränderungen von Bedeutung. Denn sie haben vermehrtes staatliches Handeln im Bereich der Regulierung zur Folge. So führt eine Entwicklung hin zu immer mehr gesellschaftlicher und individueller Vulnerabilität über kurz oder lang zu mehr Gesetzen. Aber muss es überhaupt so sein? Die Antwort lautet klar: Nein. Es wäre auch denkbar, dass eine Gesellschaft zwar ein geschärftes Risikobewusstsein und eine erhöhte Sensibilität im Umgang miteinander entwickelt, nicht aber in der Reaktion hierauf unmittelbar nach dem Staat ruft.

Anderes gilt für eine vulnerable Gesellschaft. Hier besteht ein dichter Zusammenhang zwischen der Zuschreibung von immer mehr Verletzlichkeit und staatlicher Regulierung. Der Grund dafür liegt darin, dass die Mitglieder einer vulnerablen Gesellschaft geneigt sind, der Selbstverantwortung einen nachrangigen Stellenwert einzuräumen. Wer sich selbst und andere als besonders verletzlich begreift, tendiert dazu, sich als nicht hinreichend kompetent im Umgang mit Risiken zu betrachten und infolgedessen nach Unterstützung durch einen als stärker wahrgenommenen Dritten – den Staat – zu rufen. Diese Einschätzung mag auf guten Gründen fußen, die zum Beispiel mit der Art des Risikos zusammenhängen, das wir betrachten. Wie sollte etwa ein Einzelner all die Risiken selbstverantwortlich handhaben, die mit der Produktion von Arzneimitteln einhergehen? Oder die Risiken des Klimawandels – wie sollte hier ein Einzelner einen sinnvollen Beitrag leisten können, ohne dass dieser in ein globales Gesamtkonzept eingebettet ist, das auch wirklich funktioniert?

 

Umverteilung von Freiheit?

Indessen betrifft der Ruf nach dem Staat, den wir in einer vulnerablen Gesellschaft immer öfter vernehmen, gerade nicht lediglich Großrisiken, die mit hohem Schadenspotenzial verbunden und für das Individuum allein nicht zu bewältigen sind. Es geht vielmehr sehr oft um Risiken, die in ihrem Gewicht weit unterhalb dessen liegen – das Hinterherpfeifen auf der Straße, lang bekannte und überschaubar gefährliche Viruserkrankungen (Masern, Grippe) oder die Art und Weise, wie wir einander ansprechen (als Frau oder Mann beziehungsweise mit dem bürgerlichen Namen, den eine Person vor ihrer Transition innehatte, sogenanntes „Deadnaming“).

Es lässt sich also sagen: In einer vulnerablen Gesellschaft besteht eine hohe Bereitschaft der Bürger, zum Schutz vor Risiken nach staatlicher Regulierung zu rufen. Meine These lautet, dass dies zu individuellen Freiheitsverlusten führt – weil bislang unregulierte Lebensäußerungen in rechtliche Bahnen gegossen werden. Aber stimmt das überhaupt? So ließe sich entgegenhalten, dass die Regulierung, die der Staat in Sachen Risikovorsorge vornimmt, nur bei einer gesellschaftlichen Gruppe zum Verlust, bei einer anderen aber sogar zu einem Zugewinn an Freiheit führt. Es liege, so die Kritik, in solchen staatlichen Akten eine bloße Umverteilung von Freiheit – vom Starken zum Schwachen. In der Bilanz bleibe es daher bei demselben Maße an Freiheit, das vor der Regulierung herrschte.

 

Mehr Möglichkeiten zum Zugriff auf die Bürger

Der Gedanke mag in einem ersten Zugang ansprechend sein. Zutreffend ist er indes nicht. Denn in der Tat verliert auch derjenige an Freiheit, zu dessen Schutz das jeweilige neue Gesetz erlassen wird. Dies schon deshalb, weil auch er sich künftig an die neue Vorschrift halten muss; es ist nicht ausgeschlossen, dass er im Verlauf seines Lebens doch einmal in Konfrontation mit einer Regelung gerät, die eigentlich zu seinen Gunsten erschaffen wurde – vielleicht, weil sich seine gesellschaftliche Rolle geändert hat oder Ähnliches. Entscheidend ist jedoch Folgendes: Selbst der „Schwache“ verliert durch die neue Gesetzeslage Freiheit. Ihm geht Eigenverantwortung verloren – die Freiheit, Konflikte privat zu lösen und Risiken eigenverantwortlich zu begegnen. Verloren gehen damit zugleich Räume der Selbstwirksamkeitserfahrung. Unter dem Strich „gewinnt“ also in dieser Rechnung nur eine Seite an Freiheit: Während die Bürger sie verlieren, erweitert der Staat seine Eingriffsbefugnisse; ihm stehen mehr Möglichkeiten zum Zugriff auf die Bürger zu als zuvor.

Das muss nicht schlecht sein. Ohnehin ist mit der Feststellung, dass verstärkte Vulnerabilität zu einem Weniger an individueller Freiheit führt, noch nichts darüber gesagt, wie diese Entwicklung zu bewerten ist. Ob eine konkrete Vorschrift, die zum Schutz von Vulnerabilität neu hinzukommt, einen Rechtsfortschritt bedeutet oder nicht, muss sicherlich von Fall zu Fall entschieden werden. Was allerdings gegenwärtig fehlt, ist eine kritische Reflexion über die von mir aufgezeigte Entwicklung. Eine allgemeine Debatte darüber, wie sehr individuelle Freiheit dem Schutz von Vulnerabilität geopfert werden sollte, wird nicht geführt. Weil es sich allerdings um einen Trend handelt, der durchaus weitreichende Konsequenzen für das gesellschaftliche Miteinander hat, erscheint eben solcher Diskurs zumindest mir als Desiderat. Vor diesem Hintergrund sollten Einzelvorschriften, die dem Vulnerabilitätsparadigma unterstellt sind, nicht länger isoliert diskutiert werden. Vorzuziehen ist demgegenüber eine Einbettung der jeweiligen Legitimationsdebatte in einen Gesamtkontext von wachsender Vulnerabilität und deren Folgen für das Recht.

 

Diskursvulnerabilität

Damit dieser Diskurs gelingen kann, bedarf es einiger Voraussetzungen, die gegenwärtig nicht optimal gewahrt sind. So lässt sich in einer Vielzahl gesellschaftlicher Debatten zeigen, dass sich Vulnerabilität gerade auch auf Risiken bezieht, die im Gespräch selbst erwachsen können. Die Rede ist davon, dass das, was das Gegenüber sagt, verletzend sein kann. Bestimmte Themen, Argumente oder sogar Sprecher, die mit einer spezifischen Position verbunden werden, können an Verletzlichkeiten rühren. Der Einzelne kann vor diesem Hintergrund geneigt sein, das jeweilige Gespräch nicht zu führen oder nur nach Regeln, wonach eben die als verletzend gekennzeichneten Inhalte oder Sprecher ausgeschieden werden. Ich bezeichne dies als „Diskursvulnerabilität“ und betrachte sie als gesamtgesellschaftliches Phänomen. Sie lässt sich darauf zurückführen, dass Menschen immer häufiger ihren eigenen moralischen Standpunkt so erheblich aufladen, dass er regelrecht zu einem Teil ihrer eigenen Persönlichkeit wird. In der Folge werden Sachargumente über das in Rede stehende Thema vorschnell nicht als solche identifiziert, sondern als Kritik – und zwar an der eigenen Person. Diskursvulnerabilität kann daher einen Erklärungsansatz dafür liefern, weshalb viele Debatten dieser Tage besonders emotional und wenig sachbezogen geführt werden. Man denke nur an die Lagerbildung während der Pandemie, die eine Kommunikation zwischen dem „Team Freiheit“ und dem „Team Sicherheit“ regelrecht ausgeschlossen hat. Dieses diskursive Defizit setzte sich unmittelbar im Hinblick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine fort. Schnell wurden Diskursteilnehmer in Gruppen unterteilt – „Putinversteher: ja oder nein?“ – und in Abhängigkeit davon im Diskurs zugelassen oder nicht.

Für ein freiheitliches Gemeinwesen erweist sich Diskursvulnerabilität als Gift. Das offene gesellschaftliche Gespräch bildet den großen Vorteil der Demokratie gegenüber allen anderen Staatsformen. Es garantiert, dass sämtliche relevanten Argumente zur Sprache kommen, um auf diese Weise die zum gerade gegenwärtigen Zeitpunkt bestmögliche Lösung zu finden. Die Qualität der gesellschaftlichen Diskurse muss leiden, wenn Sprecher, Positionen oder Argumente daraus ausgeschlossen werden. Weil möglicherweise Gründe kein Gehör finden, die für den gesellschaftlichen Aushandlungsprozess bedeutsam sind. Am Ende steht dann schlimmstenfalls ein Ergebnis, das eine viel schlechtere Lösung bereithält, als sie erzielbar gewesen wäre, wenn man nur offen miteinander gesprochen hätte. Dabei geht auch Freiheit verloren – Meinungsfreiheit natürlich, aber ebenfalls die Freiheit, die infolge diskursiv verzerrter Aushandlungsprozesse stärker eingeschränkt wurde, als dies notwendig und angemessen ist.

Gerade wenn die gesellschaftlichen Herausforderungen wachsen, sollte nicht die Überzeugung von der Vorzugswürdigkeit der Demokratie gegenüber anderen Staatsformen ins Wanken geraten. Ein Festhalten an ihr verspricht nach wie vor die besten Ergebnisse. Dann aber sollten sich die Bürger nicht selbst in ihren Aushandlungsprozessen beschneiden, indem sie mit einer wachsenden Diskursvulnerabilität die Axt an das Herzstück der Demokratie – den offenen Diskurs – ansetzen. Die Grenzen der freien Rede markiert in unserem freiheitlichen Rechtsstaat das Strafrecht. Alles andere ist sagbar. Dabei ist klar: Das offene Gespräch ist nicht selten eine Zumutung. Gerade die Konfrontation mit Meinungen, die nicht die eigenen sind, kann wehtun, sie kann als schwer erträglich empfunden werden. Und dennoch geht hier im Interesse einer freiheitlichen Demokratie kein Weg an Resilienz vorbei.


Frauke Rostalski, geboren 1985 in Bad Nauheim, seit 2018 Inhaberin des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung, Universität zu Köln, seit 2020 Mitglied des Deutschen Ethikrates.
 

Zum Weiterlesen
Rostalski, Frauke: Die vulnerable Gesellschaft. Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der Freiheit, C. H. Beck, München 2024.

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