Gerade bei vielen klassischen politischen Themen sind die Massenmedien die Hauptquelle der Meinungsbildung. Was die Bürger wissen oder zu wissen glauben – beispielsweise über die Bundeskanzlerin, die Ereignisse in Ägypten, den Treibhauseffekt et cetera – wissen sie fast ausschließlich aus den Medien. Und doch gibt es einige Politikfelder, bei denen diese Wirkungskette teilweise außer Kraft gesetzt ist. Die Bildungspolitik ist das beste Beispiel dafür.
Seit rund vierzig Jahren ist in der Politik immer wieder versucht worden, das mehrgliedrige Schulsystem zugunsten von Gesamtschulen aufzugeben oder auszuhöhlen. Und immer wieder sind solche Versuche trotz der massiven Unterstützung durch die Berichterstattung am entschiedenen Widerstand der Bevölkerung gescheitert – beispielsweise 1978, als die nordrhein-westfälische Landesregierung ihre Absicht aufgeben musste, die Gesamtschule flächendeckend einzuführen.
Wahrscheinlich gibt es kaum ein Thema, das für die meisten Bürger so wichtig ist und bei dem sie so unmittelbar aus eigener Erfahrung schöpfen können wie die Schulpolitik. Schließlich werden die meisten Menschen früher oder später Eltern von Schulkindern und bleiben es viele Jahre lang. Sie können täglich in der eigenen Familie beobachten, welche Folgen es hat, wenn Kinder mit großen Unterschieden in der Leistungsfähigkeit in derselben Klasse unterrichtet werden, und wie sich verschiedene pädagogische Konzepte auf die Leistungen und das Verhalten ihrer Kinder auswirken.
Als im Jahr 2010 die Hamburger Bürger in einem Volksentscheid die geplante Schulreform ablehnten, schrieb Der Spiegel, das sei ein Rückschlag für alle, die Schulen im Sinne sozial benachteiligter Schüler verbessern wollten, und verwies darauf, dass sich in den wohlhabenden Stadtteilen mehr Bürger an der Abstimmung beteiligt hätten als in den sozial schwächeren Vierteln. Damit sollte wohl suggeriert werden, das Abstimmungsergebnis spiegle nicht die wahre Mehrheitsmeinung der Bevölkerung wider. Doch das ist ein Irrtum, denn die Hartnäckigkeit, mit der sich die Deutschen auch nach vierzig Jahren dem intensiven öffentlichen Werben für Gemeinschaftsschulen verschließen, beeindruckt.
Auch sozial Schwache mehrheitlich für gegliedertes Schulsystem
Im Auftrag der Vodafone Stiftung verwirklichte das Institut für Demoskopie Allensbach im Frühjahr 2013 eine umfangreiche Untersuchung zum Bildungsalltag an den Schulen. Neben der erwachsenen Bevölkerung ab sechzehn Jahren wurden Lehrer und Schüler gesondert befragt. Dabei wurde auch die folgende Frage gestellt: „Was finden Sie persönlich besser: wenn es nach der Grundschule eine Gemeinschaftsschule für alle Schüler gibt, in der für begabte Schüler spezielle Leistungskurse angeboten werden, oder wenn es nach der Grundschule ein mehrgliedriges Schulsystem gibt, zum Beispiel mit Gymnasien einerseits und einer Mischform aus Haupt- und Realschule andererseits?“ Nur 34 Prozent sprachen sich in der Bevölkerungsumfrage für die Gemeinschaftsschule aus, eine klare Mehrheit von 51 Prozent bevorzugte das gegliederte Schulsystem. Wer über eigene aktuelle Erfahrungen mit Schulen verfügte, neigte überdurchschnittlich häufig dazu, das gegliederte Schulsystem zu bevorzugen: Eltern von Schulkindern sagten zu 54 Prozent, sie fänden dieses besser als Gemeinschaftsschulen. Eltern von Kindern an weiterführenden Schulen gaben zu 61 Prozent dieselbe Antwort. Eindeutig war auch das Urteil der Lehrer: Sie gaben zu 59 Prozent dem gegliederten Schulsystem den Vorzug
Besonders auffällig ist, dass sich die Eltern aus den unteren sozialen Schichten sogar noch deutlicher als wohlhabendere Befragte für das gegliederte Schulsystem aussprachen. Hier macht sich ein Denkfehler bemerkbar, der bei aufgeladenen Debatten häufig auftritt: Mit großer Vehemenz wird in der Öffentlichkeit immer wieder behauptet, die Menschen in den unteren sozialen Schichten befürworteten Gemeinschaftsschulen. Und weil die Behauptung so einleuchtend erscheint, kommt kaum jemand auf den Gedanken, zu prüfen, ob sie auch tatsächlich stimmt. Tatsächlich wird sie meist von Menschen aufgestellt, die nicht dem betreffenden Personenkreis angehören. Die wirklich Betroffenen selbst kommen nur selten zu Wort.
Vorteil homogener Gruppen
Des Weiteren wurden die Befragten gebeten, anzugeben, was ihrer Meinung nach für gute Schüler besser sei: „wenn sie in einer Klasse mit anderen ähnlich guten Schülern unterrichtet werden oder wenn sie in einer Klasse sind, in der es große Leistungsunterschiede zwischen den Schülern gibt, in der also auch deutlich schwächere Schüler sind“. 65 Prozent der Befragten sagten, es sei besser, wenn solche Schüler mit anderen ähnlich begabten Kindern unterrichtet würden. Bei einer analog formulierten Frage, in der gebeten wurde, einzuschätzen, welche Klassenzusammensetzung für schwächere Schüler besser sei, entschied sich ebenfalls eine – allerdings knappe – Mehrheit von 41 zu 38 Prozent für die homogenere Gruppe.
Mehrheit der Lehrer, Eltern und Schüler für das „Sitzenbleiben“
Auch andere wiederkehrende Reformvorschläge, die meist mit dem Argument vorgebracht werden, dass sie die Chancengleichheit an den Schulen steigerten, werden auffallend deutlich abgelehnt. So sprechen sich klare Mehrheiten der Lehrer, Eltern und sogar der Schüler dagegen aus, das Sitzenbleiben abzuschaffen. Auch das zurzeit mit großer Emotion diskutierte Thema der Inklusion wird zum Teil mit Skepsis betrachtet: Während fast zwei Drittel der Lehrer sagen, körperlich behinderte Schüler hätten in einer regulären Schule bessere Integrationschancen als in einer speziellen Förder- oder Sonderschule, ist die Meinung in Bezug auf geistig behinderte Kinder ganz anders – sechzig Prozent der Lehrer meinen, dass diese Kinder besser auf einer besonderen Schule aufgehoben seien.
Alle diese Resultate deuten darauf hin, dass die fortgesetzten Versuche, die Bevölkerung von rein theoriegeleiteten, letztlich meist weltanschaulich begründeten pädagogischen Konzepten zu überzeugen, an der millionenfachen praktischen Erfahrung der Eltern, Lehrer und Schüler scheitern. Solange die Familien täglich selbst erleben, was in der Schule funktioniert und was nicht, stößt die Medienwirkung an ihre Grenzen.
Thomas Petersen, geboren 1968 in Hamburg, Projektleiter am Institut für Demoskopie Allensbach.
Für den kompletten Beitrag inklusive Grafikmaterial nutzen Sie bitte das PDF-Format.