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Die OSZE und ihre „menschliche Dimension“

Von überwundenen und neuen Gräben in Europa

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2025 begeht die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) den 50. Jahrestag der Unterzeichnung ihrer Schlussakte von Helsinki. Verabschiedet wurde sie am 1. August 1975 von den damals 35 Teilnehmerstaaten der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE).

Seit 1973 hatten Verhandlungen in Helsinki und Wien stattgefunden, um die gefährliche militärische Konfrontation zwischen den hochgerüsteten Antagonisten im Ost-West-Konflikt durch eine Politik der Entspannung zu entschärfen. Der Kalte Krieg sollte nicht zu einem heißen Konflikt werden. Es gelang, gemeinsame Interessen zu definieren und Vertrauen zu schaffen. Ein zentrales Element der Verhandlungsprozesse war die über die politisch-militärische Dimension weit hinausgehende Breite der Themen. Einem erweiterten Sicherheitsbegriff folgend, wurden neben den Rüstungsfragen in einem zweiten Korb Wirtschaft und Umwelt, in einem dritten Korb die menschliche Dimension (Human Dimension) behandelt, die vor allem auf die Menschenrechte fokussiert. Die Sowjetunion hatte den westlichen Forderungen entsprochen, die Frage der Menschenrechte und des einfacheren Austauschs von Menschen zwischen Ost und West in die KSZE-Verhandlungen aufzunehmen.

Letzteres hatte teils ungeahnte Auswirkungen: Reformkräfte und Dissidentengruppen im Ostblock fühlten sich durch die menschliche Dimension der Schlussakte von Helsinki in ihrem Streben nach Freiheit, Menschenrechten und Demokratie enorm bestärkt und engagierten sich im Laufe der folgenden fünfzehn Jahre immer stärker für den politischen Wandel. Internationale Nichtregierungsorganisationen, wie die im Jahr 1982 in Bellagio gegründete Internationale Helsinki-Föderation für Menschenrechte mit Sitz in Wien, unterstützten zudem die Reformkräfte in Osteuropa und in der Sowjetunion.

Obwohl die staatlichen Repressionsorgane oftmals mit Gewalt gegen die Demokratiebewegungen – sie wurden als „subversiv“ und vom Westen gesteuert diffamiert – vorgingen, konnten diese nicht mehr gestoppt werden. Der Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 markierte somit nicht nur den Höhepunkt der Entspannungspolitik zwischen Ost und West, sondern auch einen Erfolg der menschlichen Dimension.

 

Erster menschenrechtspolitischer „Versuchsballon“

Eine noch größere Bedeutung erfuhr die menschliche Dimension der Schlussakte von Helsinki nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Während zuvor das Prinzip der „Nichteinmischung in innere Angelegenheiten“ vor allem für den menschenrechtlichen Bereich galt, wurde mit der Verabschiedung der Charta von Paris für ein neues Europa am 21. November 1990 die OSZE als ein Raum gemeinsamer Werte definiert. Die Demokratie als Regierungsform, der Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten bildeten seitdem den gemeinsamen Werterahmen für die Teilnehmerstaaten der OSZE.

Einen ersten menschenrechtspolitischen „Versuchsballon“ hatte die KSZE bereits im Wendejahr 1989 durch die Einführung des sogenannten Wiener Mechanismus gestartet. Dieser, von einem oder mehreren Teilnehmerstaaten aktivierbare Prozess erlaubt es den OSZE-Staaten seitdem, Fragen zur menschlichen Dimension an einen anderen Teilnehmerstaat zu stellen – vor allem die Aufklärung über Menschenrechtsverletzungen und Rechtsstaatsdefizite steht im Vordergrund.

Im Idealfall führt der Wiener Mechanismus zu einer konstruktiven Auseinandersetzung über menschenrechtliche und rechtsstaatliche Defizite und unterstützt deren Behebung. Die notwendige Fachexpertise hierfür stellen das 1991 von der OSZE in Warschau eröffnete Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (Office for Democratic Institutions and Human Rights, ODIHR) und weitere OSZE-Institutionen zur Verfügung.

Die in Wien ansässige OSZE hat seit 1990 mit der Gründung verschiedener Institutionen, die den Teilnehmerstaaten bei der Demokratisierung und dem Schutz von Menschen- und Minderheitsrechten zur Seite stehen sollen, auf die Erfordernisse der Transformationsstaaten des ehemaligen Ostblocks reagiert: Vor allem der Repräsentant für Medienfreiheit in Wien und ODIHR in Warschau bilden seit rund drei Jahrzehnten die institutionelle Struktur der menschlichen Dimension.

ODIHR ist mit der Durchführung von Wahlbeobachtungsmissionen sowie mit weiteren Spezialaufgaben betraut. Hierzu gehören der Kampf gegen Menschenhandel, Antisemitismus und Antiziganismus, der Einsatz für Toleranz und Nichtdiskriminierung sowie Schutz, Unterstützung und Ausbildung für Menschenrechtsverteidiger und die Stärkung ihrer Zusammenarbeit mit den unabhängigen Nationalen Menschenrechtsinstituten im OSZE-Raum.

Daneben sind derzeit Feldoperationen in dreizehn Ländern – auf dem Westbalkan, im Kaukasus und in Zentralasien – ebenfalls mit Themen der menschlichen Dimension befasst, wie etwa mit dem Schutz von Minderheiten, der Wahlbeobachtung und institutionellen Reformen.

Doch anders als in den euphorischen Wendejahren 1989/91 von vielen politischen Akteuren in den Teilnehmerstaaten der OSZE erhofft, haben autoritäre Rückschläge in den Transformationsstaaten, massive Menschenrechtsverletzungen, Straflosigkeit und Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit, Korruption und Wahlmanipulationen in großem Umfang sowie nicht zuletzt die militärische Aggression Russlands gegen einen anderen Teilnehmerstaat, die Ukraine, die auf Konsensprinzip und Vertrauensbildung basierende Arbeit der OSZE auch in der menschlichen Dimension stark beeinträchtigt. Neue Instrumente und Mechanismen sind daher erforderlich.

 

Der Moskauer Mechanismus

Bereits 1991 hatte die KSZE den Wiener Mechanismus um den Moskauer Mechanismus ergänzt. Dieser geht über die einvernehmliche Konfliktbearbeitung und das Konsensprinzip im operativen Bereich deutlich hinaus und ist daher bei sehr kritischen Problemlagen – wie der massiven Verletzung von Menschenrechten – einsetzbar. Er wird ergänzend zum Wiener Mechanismus angewendet, wenn dieser zuvor nicht zu einer kooperativen Bearbeitung im Sinne der angestrebten Konfliktbearbeitung und Problemlösung geführt hat.

Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat diese bereits viermal – zuletzt am 25. April 2024 und mit Unterstützung von 44 weiteren Teilnehmerstaaten – die Implementierung des Moskauer Mechanismus beantragt, um Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen durch Russland auf ihrem Territorium überprüfen zu lassen. Doch auch der Moskauer Mechanismus kann eigentlich nur in Kooperation mit dem zu überprüfenden Teilnehmerstaat durchgeführt werden, wenn dieser die externe Untersuchung zulässt. Es würden dann einvernehmlich bis zu drei – bei ODIHR gelistete – Experten in das jeweilige zu überprüfende Land eingeladen, die mit den zuständigen Behörden, Politikern und Akteuren aus der Zivilgesellschaft sprechen und einen Bericht erstellen, der durch ODIHR veröffentlicht wird.

In vielen Krisenfällen erfolgen diese Zustimmung und Einladung jedoch nicht, und dem dann ohne Zustimmung des zu überprüfenden Landes ausgewählten einzelnen Experten wird die Einreise und Recherche vor Ort regelmäßig verweigert. Dennoch stellen die trotz dieser Widerstände verfassten umfangreichen Berichte einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung massiver Menschenrechtsverletzungen im OSZE-Raum dar – seien es die schweren, homo- und transphob motivierten Menschenrechtsverletzungen gegenüber LGBTIQ-Personen in Tschetschenien (2018), seien es die massive Repression nach den Wahlen in Belarus (2020) oder die Kriegsverbrechen durch Russland in der Ukraine (2022, 2023, 2024).

Die jeweiligen Empfehlungen des Experten an die Verantwortlichen im betroffenen Staat, an die OSZE und die internationale Gemeinschaft bilden das Schlusskapitel eines jeden Berichts. Die OSZE-Staaten können hierzu Statements veröffentlichen, die aber wie der Bericht selbst in der Regel für den betroffenen Staat keine direkten Konsequenzen – etwa in Form von Abmahnungen oder Strafmaßnahmen – nach sich ziehen.

 

Russische Obstruktionspolitik

Bereits die russische Besetzung und völkerrechtswidrige Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim im Jahr 2014 hatte die OSZE-Teilnehmerstaaten mobilisiert, und noch im März 2014 wurde im Konsensprinzip eine zivile Beobachtermission zum Abbau der Spannungen eingesetzt – die Special Monitoring Mission (SMM). Mit dem vollumfänglichen Angriffskrieg von Russland gegen die Ukraine im Februar 2022 endete jedoch die Bereitschaft Moskaus, diese Mission fortzusetzen.

Erstmals in ihrer Geschichte entschloss sich daher eine deutliche Mehrheit von 34 OSZE-Teilnehmerstaaten, eine neue Mission außerbudgetär zu implementieren, um so das Moskauer Veto auszuhebeln: das Support Programme for Ukraine (SPU). Dieses Programm fokussiert seit nunmehr zwei Jahren mit insgesamt rund zwanzig Projekten auf die menschliche Dimension. Gestützt werden soll die langfristige demokratische Entwicklung und die soziale Resilienz der ukrainischen Institutionen einschließlich der Zivilgesellschaft.

Weitere russische Blockaden bedrohen den Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit der OSZE: Ein Budget für die finanzielle Planung konnte seit drei Jahren nicht vereinbart werden. Auch die Abstimmungen über den jährlich rotierenden OSZE-Vorsitz werden durch das Veto aus Moskau obstruiert. So wurde der estnische Vorsitz für das Jahr 2024 aufgrund der NATO-Mitgliedschaft Estlands abgelehnt und kurzfristig an Malta gegeben. Finnland wurde der Vorsitz für das Jubiläumsjahr 2025 dagegen bereits im Jahre 2021 einvernehmlich zugesprochen – also lange vor seinem Beitritt zur NATO im März 2023.

Die aktuelle Führungstroika – Nordmazedonien, Malta und Finnland – steht durch die russische Blockade mit Blick auf die Neubesetzung von vier OSZE-Führungsposten vor großen Schwierigkeiten. Bis hin zur leitenden Generalsekretärin – der deutschen Diplomatin Helga Maria Schmid – sind diese Positionen nur bis September 2024 verlängert worden. Auch die bevorstehende Wahl des Vorsitzes für das Jahr 2026 wird spannend: Zur Wahl stehen Kasachstan, Norwegen und die Schweiz. Der Einsatz für die menschliche Dimension – insbesondere für die Stärkung und Resilienz der Zivilgesellschaften sowie der Menschenrechtsverteidiger im OSZE-Raum – dürfte auf lange Zeit kaum im Konsens mit Russland erfolgen.

Russland stört die OSZE massiv, aber es zerstört sie nicht, um diese Einflussplattform nicht zu verlieren. Für die überwiegende Zahl der OSZE-Teilnehmerstaaten – und insbesondere für die Staaten des ehemaligen Ostblocks, die mit Nationalitätenkonflikten, Demokratiedefiziten und Menschenrechtsverletzungen zu kämpfen haben – ist die OSZE dennoch unverzichtbar. Mit diesem Selbstbewusstsein sollte sie auch in das Jubiläumsjahr gehen und ihre Widerstandskraft gegen die russische Aggression und Obstruktion bewahren.


Oliver Ernst, geboren 1967 in Duisburg, promovierter Politikwissenschaftler, Publizist, Referent Demokratie und Menschenrechte, Hauptabteilung Analyse und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.

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