Im Überschwang angesichts der politischen Umbrüche im bis dahin kommunistischen Ostblock 1989 rief der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama „Das Ende der Geschichte“ aus. In seinem Essay und späteren Buch argumentierte er durchaus überzeugend, dass die friedlichen Revolutionen und die Transformation der Sowjetunion weltweit ein demokratisches Zeitalter einläuten würden. Heute, eine Generation später, wissen wir, dass diese Vorhersage verfrüht oder – im schlimmsten Falle – falsch war.
Spätestens der unprovozierte Angriff Russlands auf die zunehmend westlich orientierte Ukraine im Jahr 2022 hat die optimistische Prognose ad absurdum geführt. Parallel zu den Konflikten in der Ukraine, um Taiwan und im Nahen Osten haben sich Staaten wie Indien, Brasilien und Südafrika mit Russland und China in der Vereinigung der sogenannten BRICS-Staaten zusammengeschlossen, um die wirtschaftliche Dominanz der westlichen Welt aufzubrechen. Zudem sind einzelne, demokratisch gewählte Staatschefs aus dem westlichen Lager dabei, die politischen Institutionen und die Justiz ihrer Länder von innen her autokratisch zu verformen.
In dieser Situation, in der die Existenz des demokratisch orientierten Westens auf vielen Ebenen infrage gestellt wird, werden fundierte Prognosen wieder wichtiger. Machten seit dem Ende des Kalten Krieges der Sieg des Westens und das angeblich bevorstehende Zeitalter der Demokratie und der regelbasierten Außenpolitik dies überflüssig, so gibt es jetzt eine „Rückkehr der Geschichte“ – auch wenn diese vor allem eine Konfliktgeschichte zu sein scheint. In der deutschen Geschichtswissenschaft ist die Koppelung von historischer Analyse und Prognostik seit dem Historismus verpönt, was dazu beigetragen hat, dass interessante wissenschaftliche Ansätze aus dem angloamerikanischen Raum hierzulande bisher wenig Beachtung gefunden haben.
Der belastete Ansatz der „Geopolitik“
Eingeleitet wurde die Rückkehr zu einer auf historischer Argumentation basierenden Prognostik von dem englischen Historiker Paul Kennedy, einem Spezialisten für die deutsch-englische Rivalität im Wilhelminismus. Kennedy wurde von der Beobachtung angeregt, dass das britische Empire, obwohl in zwei Weltkriegen militärisch siegreich gegen das aufstrebende Deutsche Reich, wirtschaftlich so ausgelaugt wurde, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sein Niedergang begann. Seine Vorstellungen von einer naturgesetzlichen finanziellen und militärischen Überdehnung jedes Imperiums wandte er auf die USA an und sagte 1987 ihren Abstieg in seinem Buch The Rise and Fall of the Great Powers voraus.
Obwohl Kennedy breit rezipiert wurde, fanden sich für seine Thesen zunächst kaum Nachfolger. Seitdem sich jedoch die Probleme häufen, haben geschichtsbasierte Prognosen Konjunktur. Die Krisenphänomene der Gegenwart aufnehmend, widmen sie sich oft Zusammenbruchszenarien. So hat beispielsweise der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Jared M. Diamond, ein Evolutionsbiologe, eine Serie von Fallstudien zum Zusammenbruch historischer Gesellschaften vorgelegt (Collapse. How Societies Choose to Succeed or Fail, New York 2005, deutsche Fassung: Frankfurt 2011). Zurzeit steht eine Sammlung von explizit der Prognostik dienenden Fallstudien auf amerikanischen Bestsellerlisten (Roman Krznaric: History for Tomorrow. Inspiration from the Past for the Future of Humanity, London 2024).
Am vielleicht bedeutendsten ist die Rückkehr eines Ansatzes, der ausgehend von geografischen Rahmenbedingungen Geschichte erklären und Zukünftiges vorhersagen will. Seine Protagonisten sind davon überzeugt, dass beispielsweise die russisch-ukrainische Geografie, bei der über das ukrainische Territorium ein Angriff auf das russische Kernland möglich ist, jeden russischen Staatschef über kurz oder lang dazu verleitet hätte, die Ukraine wieder in den russischen Machtbereich zurückholen zu wollen. Dieser Ansatz ist nicht neu; er entstand vor dem Ersten Weltkrieg in England und Deutschland und wurde unter dem Begriff „Geopolitik“ eine der maßgeblich handlungsleitenden Vorstellungen deutscher Eliten. Insbesondere bei deutschen Militärs und in der nationalsozialistischen Führung, auch bei Hitler persönlich, fanden die daraus entwickelten Vorstellungen von einem „Volk ohne Raum“ und die angeblich biologistisch determinierte Notwendigkeit deutschen „Lebensraums im Osten“ Widerhall – mit den bekannten katastrophalen Folgen. Dies führte dazu, dass in Deutschland nach 1945 die „Geopolitik“ als gedankliches Konzept kaum mehr Anklang fand.
Die heutigen Vertreter dieses Ansatzes, wie der mit seinen populärwissenschaftlichen Arbeiten erfolgreiche britische Journalist Tim Marshall (Prisoners of Geography, London 2015, deutsch: München 2016) und vermutlich am wirkmächtigsten Peter Zeihan, sind allerdings eindeutige Parteigänger demokratischer Staatsformen. Zeihan, ein amerikanischer Politikwissenschaftler, hat lange als Analyst und Vizepräsident von Stratfor gearbeitet, einem Thinktank, der amerikanische Regierungsstellen berät.
Einfluss auf den politischen Diskurs
Neben der Orientierung an geografischen Rahmenbedingungen geht Zeihans Denken stark von demografischen Determinanten aus. Zusammengefasst hat er seine Vorstellungen in der Studie The End of the World Is Just the Beginning. Mapping the Collapse of Globalization (New York 2022), die es in die amerikanischen Bestsellerlisten schaffte. Er sagt darin einen Rückzug des „amerikanischen Weltpolizisten“ in eine isolationistische Politik voraus, die zu einem Zusammenbruch maritimer Lieferketten und in der Folge zum Ende der Globalisierung führen werde. Russland und China würden aufgrund ihrer demografischen Struktur wirtschaftlich zusammenbrechen und möglicherweise als Staatsgebilde zerfallen, Europa und insbesondere Deutschland müssten einen starken wirtschaftlichen Abstieg hinnehmen. Relativer Gewinner der Deglobalisierung seien die USA, die aufgrund ihrer geografisch kaum angreifbaren Lage, ihrer Rohstofflagerstätten – insbesondere bei Gas und Erdöl – und ihrer vergleichsweise ausgeglichenen demografischen Struktur weitgehend ihren Lebensstandard halten könnten.
Zeihans Studie ist aufgrund zahlreicher sachlicher Ungenauigkeiten in der amerikanischen Presse kritisiert worden. Zudem ist fraglich, ob die USA tatsächlich selbst unter einem Präsidenten Donald Trump eine derartige Rückkehr zu einem Isolationismus betreiben würden.
Ebenso unterschätzt Zeihan die Substitutionsfähigkeit moderner Volkswirtschaften, die aufgrund ausgefeilter Produktionstechniken etliche Rohstoffe durch andere ersetzen können. Da Zeihans Publikationen hohe Verkaufszahlen erreichen und zudem stark im Internet präsent sind, gibt es bereits einen fühlbaren Einfluss seiner Vorstellungen auf den US-amerikanischen politischen Diskurs. Insbesondere die seit dem Zusammenbruch des chinesischen Immobilienmarktes immer stärker sichtbar gewordenen Probleme der chinesischen Wirtschaft bestätigen Zeihans Prognosen für diesen Sektor und führen dazu, dass erste Stimmen aus den außen- und sicherheitspolitischen Fachkreisen der USA fragen, ob man die von China ausgehende Gefahr möglicherweise überschätzt habe.
Machtentwicklung und Finanzmarkt
Den Gegenpart zu Zeihan nimmt Ray Dalio ein, ein erfolgreicher Hedgefonds-Manager, der für sich nichts weniger in Anspruch nimmt, als die Naturgesetzlichkeiten historischer Entwicklungen entdeckt zu haben. Seine Studie Principles for Dealing with the Changing World Order. Why Nations Succeed and Fail (London 2021) wird ebenfalls auf den Bestsellerlisten englischsprachiger Länder gelistet. Dalio meint, in der Weltgeschichte Zyklen entdeckt zu haben, die den Aufstieg und Fall jedes auf der Erde bestehenden Imperiums vorhersagen.
Die Orientierung an Naturgesetzlichkeiten wird Lesern von Oswald Spengler bekannt vorkommen, selbst wenn Dalio vermutlich mehr von Paul Kennedy angeregt wurde. Während Dalios historische Analysen die eines intelligenten Autodidakten sind, der die Aussagefähigkeit quantitativer historischer Schätzungen überbewertet – zurzeit geistern etwa Schätzungen zum mittelalterlichen Bruttosozialprodukt durch die Finanzwissenschaften, die keinerlei Bezug zur Realität haben, da es keine quantitativen Quellen gibt –, wird es bei seiner Analyse historischer Finanzmarktdaten interessant. Dalio geht speziell auf die Finanzmärkte der Niederlande, Großbritanniens und der USA von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart ein. Anhand von deren jeweiligem Aufstieg und Niedergang in diesem Sektor kann er seine These einigermaßen plausibel machen, dass der Weltmachtstatus mit einer zyklischen Finanzmarktentwicklung eines Leitkapitalmarktes einhergeht, der der entsprechenden Macht ein beträchtliches Zusatzgewicht verleiht.
Aufgrund dieser Betrachtungsweise kommt er zu dem Schluss, dass die Überschuldung der USA zwangsweise deren Abstieg und den Aufstieg Chinas bedeutet. In sich ist diese Betrachtungsweise genauso einseitig wie bei Zeihan und berücksichtigt zu wenig „weiche“ Faktoren wie wirtschaftliche Offenheit eines Staates, das internationale Vertrauen, das er genießt, und den Grad der Rechtsstaatlichkeit. Kein internationaler Investor wird nach den Beschlagnahmen westlicher Vermögenswerte noch Geld in Russland anlegen, und die vergleichbare diktatorische Willkür in China wird verhindern, dass es bei aller wirtschaftlichen Stärke jemals zum Weltfinanzzentrum wird. Nur wenn sich das Land zu einem rechtsstaatlich und berechenbar agierenden Staat wandelt, wird eine entsprechende Rolle denkbar. Dies setzt jedoch einen grundlegenden Wandel des politischen Systems voraus. Dalios Analyse der Schwäche der Europäischen Union und der USA ist allerdings bedenkenswert.
Faktenbasierte Warnung
Welchen Nutzen bringen nun solche historisch basierten Prognosen? Wie die Beispiele von Dalio und Zeihan zeigen, sind sie in etlichen Punkten zu falsifizieren, auch deswegen, weil heute kaum ein Wissenschaftler mehr all die relevanten Gebiete selbst überschauen kann. Zudem sind der jeweils postulierte Determinismus, sei er geografisch oder demografisch wie bei Zeihan oder finanziell wie bei Dalio, zu simpel für die Komplexität historischer oder gegenwärtiger Realität.
Dennoch sind sie relevant und bereichern den wirtschafts- und außenpolitischen Diskurs, da sie im gedanklichen Labor die Auswirkungen dieses einen Faktors auf künftige Entwicklungen durchspielen. Sie führen partiell immerhin zu einigen erstaunlich treffsicheren sektoralen Prognosen wie etwa der von Zeihan zu China. Zum anderen beeinflussen die Prognosen mittlerweile das außenpolitische Denken, etwa in den USA, und sollten auch deshalb zur Kenntnis genommen werden. Am besten nimmt man deshalb diese neue Sparte der historisch basierten Prognostik als eine faktenbasierte Warnung davor, was passieren könnte, wenn die geschilderten Entwicklungen eintreten würden, anstatt sie als eine sichere Vorhersage zu werten.
Wolfgang Tischner, geboren 1967 in Berlin, promovierter Historiker, Abteilungsleiter Publikationen / Bibliothek, Wissenschaftliche Dienste / Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Konrad-Adenauer-Stiftung.