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Extremistische Gewalt als „islamisches Problem“, und was hat das mit Überlegenheitsvorstellungen zu tun?

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Seit den Anschlägen am 11. September 2001 in New York sind mittlerweile zwanzig Jahre vergangen. In dieser Zeit ist es uns kaum gelungen, das Phänomen der extremistischen Gewalt durch Muslime vollständig und vor allem akkurat zu erfassen: Die „Islamdebatte“ im öffentlichen Raum pendelt zwischen einer grundsätzlich religionsskeptischen „Islamkritik“ auf mehrheitlich nicht muslimischer Seite und einer chronischen Verdrängungshaltung aufseiten der muslimischen Verbandsvertreter hin und her. Wir haben uns in dieser öffentlichen Debatte in eine diskursive Sackgasse manövriert, in der es uns nicht mehr gelingt, Schlussfolgerungen zu ziehen, wie ein fruchtbares Zusammenleben in einer zunehmend vielfältigen und multireligiösen Einwanderungsgesellschaft aussehen und gestaltet werden kann.

Der islamkritische Diskurs erlebt die Muslime in einer Dauerschleife der Bekundung, dass Islam Frieden bedeutet und extremistische Anschläge unislamisch sind. Gleichzeitig ist aber zu beobachten, dass extremistische Attentäter ihre Mordtaten ausdrücklich religiös motiviert verstanden wissen wollen und diese auch als Ausdruck einer vermeintlich besonders authentischen Frömmigkeit stilisieren.

Die extremistischen Attentäter werden durch das nicht muslimische Publikum der Nachrichtensendungen so wahrgenommen, wie sie sich selbst inszenieren – als besonders fromme Muslime, die den „Mut“ haben, die Dogmen ihrer Religion bis zur letzten, tödlichen Konsequenz zu exekutieren, wohingegen alle anderen Muslime dies aus Schwäche oder Bequemlichkeit unterlassen würden.

Vor diesem Wahrnehmungshintergrund erstaunt es nicht, dass sich eine – in einer pluralistischen Gesellschaft anzustrebende – Atmosphäre der einander neugierig zugewandten Offenheit letztlich in ein Grundmisstrauen umgekehrt hat. Heute und mehr als vor zwanzig Jahren scheint das Vorurteil, dass „Deutsch“ das Gegenteil von „Muslim“ sei, zu einer allgemeinen Gewissheit erstarrt. Gerade weil der Islam nahezu ausschließlich negativ konnotiert ist und überwiegend negative Assoziationen weckt, wird das deutsche „Eigene“ gegenüber diesem muslimischen „Fremden“ als all das verstanden, was der Islam vermeintlich nicht ist. Und damit als Gegenteil dessen, was Muslimen zugeschrieben wird und was sie religiös prägt.

 

Ungleichgewichtiges Vergleichen

 

Dieses Bewusstsein bedient sich im Gewand der öffentlichen und als „islamkritisch“ apostrophierten Debatte einer nunmehr zwanzig Jahre andauernden Praxis des ungleichgewichtigen Vergleichs. Mit einer tief verwurzelten, aber nicht immer deutlich ausgesprochenen Selbstwahrnehmung von der Überlegenheit der westlich-europäischen Kulturen und der christlichen Religion werden ganz unterschiedliche Einzelaspekte der jeweiligen Glaubens- und Lebenswelten verglichen, um letztlich nur das eigene Vorurteil und die daraus resultierende Abwertung zu bestätigen.

Die differenzierten Facetten jahrhundertealter christlicher Theologie mitsamt ihren philosophischen Errungenschaften werden verglichen mit den „Fünf Säulen“ islamischer Religionspraxis. Und siehe da: Die Frage nach der intellektuellen Komplexität der Glaubenswelten ist scheinbar eindeutig beantwortet. Der Horizont humanistischer Aufklärung wird verglichen mit dem von nihilistischen Massenmördern. Und siehe da: Die einen lieben das Leben, die anderen den Tod. Die Grundwerte demokratisch-pluralistischer Gesellschaften werden verglichen mit den Regimen diktatorisch-absolutistischer Despoten. Und siehe da: Die Fremden dürfen hier all das, was Deutsche in deren Heimat nicht dürfen.

In ihrer gesellschaftlichen Wirkung sind dies höchst effektive Überlegenheitserzählungen, die das Fundament einer pluralistischen, freiheitlichen Gesellschaft erodieren lassen. Gleichberechtigung und Gleichbehandlung werden dadurch zu einer verfassungsrechtlichen Bürde, weil eine unterschwellige Überzeugung existiert, wonach die deutsche und damit als nicht muslimisch definierte Gesellschaft eben nicht mit Muslimen „gleichwertig“ sei. Bis hin zu biologistischen Argumentationen ist die Überzeugung in die Gesellschaft eingesickert, im Vergleich zu Muslimen sei man zivilisatorisch fortschrittlicher, gesellschaftlich weiter entwickelt, tugendhafter, fleißiger, leistungsfähiger und klüger.

Was hat der Islam denn schon gebracht, außer dem Schwert und Zerstörung? Das ist in weiten Teilen der Gesellschaft keine offene Frage mehr – obwohl seit Jahrzehnten Muslime in diesem Land leben. Oder gerade deshalb? Diese Phänomene und ihre Bedeutung im Zusammenhang mit antimuslimischer Gewalt dürfen wir nicht als Normalzustand unserer Gesellschaft hinnehmen.

 

Antagonistische Rollen

 

Die Problematik einer solchen gesellschaftlichen Entwicklung wird durch die eigenen Überlegenheitserzählungen der muslimischen Gemeinschaften in Deutschland und das Unvermögen ihrer Verbandsvertreter, die eigene Verantwortlichkeit im Kampf gegen religiös verbrämten Extremismus zu erkennen, verstärkt.

Das dauerhafte Verdrängungsmuster, wonach Islam Frieden bedeutet und es demnach denklogisch keine muslimischen Extremisten geben könne, ist nicht nur offenkundig abwegig, sondern in seinem Duldungseffekt geradezu kontraproduktiv. Die an Muslime adressierte Distanzierungserwartung der nicht muslimischen Gesellschaft wird als diskriminierende Stigmatisierung begriffen und zurückgewiesen, wodurch sich die gegen Muslime gerichtete Ausgrenzungserfahrung zunehmend zu einer von eigenen muslimischen Überlegenheitsvorstellungen flankierten Selbstausgrenzung wandelt. Die muslimischen Vertreter pochen darauf, dass es keine Nähe zu extremistischen Attentätern gibt, dass das alles nichts mit dem Islam zu tun hat. Ihre Reaktion auf wiederkehrende Gewalt erschöpft sich in der wiederkehrenden Zurückweisung jeglicher eigenen Verantwortung.

Es ist jedoch von zentraler Bedeutung für die Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenlebens, dass sich alle Muslime und mit ihnen eben auch die muslimischen Verbände darauf besinnen, welche tatsächlichen Konsequenzen eine solche Haltung in und zu dieser Gesellschaft entfaltet. Denn den extremistischen Kräften ist gemein, dass sie die Erzählung von einer Unvereinbarkeit muslimischen Lebens mit der Lebensweise der vermeintlich ethisch und sittlich minderwertigen nicht muslimischen Gesellschaft propagieren. Viel wirkungsvoller als jeder noch so problematisch interpretierbare Koranvers ist die Etablierung einer solchen antagonistischen gesellschaftlichen Rollenverteilung für die Ausgrenzung und Radikalisierung von vornehmlich jungen Muslimen.

Die Vorstellung, als Muslim dieser nicht muslimischen Gesellschaft als Fremder, als Gegenspieler, als Gegner und letztlich als Feind gegenüberzustehen, ist das Fundament, auf dem Gewaltbereitschaft sich überhaupt erst entwickeln kann.

 

Monolithische Feinde?

 

Den extremistischen Tätern ist gemein, dass sie ihre Opfer nicht vornehmlich als Einzelpersonen wahrnehmen. Die Opfer stehen je nach Kontext der ausgeübten Gewalt stellvertretend für eine Facette der Gesellschaft, die der Täter angreifen will: Es sind die Andersgläubigen, wenn der Täter in einer Kirche oder Synagoge mordet. Es ist die vermeintlich moralisch degenerierte, hedonistische, nicht muslimische Gesellschaft, wenn er in einem Nachtclub oder in einem Straßencafé das Feuer eröffnet. Es ist die aus Sicht des Täters moralisch verwerfliche Gesellschaft, die sündige Lebensweisen duldet, wenn er ein homosexuelles Paar angreift. Es ist letztlich der als monolithischer Feind wahrgenommene Gegner, der all diese Laster in sich vereinigt, wenn der Täter – wie am 2. November 2020 in Wien – wahllos durch die Straßen zieht und vorher erklärt, niemand werde von nun an ohne Angst auf die Straße gehen können, weil ihm andere Täter mit der gleichen Gesinnung nachfolgen werden.

Erst die Vorstellung, dass Muslime als Fremde in dieser Gesellschaft von Feinden umringt sind, sich in ihrer vermeintlich höherwertigeren identitären Wagenburg verschanzt haben, begünstigt und legitimiert für den Täter die Entscheidung, sich nun „mutig“ aus dieser Deckung zu wagen und auf die Feinde zu schießen.

Das sind die Nähe und die Gemeinsamkeit, die die extremistischen Täter durch ihre Tat zu muslimischen Gemeinschaften herstellen. Es ist diese Schnittmenge, die eine Distanzierung erforderlich macht. Nicht die Distanzierung vom Islam oder von Inhalten des Korans. Denn der Weg zur extremistischen Gewalt beginnt nicht mit einem Koranvers. Er beginnt mit dem, was Muslime in ihren Gemeinschaften dulden – mit unwidersprochenem abwertendem Glauben, Denken und Reden in muslimischen Gemeinschaften.

Die Distanzierungserwartung der nicht muslimischen Öffentlichkeit wird von Muslimen stets missverstanden als eine Standortbestimmung in einem dualen Verhältnis zwischen muslimischen Gemeinschaften und dem extremistischen Täter. In Wirklichkeit ist es jedoch eine Erwartung, die die Standortbestimmung in einem triangulierten Verhältnis hinterfragt. Keine noch so große Distanz der Muslime zum extremistischen Täter wird groß genug sein, wird glaubhaft wirken und Vertrauen aufbauen, wenn sich muslimische Vertreter nur dazu äußern, wie weit sie vom Täter und seiner Gewalt entfernt sind. Die offene Frage bleibt, ob die Entfernung, die Muslime zwischen sich und dem extremistischen Täter aufbauen, gleichzeitig eine Annäherung an die nicht muslimische Gesellschaft darstellt. Momentan distanzieren sich die muslimischen Verbandsvertreter öffentlich nur vom extremistischen Täter, ohne dass die Distanz zur nicht muslimischen Gesellschaft dadurch verringert wird. Solange diese Distanzierung nicht gleichzeitig die Annäherung und Verbindung mit der nicht muslimischen Gesellschaft bedeutet, wird sie nicht verstanden oder als verlässlich wahrgenommen werden.

Annäherung und Verbindung bedeutet in diesem Zusammenhang, die hiesige Gesellschaft ausdrücklich als eigene wahrzunehmen und sich für sie einzusetzen. Wer die Meinungsfreiheit nach einem Mordanschlag in Freitagspredigten relativiert, wer sich zur Gewalt in dieser Gesellschaft nur im Kontext der selbst erfahrenen Gewalt gegen Muslime äußern kann, wer immer wieder aktuelle Diskriminierungserfahrungen mit der historischen Judenverfolgung in Europa und insbesondere in Deutschland gleichsetzt, der signalisiert in die Öffentlichkeit, dass er das muslimische „Wir“ nicht als Teil des gesamten gesellschaftlichen „Wir“ wahrnimmt, sondern zwischen einem muslimischen „Wir“ und einem nicht muslimischen „Ihr“ unterscheidet. Solange diese Distanz – welche nur die selbst erlebte Ausgrenzung spiegelt – aufrechterhalten wird, kann sie auf potenzielle extremistische Täter als Rechtfertigung und Bestätigung wirken, diese Gesellschaft als „anderen“, als Gegner und Feind, wahrzunehmen.

Und solange wird es Muslimen nicht gelingen, den Islam als etwas vorzuleben, das einen legitimen und wertvollen Platz in dieser Gesellschaft hat – ihre Religion und damit auch sie selbst werden so dauerhaft als fremd, als bedrohlich wahrgenommen werden.

 

Murat Kayman, geboren 1973 in Lübeck, Studium der Rechtswissenschaften in Kiel, anschließend als Rechtsanwalt in Lübeck und Hamburg tätig, 2014 bis 2017 Jurist des muslimischen Verbands „Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.“ (DITIB), Köln. Nach der Affäre um die Spitzeltätigkeit von Imamen in Deutschland trat er von seinen Ämtern zurück. Er ist Mitbegründer der Alhambra-Gesellschaft, eines Zusammenschlusses von Muslimen, die sich als Europäer begreifen, und Mitverantwortlicher des Podcasts „Dauernörgler“.

 

Welche Überlegenheitserzählungen die beschriebenen Probleme verstärken und wie wir alle diesem Phänomen entgegenwirken können, beschreibt der Autor in seinem Buch Wo der Weg zur Gewalt beginnt. Und was das mit Muslimen zu tun hat (riva Verlag, München), das am 14. September 2021 im Buchhandel erscheinen wird. Der obige Text gibt Grundgedanken aus diesem Buch wieder.

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