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Hat der EZB-Chef die Sparer verraten?

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Eine skeptische Grundstimmung hat sich trotz guter Wirtschaftsdaten unter Anlegern und Sparern in Deutschland breitgemacht – laut einer repräsentativen Umfrage des Bundesverbandes deutscher Banken im Dezember 2014 waren zwei Drittel unzufrieden mit der Entwicklung ihrer Geldanlagen. „Sparer werden enteignet“, zitierte der Focus vom 27. November 2014 die Kritiker und titelte: „EZB-Chef Draghi hat die Sparer verraten“. Erneute Empörung löste die Entscheidung der Europäischen Zentralbank (EZB) aus, erstmals in hohem Maße Staatsanleihen aufzukaufen. Am 22. Januar 2015 verkündete sie das Vorhaben ungekannten Ausmaßes: bis September 2016 ein Anleihenkaufprogramm von sechzig Milliarden Euro pro Monat zu starten (sogenanntes Quantitative Easing, QE).

Für alle Kritiker ist ausgemacht: noch ein Schlag gegen die Interessen der deutschen Sparer! Aber ist es wirklich so? Hat der Sparer in Draghis Welt wirklich keinen Platz? Oder wirken sich die EZB-Entscheidungen vielleicht doch auch zum Vorteil der kleinen Anleger aus?

 

Das Ende der klassischen Geldpolitik

Mario Draghis Politik zu bewerten, heißt zunächst, sie am primären Ziel der EZB zu messen: Preisstabilität für die Eurozone, konkret eine Inflationsrate von etwa zwei Prozent per annum. Ein Blick auf die aktuellen Daten gibt den Befürwortern von Draghis Geldpolitik recht. In der Eurozone – auch speziell in Deutschland – liegt die durchschnittliche Inflationsrate des letzten Jahres mit 0,3 beziehungsweise 0,7 Prozent deutlich unter dem Zielwert. Zumindest insoweit profitieren auch die Sparer und die Bezieher kleiner Einkommen. Ihr Geld schmilzt nicht dahin.

Wenn eine Geldpolitik mit dieser niedrigen Inflation aus Sicht des Sparers als Erfolg gewertet werden kann, warum greift die EZB dann jetzt zum Instrument des QE?

Dass der Geldwert stabil ist, ist eine gute Sache. Nur besteht auch für den Kleinsparer das Problem darin, dass er mit dem angelegten Geld kaum etwas verdient – denn steigende Renditen für Sparer erfordern lohnende Investitionen, welche wiederum eine wachsende Wirtschaft voraussetzen. Dort liegt das Problem der Eurozone, das sich auf die Sparer auswirkt. Trotz einiger ermutigender Entwicklungen bleibt die Situation insgesamt schwierig: Laut der Frühjahrsprognose der Europäischen Kommission wird das Wachstum 2015 im Durchschnitt 1,5 Prozent betragen – mit dem höchsten Wert von 3,6 Prozent in Irland und Malta sowie mit einem Minuswachstum von einem halben Prozent in Zypern als dem niedrigsten Wert. Die Arbeitslosigkeit wird 2015 voraussichtlich zwischen 4,6 Prozent in Deutschland und 25,6 Prozent in Griechenland liegen. Der Durchschnitt beträgt elf Prozent. Die erwartete Inflationsrate wird mit 0,1 Prozent angegeben.

Dies hat zur Folge, dass sich die herkömmlichen Rahmenbedingungen der Geldpolitik quasi ins Gegenteil verkehrt haben. Während es früher üblich war, die Inflationsrate unter zwei Prozent zu halten, lautet das Ziel nun, alles dafür zu tun, um diese zwei Prozent wieder zu erreichen. Diese Zielgröße soll die geldpolitische Voraussetzung für ein höheres Wachstum und damit für höhere Sparer-Renditen sein. Dabei steuert die klassische Geldpolitik mittels des Leitzinses: Ist die Inflationsrate höher als zwei Prozent, wird er erhöht, liegt sie darunter, wird er gesenkt. Nun befindet sich der Leitzins seit September 2014 bereits bei fast null Prozent – eine weitere nominale Senkung als Reaktion auf eine immer geringere Inflation ist also nicht mehr möglich. Das klassische Werkzeug der Notenbanker droht wirkungslos zu werden.

Die Folge ist, dass die Übertragungskanäle der Geldpolitik auf die reale Wirtschaft nicht mehr funktionieren. In dieser Lage ist das QE mit der Freisetzung enormer Finanzmittel ein Ausweg. Mit dieser Politik haben andere Zentralbanken wie die US-amerikanischen Federal Reserve, die Bank of England oder auch die Bank of Japan auf die Wirtschaftskrisen ihrer Länder reagiert. Es ist insofern nicht zu übersehen, dass sich Draghis Politik „in guter geldpolitischer Gesellschaft“ [1] bewegt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Erfahrungen anderer Zentralbanken nicht einfach auf die Eurozone übertragen lassen. Die EZB steht vor der Herausforderung, ihre Geldpolitik auf die gesamte Eurozone, also auf neunzehn (wirtschaftspolitisch) souveräne Staaten, auszurichten. Was für die deutsche Volkswirtschaft passend wäre, könnte für die griechische ganz verkehrt sein. Insofern bleiben die Entscheidungen der EZB stets so etwas wie ein (geld-)politischer Kompromiss.

Ob Draghis „Kompromiss“-Politik ein Vorbote einer neuen Phase der Wirtschafts- und Währungsunion ist, wie seine Unterstützer meinen, soll dahingestellt bleiben. Was aber zutrifft: Sein Ansatz ist zurzeit der einzige geldpolitische Anker, der die Eurozone in ihrer schwersten Krise vor dem Abdriften und Auseinanderbrechen bewahren kann. Aus Sicht der Sparer ist das eine fundamentale Frage, denn ein Zerfall der Eurozone würde einen kaum abschätzbaren Vertrauensverlust für den Euro mit sich bringen – für die Währung, in der die deutschen Sparer ihre Anlagen halten.

Durch entschiedene, wenn auch aus deutscher Sicht unbestreitbar schwer nachvollziehbare Schritte ist es gelungen, das akute Risiko für die gesamte Eurozone beherrschbar zu machen: die Spekulation einiger Finanzmarktteilnehmer nicht nur gegen einzelne Mitgliedstaaten, sondern auch auf das Auseinanderbrechen der Eurozone als Ganzes. Ein Fortbestehen dieses Risikos hätte alle weiteren Reformen in der Eurozonenarchitektur wie in den Mitgliedstaaten dauerhaft konterkariert. Draghis Entscheidungen setzten dem zumindest vorerst ein Ende.

 

Risiken und Nebenwirkungen

Zweifellos bleibt der Weg Mario Draghis riskant. Seine Kritiker warnen mit guten Argumenten vor dem QE. Sie verweisen vor allem darauf, dass die niedrigen Inflationswerte hauptsächlich auf den geringen Ölpreis zurückzuführen seien. Sobald dieser wieder ansteige, werde auch die Inflation zurückkehren, ohne dass dazu ein kostspieliges QE-Programm vonnöten sei. [2] Es werden aber auch grundsätzliche Zweifel erhoben. Denn anders als klassische Geldpolitik kann sich QE auch negativ auf die staatliche Haushaltspolitik auswirken. Der Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB versorgt den Geldmarkt nicht nur mit Liquidität, er reduziert auch den Zins auf Staatsanleihen und erleichtert die Finanzierung der Staatshaushalte. Damit wird der Anpassungsdruck in den Staaten reduziert, die aufgrund ihrer problematischen wirtschaftlichen Lage höhere Zinsen für ihre Finanzierung zahlen müssen. Diesen Ländern eröffnet das QE-Programm mehr Zeit, um ihre wirtschaftlichen Strukturprobleme zu überwinden. Aus Sicht der Sparer wären aber gerade schnell greifende Strukturreformen die Grundlage höherer Zinsen und Renditen – denn nur Reformen werden auf einen nachhaltigen Wachstumskurs zurückführen.

Darüber hinaus bewegt die Sparer die Frage, ob eine enorme Erhöhung der Geldmenge nicht doch mittel- bis langfristig zu einer starken Inflation führen könnte, da sich die zusätzliche Geldmenge zwangsläufig in höheren Preisen niederschlagen muss. Geprägt durch die Hyperinflationserfahrung in den 1920er-Jahren und erfüllt von einer hohen Sparneigung, reagieren insbesondere die Deutschen sensibel. Sollte sich dieses Szenario einstellen, wären es tatsächlich die Geldsparer und Gläubiger, die eine massive Enteignung ihrer Anlagen und Forderungen hinnehmen müssten. Derzeit aber sprechen die Zahlen gegen eine Zunahme der Inflation. Insgesamt sind die Verbraucherpreise weitgehend stabil, auch begünstigt durch niedrigere Rohstoffpreise. Doch insbesondere die Börsenpreise, welche nicht in der Inflationsrate abgebildet werden, und in bestimmten Regionen auch die Immobilienpreise eilen von einem Hoch zum nächsten. Da viele Deutsche ihr Vermögen lieber klassisch sparen, statt es in Aktien zu investieren, und die Eigenheimquote hierzulande unterdurchschnittlich ist, profitieren die hiesigen Anleger weniger von den steigenden Aktien- und Immobilienpreisen, tragen aber in der Tat das Risiko der EZB und ihrer Politik mit: einerseits in Form eines künftigen Inflationsrisikos und andererseits bereits heute in Form geringerer Verzinsung.

 

Harte oder weiche Währung

Die Formel „Draghi gegen die deutschen Sparer“ greift dennoch zu kurz. Da der Sparer genauso Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, Investor, Konsument oder Immobilienbesitzer ist, ist ein Blick allein auf die deutschen Ersparnisse unzureichend. Als Exportnation liegt es insbesondere im Interesse Deutschlands, einen stabilen Euro zu haben und Teil einer stabilen Währungsunion zu sein. Und dies erfordert Stabilität in allen Mitgliedsländern, und dieser gemeinsame Blick muss bei der Bewertung der EZB-Politik berücksichtigt werden.

Ein niedrig bewerteter Euro als Folge der EZB-Geldpolitik stärkt den Export. Aber er hat auch zur Folge, dass Importe deutlich teurer werden. Auch dies ist ein Preis, der für die Stabilisierungspolitik der EZB zu bezahlen ist. Es wäre eine fatale Aussicht, wenn der Euro aufgrund der unorthodoxen Maßnahmen der vergangenen Monate auf Dauer das Image einer „weichen“ Währung erhielte. Als „Weichwährungsgebiet“ wird die Eurozone bei den Menschen und den Märkten kaum eine Zukunft haben.

 

Geldpolitische Gegenwelten?

Wie hoch ist das Risiko einzuschätzen, eine solche „weiche“ Währung zu bekommen? Auch darüber ist die Bandbreite der unterschiedlichen Einschätzungen erheblich. Einerseits gibt es Ökonomen wie Jürgen Stark oder den Bundesbankpräsidenten Jens Weidmann, die in der Tradition der Bundesbank für eine „harte“ Währung votieren und seit Langem auf die Gefahren des billigen Geldes hinweisen. Andererseits stellen insbesondere Ökonomen des englischsprachigen Raums die Vorteile einer Politik des QE heraus. So wird dem US-Dollar, trotz des enorm hohen Einsatzes von QE in den USA durch die Federal Reserve, weiterhin die Rolle einer Leitwährung zugesprochen.

In der Person Mario Draghis, so ist zu hoffen, könnte sich der Respekt für beide Ansätze vereinen. Durch seine Stationen als Wissenschaftler in Harvard und als Investmentbanker bei Goldman Sachs ist er gewiss stark durch die angelsächsische Finanzwelt geprägt. Ökonomen wie der ehemalige Präsident der Federal Reserve, Ben Bernanke, oder der Nobelpreisträger Paul Krugman gehören zu seinem Netzwerk. In beiden Fällen handelt es sich um Vertreter des Neo-Keynesianismus, die für eine expansive Fiskal- und Geldpolitik stehen.

Doch es greift zu kurz, Draghi allein als „Neo-Keynesianer“ zu bezeichnen. Sein Berufsweg ist auch durch andere Erfahrungen geprägt. Dazu gehört die italienische Inflation Mitte der 1970er-Jahre, die, wie in einem Interview mit der ZEIT vom 15. Januar 2015 nachzulesen ist, nachhaltig auf ihn gewirkt hat. Als ehemaliger Gouverneur der italienischen Notenbank kennt er die schwerwiegenden makroökonomischen Probleme einer schwachen Währung. Insofern ist es nicht zu erwarten, dass er die kritischen Stimmen aus dem Umfeld der Deutschen Bundesbank nicht nachvollziehen kann.

Während Draghis Politik in Deutschland teils heftigen Widerspruch erntet, geht sie in den Augen einiger achtbarer Wirtschaftswissenschaftler nicht weit genug. Ihre Kritik gründet sich darauf, dass sich die QE-Maßnahmen wegen der besonderen inhomogenen Struktur der Eurozone nicht im gleichen Maße förderlich auswirken könnten, wie es in anderen Währungsräumen – etwa in den USA – geschehen sei. Daher müsse im Euro-Raum mehr geschehen; weitaus größere Summen als derzeit müssten vorgesehen werden („Why Mario Draghi’s Massive QE May Not Be Enough“, Financial Times vom 22. Januar 2015).

Die Vorstellungen über die EZB-Geldpolitik gehen also weit auseinander. Dass Draghi es mit seiner Politik niemandem recht machen kann, verdeutlicht die besonderen Schwierigkeiten der derzeitigen Lage. Das jetzige Vorgehen erscheint vor diesem Hintergrund erneut wie ein geldpolitischer Kompromiss – und Kompromisse liegen bekanntlich in der guten Tradition europäischer Politik.

 

Entscheidet die Zukunft?

Ob dieser Kompromiss trägt, hängt nicht allein von Draghi ab. Dies liegt nun vor allem auch in den Händen der politischen Akteure, die die Strukturen der Eurozone weiterentwickeln und die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit ihrer Mitglieder sicherstellen müssen. Nur dann wird dem Währungsverbund dauerhaft Vertrauen entgegengebracht werden. Draghis unorthodoxe Maßnahmen waren vielleicht notwendig, um den Zusammenbruch der Währung zu verhindern. Seine Schritte müssen aber die Voraussetzung dafür sein, mittel- bis langfristig wieder auf den Pfad der klassischen Geldpolitik zurückzukehren. Das heißt, ihr Primärziel ist die Stabilität der gemeinsamen Währung, das fiskalische Fundament der Währung ist nun wieder allein denen überlassen, die dafür gewählt werden: den verantwortlichen (Wirtschafts-)Politikern. Dann könnte es sein, dass Draghi und die deutschen Sparer doch nicht in verschiedenen Welten leben.

 

 

Matthias Schäfer, geboren 1968 in Stuttgart, Leiter Team Wirtschaftspolitik, Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Lukas Block, geboren 1989 in Bielefeld, ehemaliger Praktikant im Team Wirtschaftspolitik, Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.


[1] Auch der frühere Paragraf 21 Bundesbankgesetz ließ den Aufkauf öffentlicher Anleihen über den offenen Markt zu. Dieses streng begrenzte Instrumentarium durfte aber ausschließlich der geldpolitischen Steuerung dienen, indem den Banken durch den Erwerb der Anleihen Liquidität zugeführt wurde, um einen Anstieg des Zinsniveaus zu begrenzen.

[2] Wirtschaftsdienst, Heft 3, März 2015.

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