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Gymnasium, Bildungsbürgertum und Zivilgesellschaft

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Wenn der Begriff „Bildungsbürgertum“ heute gebraucht wird, schwingt kritische Distanz mit: Das „Bildungsbürgertum“ verstehe sich als soziale Elite, die sich über Bildung definiere und im klassischen Gymnasium für ihren Fortbestand sorge. Da will man in der Regel nicht dazugehören, auch dann nicht, wenn man selbst aus dem Gymnasium kommt und damit eigentlich selbst zur „bildungsbürgerlichen“ Schicht gehört. Die kritische Sicht auf Gymnasium und „Bildungsbürgertum“ wird bestätigt und bestärkt durch die Dauerkritik der OECD am deutschen Bildungssystem, das im höchsten Maß ungerecht sei und zugleich nicht leistungsfähig genug, um in den internationalen Vergleichen mitzuhalten – und das gerade wegen seiner Gliederung, die maßgeblich von der Struktur des Gymnasiums geprägt wird. Damit steht das Gymnasium mit dem Abitur als „Leitinstitution“[1] des deutschen Schulwesens auf dem Prüfstand.

Zentral für das deutsche Bildungswesen war und ist das Abitur, das bisher mehrheitlich über das Gymnasium erworben wird. Das Abitur setzt den Maßstab für Bildung: Die Grundnorm für „Bildung“ hat erreicht, wer das Abitur hat. Mit ihm ist nicht nur der Zugang zu Hochschulen und Universitäten gesichert. Auch wer nach dem Abitur nicht an die Universität geht, gilt als „gebildet“.

 

Zweckfreier Nutzen der Bildung

Das Curriculum des Gymnasiums sichert den Erwerb dieser Qualifikation durch einen Kanon, der bei allen unterschiedlichen Akzentuierungen (altsprachlich, neusprachlich, musisch, ökonomisch, mathematisch-naturwissenschaftlich) einen verbindenden gemeinsamen Kern hat: Sprachkompetenz und Reflexionsfähigkeit. Das Ideal der Allgemeinbildung grenzt sich dabei mehr oder weniger ausdrücklich gegen ein funktionalistisches Bildungsverständnis ab, in dem Bildung auf Ausbildung für Zwecke reduziert wird. Allgemeinbildung versteht Bildung als Selbstzweck. Es geht nicht darum, Jugendlichen bestimmte Fertigkeiten zu vermitteln, mit denen sie Produkte erstellen können, die gerade auf dem Markt besonders nachgefragt werden. Vielmehr geht es bei Bildung um die Fertigkeit der „Selbstbildung“. Man kann Menschen ausbilden, aber bilden können sie nur sich selbst. „Erkenne dich selbst“, stand auf dem Eingang des delphischen Apollotempels. Der Satz könnte auch auf dem Eingang eines jeden Gymnasiums prangen. Nebenbei: Damit ist nicht gesagt, dass Bildung unnütz ist. Sie nützt, aber sie nützt nur dann, wenn sie nicht deswegen angestrebt wird, weil sie bestimmten Zwecken nützt, die von außen an sie herangetragen werden. Solches Selbstbewusstsein gehört zum Bildungsverständnis des Gymnasiums.

 

Soziale Eliten gleich Bildungseliten?

„Leitinstitution“ für das deutsche Bildungssystem kann das Gymnasium bis heute auch deswegen genannt werden, weil sich die anderen Schulformen, die je nach Bundesland unterschiedlich benannten „Einheits-“, „Gesamt-“ oder „Sekundarschulen“, vom Gymnasium abgrenzen und so zu ihrer Identität finden. Das ist nicht als Arroganz misszuverstehen. In den ideologischen Grabenkämpfen um das Gymnasium wird ja oft gerade bei seinen Verteidigern übersehen, dass der Status des Gymnasiums als „Leitinstitution“ noch nichts darüber sagt, ob es konkret vor Ort die Norm auch tatsächlich erfüllt, für die es steht und um die es bei dem Ziel namens „Bildung“ geht. Die aus den Gymnasien hervorgegangenen „Bildungseliten“ haben 1933 weitgehend versagt. Die soziale Ungleichheit im Bildungssystem bleibt auch heute noch bestehen, zumal dann, wenn sich die in Gymnasien sammelnden sozialen Eliten allein schon deswegen als Bildungseliten verstehen, weil sie soziale Eliten sind; vielleicht kommt ja auch daher das Unbehagen am „Bildungsbürgertum“.

In Frankreich sind es dann allerdings die Grandes Écoles (École nationale d’administration – ENA, Écoles normales supérieures – ENS, École polytechnique), auf die es in der Bildungshierarchie ankommt, nicht auf das baccalauréat unabhängig davon, auf welcher Schule man es gemacht hat. Auch in England fragt man nicht: „Hast du das Abitur?“, sondern: „Warst du in Oxford oder Cambridge und/oder vorher in Eton, St. Paul’s oder Harrow?“ Hier liegt dann der Schlüssel für sozialen Aufstieg. Ähnlich verhält es sich in den USA. Allein zwei Schulen (Andover, Groton), aus denen gerade einmal 600 bis 700 von insgesamt über zwei Millionen High-School-Absolventen hervorgehen, stellen über fünf Prozent der Erstsemester an der Harvard-Universität. In Japan stehen die kaiserlichen Universitäten an der Spitze der Bildungshierarchie. Man erwirbt den Zugang zu ihnen nicht durch die Sekundarschule, sondern durch eigene Aufnahmeprüfungen, auf die sich die „Bildungseliten“ in Japan parallel zur Sekundarschule vorbereiten.

 

Vergleichsweise egalitär

Aus dem Vergleich ergibt sich der Befund, dass das deutsche Bildungssystem vergleichsweise egalitär ist, wenn es um den Zugang zur höchsten Bildungsnorm geht. Das liegt am deutschen Abitur beziehungsweise am Gymnasium. Beim Übergang in den Hochschulsektor werden keine weiteren Prüfungen und Qualifikationen verlangt, die das Abitur entwerten würden (über die Funktion des Numerus Clausus wäre hier noch einmal eigens nachzudenken). Für das angelsächsische System gilt hingegen, dass der Zugang zu den entscheidenden Hochschulen und Universitäten überwiegend an sozialen Kriterien hängt. Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung stellt entsprechend fest: „In den vergangenen 50 Jahren entwickelte sich das Gymnasium in der Bundesrepublik von einer Elitebildungsanstalt zu einer Schule, die mittlerweile das attraktivste Programm einer intellektuell anspruchsvollen Grundbildung für einen breiten Anteil an Sekundarschülern anbietet.“[2] Die Zahlen bestätigen den Befund: Mehr als vierzig Prozent der Jahrgänge besuchen heute das Gymnasium. Besonders eindrucksvoll ist die Entwicklung bei den früher sozial benachteiligten Mädchen, die inzwischen im Gymnasium die Nase vorn haben. Das alles bedeutet nicht, dass soziale Gleichheit im deutschen Bildungssystem erreicht ist. Es bleibt ein Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungsaufstieg. Dennoch ist im Vergleich zu den 1960er- und 1970er-Jahren die soziale Heterogenität der Schülerinnen und Schüler an Gymnasien kontinuierlich gewachsen. Bevor man mit einem abstrakten Maßstab an diese Entwicklungen herangeht, um sie wieder abzuwerten, sollte man die Entwicklung anerkennen: Das Gymnasium entlässt heute keineswegs bloß ein sozial definiertes „Bildungsbürgertum“, das sich in dieser Institution selbst reproduziert.

Oft wird dem Gymnasium heute aus elitären Kreisen der Vorwurf gemacht, dass seine Expansion das Gesamtniveau gesenkt habe, nach dem Motto: „Das Gymnasium ist heute nicht mehr, was es früher einmal war.“ Demgegenüber kann man aber auch sagen: „Das Gymnasium ist – Gott sei Dank – heute nicht mehr das, was es früher einmal war.“ Entwicklungen haben nicht nur im Sinne einer quantitativen Erweiterung stattgefunden, sondern auch in der Methodik, im Curriculum und in der Professionalisierung im Umgang mit erzieherischen Fragestellungen. Andererseits zeigt das Gymnasium ein strukturelles Beharrungsvermögen, das manche Bildungsreformer auf die Palme bringt: zu geringe Individualisierung, zu viel Frontalunterricht, zu wenig Gruppenarbeit, schematische Klasseneinteilung, schematischer Stundenplan, zu viele Sitzenbleiber, wenig Projektorientierung mit fächerübergreifendem Lernen.

 

Beharrung als Stärke

Das mag sich alles tatsächlich so verhalten. Andererseits ist das Beharrungsvermögen des Gymnasiums – und eigentlich überhaupt von Schule – auch eine Stärke. Schule braucht Zeit für Veränderung. Manche methodische, curriculare oder andere Idee, die im bildungspolitischen Diskurs zunächst allen plausibel erscheint, erweist sich nachträglich als mindestens ambivalent – die Geschichte von G8 hat das in den letzten Jahren besonders deutlich gezeigt. Ein anderes Beispiel betrifft die Einschätzung von Frontalunterricht: Die Hirnforschung belegt inzwischen die Erkenntnis, dass Unterrichtsmethoden für den Lernerfolg zweitrangig sind gegenüber der Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehung.[3] Mit anderen Worten: Ob frontaler Lehrervortrag oder Partnerarbeit – nicht die Methode entscheidet über den Lernerfolg, sondern die Qualität der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden. Diese ist aber unzureichend beschrieben, wenn sie seitens der Lehrenden auf das bloße Management von Lernprozessen reduziert wird.

Das Beharrungsvermögen der Institution hat im Übrigen auch einen qualitätssichernden Aspekt: Wenn sich Schule zu schnell den wechselnden Plausibilitäten unterwirft, die an sie herangetragen werden, dann gerät sie in einen sie überfordernden „Slalom“, der sie aus der Kurve trägt. Die aktuelle Diskussion um eine Rückkehr zu G9 ist dafür ein schönes, eigentlich eher trauriges Beispiel. Damit geht dann im Ergebnis mehr verloren, als durch schnelle Reformen gewonnen wird. Dem Erfahrungswissen von Lehrerinnen und Lehrern um diese Zusammenhänge sollte mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, als dies gegenwärtig geschieht. Es gibt einen nicht auf ökonomische und andere, noch so legitime gesellschaftliche Interessen reduzierbaren Diskurs über Schule und Bildung, der mit der Würde des Geschehens in der Schule selbst zu tun hat. Daran hält das Gymnasium als Institution selbstbewusst fest.

In einer PISA-Studie wird bemerkt: „Auch dort, wo die mittleren kognitiven Grundfähigkeiten der Schülerinnen und Schüler relativ niedrig sind, arbeitet das Gymnasium immer noch auf hohem Niveau.“ Das heißt konkret: „Die Institution übertrifft in ihrem Einfluss die Komposition“,[4] die Schülerzusammensetzung. Das Gymnasium erbringt also für diejenigen Schüler, die es erreichen, eine Leistung, die nicht abhängig ist von ihrer sozialen Herkunft. Es gibt zwar Einschränkungen insbesondere im naturwissenschaftlich-mathematischen Bereich (vergleiche Trends in International Mathematics and Science Study TIMMS), aber diese reichen nicht aus, um der pessimistischen Klage über den angeblichen Niedergang des Gymnasiums und damit des „Bildungsbürgertums“ recht zu geben.

 

Zivilgesellschaftliches Bewusstsein

In dem Begriff des „Bildungsbürgertums“ werden zwei Worte miteinander verknüpft, die jenseits aller Polemik von Bedeutung für das Bildungssystem und seinen Ort in der Gesellschaft sind: „Bildung“ und „Bürgertum“. Wer den Begriff des Bürgertums eher mit dem Klischee von Spießigkeit, Kulturbeflissenheit und Borniertheit verbindet, kann auch von „Zivilgesellschaft“ sprechen. Das „Bürgertum“ ist jedenfalls jener Teil der Gesellschaft, der sich „zivilgesellschaftlich“ versteht und betätigt, also den Einsatz für das Allgemeinwohl nicht bloß dem Staat überlässt. Man darf es schärfer pointieren: Die Gesellschaft selbst muss ein Interesse daran haben, dass der Anteil an zivilgesellschaftlichem Bewusstsein in ihr möglichst groß ist. Ein Staat ohne eine ihn tragende und auch ihm gegenüber agierende Bürgergesellschaft wäre bloß ein Koordinator von Einzelinteressen; die „Bürgerinnen und Bürger“ dieses Staates würden sich ihrerseits nur als Anwälte ihrer eigenen Interessen verstehen, nicht aber als Anwälte des Allgemeinwohls. Das würde im Ergebnis Politik auf die Organisation von Macht reduzieren, wie sie faktisch vorgegeben ist.

Bildung hat, wenn sie mehr sein soll als die Vermittlung von Fertigkeiten, die Aufgabe, einen Zugang zur Erkenntnis der Bedeutung von Allgemeinwohl oder, anders ausgedrückt, zu sittlicher Erkenntnis zu eröffnen. Das jedenfalls war das erklärte Ziel der humanistischen Bildungsbewegung, aus der das Gymnasium entstanden ist. Der „Bildungsbürger“ wäre, so gesehen, ein „schwarzer Rappe“: Zum Begriff des „Bürgers“ gehört der Begriff „Bildung“ unverzichtbar dazu. Lesen, Schreiben und Rechnen, die drei Basiskompetenzen von PISA, sind notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für Bildung in diesem Sinne. Aus diesen notwendigen Fertigkeiten entsteht noch kein Bürgertum, kein zivilgesellschaftliches Bewusstsein. Es reicht nicht, die Goldene Regel aufsagen zu können. Es kommt vielmehr darauf an, sie selbst denken zu können, kritisch, nicht nur reproduzierend.

 

Lehre und Hebammenkunst

Dazu bedarf es einer Methode, die den Lernenden gerade nicht zu einem bloßen Empfänger von Informationen degradiert. Seit Sokrates wird die Methodik, die für das Gymnasium in europäischer Tradition grundlegend ist, Mäeutik genannt – „Hebammenkunst“. Wie eine Hebamme entlockt der Lehrende dem lernenden Menschen die Erkenntnis, die er oder sie eigentlich schon in sich trägt. Das Christentum hat diese Lehrtradition übernommen, jedenfalls in seinen besseren Vertretern: Augustinus, Ignatius von Loyola, Philipp Melanchthon, Angela Merici – um nur einige Klassiker der christlichen Pädagogik zu nennen. Die Aufklärung schließt sich mit ihrem Ruf an diese Tradition an: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Das Gymnasium hat den Schülerinnen und Schülern die Mittel an die Hand zu geben, sich ebendieses Verstandes zu bedienen. Immanuel Kant ergänzt, dass es dabei um die „öffentliche“ Verstandesbetätigung geht. Das Klassenzimmer des Gymnasiums ist der Ort, an dem diese Betätigung öffentlich beginnt. Vernunft ist also keine Privatangelegenheit. Sie ist mehr als bloß „Schlauheit“ im Dienste der optimalen Durchsetzung der eigenen Interessen. Vielmehr ist sie Medium der Erkenntnis von öffentlichen Anliegen und soll deswegen auch im öffentlichen Raum der Schule eingeübt werden.

 

Anfangen, selbst zu denken

Die Betätigung des eigenen Verstandes zu erlernen, erfordert ein anspruchsvolles Curriculum mit methodischer Strenge und hoher Fehlersensibilität. Auch die disziplinarische Funktion der Institution steht im Dienst von Bildung in diesem Sinne. Sie hat keineswegs nur die Funktion, Verhalten anzupassen, sondern sie soll im Gegenteil Freiräume ermöglichen, in denen die Schülerinnen und Schüler anfangen können, selbst zu denken und zu eigenen Erkenntnissen zu kommen, ohne sich bloß anpassen zu müssen an die Erwartungen der Mode, der Mehrheit, der Familie oder des Marktes. In diesem Sinne geht es im Gymnasium um Reifung der Persönlichkeit – um die Entdeckung der eigenen Personenwürde, der eigenen Reflexions- und Verantwortungsfähigkeit. Um es am Beispiel der neuen Medien deutlich zu machen: Wenn diese heute immer mehr in den Schulalltag hineingehören sollen, dann nicht deswegen, weil die Schüler in der Schule lernen sollen, wie man Computer bedient und Programmiersprachen schreibt; das können sie ja meist schon besser als ihre Lehrer. Vielmehr geht es darum, den kritischen Umgang mit den Medien zu lernen – die Unterschiede zwischen virtueller und realer Welt, zwischen anonymer und personaler Kommunikation, die bleibende Bedeutung von eigenständiger Recherche, die ihrerseits auch ein kritisches Verhältnis zu den Informationen im Netz ermöglicht.

Nicht erst die neuen Medien stellen die Schulpädagogik vor die Aufgabe, Kritikfähigkeit einzuüben. Abhängigkeit von Medienmachern ist Unfreiheit, Bildung als Kritikfähigkeit befreit. Diese Erkenntnis steht ebenfalls im Hintergrund der humanistischen Bildungsbewegung, aus der das Gymnasium ebenso wie das „Bildungsbürgertum“ hervorgegangen ist. Der Umgang mit Sprache war und ist dafür entscheidend – weswegen er das Herzstück des gymnasialen Curriculums ist. Erst der Rückgriff auf griechische und hebräische Urtexte ermöglichte im 16. Jahrhundert eine Kritik der Übersetzungen und löste die Abhängigkeiten auf. Dasselbe gilt für die Begegnung zwischen zeitgenössischen Sprachen und Kulturen. Die Sprache des Anderen eröffnet zugleich einen neuen Blick auf die eigene Sprache.

 

Hinführung zur bürgerlichen Freiheit

Die Bedeutung von Sprache im Curriculum des Gymnasiums hängt mit der Hinführung zu bürgerlicher Freiheit zusammen. Bürgerin oder Bürger ist, wer sich nicht mit der bloßen Hörigkeit gegenüber Autoritäten begnügt – sei es die Hörigkeit gegenüber den Moden, den Medienmachern oder gegenüber dem Obrigkeitsstaat. Ruhe ist eben gerade nicht die erste Bürgerpflicht. Wenn das Bürgertum in Deutschland in den Jahren 1933 bis 1945 vielfach versagt hat, dann gerade deswegen, weil es sich spätestens im 20. Jahrhundert auf unpolitisches, kulturkonservatives Terrain zurückgezogen hatte und den totalitären Mächten nicht mehr entgegensetzte als einen schwächlichen Gestus ästhetisierender Verachtung des „Proletariats“ oder des „ungebildeten“ Massenmenschen. Bürgerliches Bewusstsein bedeutet aber genau das Gegenteil: Mitverantwortung für das Ganze.

 

Ästhetische Kompetenz und Herzensbildung

Dennoch gehört zum Begriff des „Bildungsbürgers“ auch sein ästhetisches Qualitätsbewusstsein. Bei PISA kommt ästhetische Kompetenz nicht oder nur am Rande vor. Entsprechend spielen die Fächer Kunst, Theater und Musik in Überlegungen der Bildungsplaner eine immer geringere Rolle. Durch die G8-Reformen mussten Stundentafeln gekürzt werden – die ästhetischen Fächer haben als erste darunter gelitten. Die gleichzeitige Unterwerfung von immer mehr Zeit am Tage unter das Diktat der Schul-Logik (verpflichtende Präsenz, Notengebung und so weiter) hat den freiwilligen Bereich an Schulen strukturell geschwächt, in dem gerade Schulorchester, Schulchor oder Schultheater aufblühten. Die Schwächung von ästhetischer Bildung schwächt aber auf Dauer bürgerliches Bewusstsein, weil ästhetische Bildung emotionale Intelligenz fördert – oder, um es in der Sprache der Ignatianischen Pädagogik zu sagen: die Kunst, zu „verkosten und zu schmecken“, die Kunst, innere Affekte wahrzunehmen und zu „unterscheiden“. Es gibt nicht nur die raison de la raison, sondern auch die raison du cœur (Blaise Pascal), die ihrerseits nicht bloß irrational ist. Herzensbildung fördert Empathiefähigkeit und Bereitschaft zu Kooperation und Solidarität. Sie sind unbedingt notwendig für ein reifes bürgerliches Bewusstsein. Für Philipp Melanchthon bewirkte allein schon gute sprachliche Bildung Herzensbildung und damit zugleich auch sittliche Bildung. Ein eigenes Fach namens „Werte“ würde ihm vermutlich überflüssig erscheinen, solange das schulische Curriculum den sorgfältigen, in die Tiefe gehenden Umgang mit Literatur vorsieht. Die jesuitischen Schulen machten entsprechend das Theater zu ihrem Markenzeichen und richteten die Architektur ihrer Schulgebäude darauf aus.

Schulpolitik ist nicht bloß ein verlängerter Arm von Gesellschaftspolitik, wenn auch andererseits das Gymnasium in den letzten Jahrzehnten viel dafür getan hat, nicht bloß ein Sammlungsort für soziale Eliten zu werden. Lehrende sind nicht bloß Auftragnehmer – in der Lehrer-Schüler-Beziehung liegt eine eigene Würde, die sich der totalen Kontrolle von außen oder oben entzieht. Die Bildungspolitik der letzten Jahre hat die Schulen mit vielen Strukturreformen befasst und den Verwaltungsaufwand in den Schulen immens erhöht. Die inhaltlichen Fragen, die das Curriculum betreffen, gerieten dabei in den Hintergrund. Das Gymnasium steht aber in der aktuellen bildungspolitischen Gemengelage immer noch für eine widerständige Institution, die der Bildung ein inhaltliches Ziel setzt, nämlich jungen Menschen zu helfen, Bürgerinnen und Bürger zu werden.



P. Klaus Mertes SJ, geboren 1954 in Bonn, von 2000 bis 2011 Rektor des Canisius-Kollegs Berlin, seit September 2011 Direktor des Jesuitengymnasiums Kolleg St. Blasien in Baden-Württemberg.

 

[1] Tenorth, Heinz-Elmar: „Das Gymnasium – Leitinstitution des deutschen Bildungswesens“, in: Jahrbuch Canisius-Kolleg 2008, S. 119 ff. Wesentliche Aussagen des vorliegenden Artikels verdanken sich diesem Vortrag.
[2] Zitiert nach Tenorth, Heinz-Elmar: a. a. O., S. 124.
[3] Vgl. Bauer, Joachim: „Die Bedeutung der Beziehung für schulisches Lehren und Lernen“, in: PÄDAGOGIK 7 – 8/10, S. 6 – 9.
[4] Zitiert nach Tenorth, Heinz-Elmar: a. a. O., S. 125.

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