Lilo Fuchs, geboren 1953 in Jena, studiert nach dem Abitur Psychologie in Jena. Hier trifft sie auf ihren Kommilitonen Jürgen Fuchs, der bereits erste Texte über die Unterdrückungsmechanismen in der DDR geschrieben hat. Als sie 1974 heiraten, sind sie längst im Visier der Stasi. Nach Fuchs’ Exmatrikulation, trotz abgeschlossenen Studiums, bringt Wolf Biermann das junge Paar mit dem Auto nach Grünheide in das Gartenhaus von Katja und Robert Havemann. Nach der Verhaftung ihres Mannes im November 1976 folgen Lilo Fuchs Stasi-Bewacher auf Schritt und Tritt. Und auch nach der Ausbürgerung geht die ständige Observierung der Familie Fuchs in West-Berlin weiter.
Am 19. November 1976, als Dein Mann verhaftet wurde, wart ihr gewissermaßen bereits auf der Flucht.
Lilo Fuchs: Zum Zeitpunkt von Jürgens Verhaftung befanden wir uns nicht mehr in meiner Heimatstadt und Jürgens Studentenstadt Jena. Was ihm zugedacht war, hatte man ihm im Zuge seiner Exmatrikulation deutlich gemacht: „Wenn Sie nicht aufhören mit Ihrem ganzen Geschreibe und Aktivitäten, dann sind Sie reif für das Gefängnis.“ Wolf Biermann hat uns daraufhin zu Katja und Robert Havemann nach Grünheide gebracht. Das Angebot haben wir in dieser Situation angenommen.
Ihr lebtet ein reichliches Jahr auf Havemanns Grundstück, an dem von Wolf Biermann besungenen Möllensee. Wie schwierig war das zwangsläufig so zurückgezogene Leben?
Lilo Fuchs: Unser regulärer Plan war, dass wir innerhalb der DDR als Psychologen arbeiten, und Jürgen wollte schreiben. Aber das ging unter diesen Umständen nicht. Ich konnte noch nicht arbeiten, weil wir einen Säugling hatten. Jürgen hat sich sofort umgesehen und Jobs im Gemüsegroßhandel und als Postbote gefunden. Unsere Eltern unterstützten uns. Und wir konnten mietfrei wohnen.
Aber das konnte dann nicht mehr so bleiben.
Lilo Fuchs: Ich hatte mein Diplom. Wir waren im Bereich Sozialpsychologie und auch Klinische Psychologie gut ausgebildet. Durch Unterstützung der evangelischen Kirche konnte Jürgen in einem Kinderheim in Grünheide und ich später in den Samariteranstalten Fürstenwalde arbeiten.
Nach der Ausbürgerung Biermanns spitzte sich die Lage auch für die Havemanns zu.
Lilo Fuchs: Wir erfuhren, dass mehrere Autoren aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen worden waren; zahlreiche Menschen erfuhren Repressalien, beruflich und privat. In dieser Situation erreichte uns die Nachricht, dass sich in West-Berlin ein „Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus“ gebildet hatte. Dort kamen namhafte Schriftsteller, Gewerkschafter, Rechtsanwälte und Theologen aus Westeuropa zusammen. Sie verfolgten das Geschehen in der DDR und stellten Öffentlichkeit her. Wo die Bedrängnis besonders groß war, leisteten sie auch materielle Hilfe. Die Solidarität unserer Familien und Freunde und das Wissen von einem „Schutzkomitee“ hat uns damals ermutigt, durchzuhalten.
Es erschien die Petition gegen die Ausbürgerung von einigen namhaften DDR-Autoren.
Soweit ich mich erinnere, hatten wir danach noch zwei Tage lang den Telefonanschluss. Darüber standen wir in Kontakt zu unseren Freunden und haben den Text der Petition weitergegeben – nach Jena und in andere Städte. Dann wurde der Anschluss abgeklemmt. Durch Radio und Fernsehen konnten wir die Geschehnisse weiter verfolgen.
Dabei war das nur der Anfang des Erdbebens, das die DDR erschütterte.
Lilo Fuchs: Ja, telefonisch ging zwar nichts mehr, aber Katja und Robert Havemann hatten Kontakt zu Freunden im Westteil Berlins und kannten Journalisten aus dem Westen, die in Ostberlin akkreditiert waren. Sie haben mitgeholfen, dass Informationen über neue Verhaftungen sofort weitergeleitet worden sind. Das waren natürlich die Dinge, die die Staatssicherheit massiv geärgert haben. Ihre Methode, den Menschen im Verborgenen Druck und Angst zu machen, war somit durchkreuzt.
Dann kam es zur Verhaftung, aber an Havemann hat man sich nicht herangetraut …
Lilo Fuchs: Robert Havemann und seine Familie wurden über viele Jahre isoliert und unter geheimdienstliche Kontrolle gestellt. Er gehörte zum Kreis der Verfolgten des Naziregimes und hatte mit Erich Honecker im Gefängnis gesessen.
Seine Bekanntheit im Westen gab etwas Schutz. Der junge, unbekannte Autor Jürgen Fuchs kam in Haft. Robert und Jürgen fuhren damals in Havemanns Auto Richtung Ostberlin. Dort wollten sie mit einigen Journalisten über die aktuelle Situation sprechen. Man hat sie losfahren lassen, aber es war die Entscheidung gefallen, sie an einer bestimmten Stelle zu stoppen und Jürgen rauszuholen.
Alle sollten in Angst versetzt werden.
Lilo Fuchs: Alle, die sich gegenseitig stärkten. Am nächsten Tag habe ich über ein Nachbartelefon die Familie von Jürgen, meine Eltern und meine Schwester informiert. Sie hatten von der Verhaftung schon über den West-Rundfunk gehört.
Ein Volkspolizist teilte mir mit, man habe meinen Mann in Haft genommen, „weil er Taten gegen die DDR begangen hat“. Für nähere Informationen solle ich die Sprechstunde des zuständigen Staatsanwaltes am Dienstag nutzen.
Wie bist Du mit dem Schock umgegangen?
Lilo Fuchs: Ich war damals Anfang zwanzig. Als die Verhaftung geschah, standen sofort die Fragen: Was bedeutet das jetzt? Werden sie eine Hausdurchsuchung in Grünheide machen? Was wird mit den Kindern?
Wusste Robert Havemann, was auf Jürgen zukommt?
Lilo Fuchs: Er war in seinem Leben in vergleichbaren Situationen, er kannte Verhöre und Haft. Jürgen hat oft mit ihm über diese Dinge gesprochen.
Zwei Tage nach Jürgen wurden auch die Leipziger Liedermacher Christian Kunert und Gerulf Pannach auf dem Alexanderplatz verhaftet.
Am selben Abend wurde dann die gesamte Straße, die zum Havemann-Grundstück führte, polizeilich abgesperrt und das Eingangstor mit zwei Polizisten dauerbewacht. Zu uns konnten nur noch nahe Angehörige und der Ortspfarrer kommen. Westliche Presse wurde abgewiesen. Wenn wir das Grundstück verließen, hatte jeder zwei bis drei Bewacher, die überallhin folgten. Während der Arbeit in Fürstenwalde standen ein oder zwei Fahrzeuge an den Eingängen und warteten, bis ich nach acht Stunden Dienstschluss hatte.
Du hast Jürgen dann besuchen können …
Lilo Fuchs: Bei allen Besuchen – in der Stasi-Zentrale, Magdalenenstraße – saß Jürgens Hauptvernehmer am Schreibtisch. Kurz wurde ich eingewiesen, was alles zu beachten wäre: zwanzig Minuten Gesprächszeit. Nur Persönliches, Familiäres besprechen. Bei Zuwiderhandlung Besuchsverbot. Keine Berührungen.
Dann wurde Jürgen hereingeführt, und zwei weitere Stasi-Vernehmer nahmen auch im Raum Platz.
Es gab viele Möglichkeiten des Quälens. Jürgen hat sie später in den „Vernehmungsprotokollen“ und im Roman „Magdalena“ beschrieben: in eine schlechte Zelle stecken, Verweigerung von medizinischer Hilfe, Befürchtungen, Essen und Getränke könnten schädigende Zusätze enthalten.
Lilo Fuchs: Jürgen hatte die Vermutung, dass er radioaktiv verstrahlt worden sein könnte. Zwar wissen wir es nach wie vor nicht, aber wir wissen, dass sowohl die Stasi als auch zahlreiche andere Geheimdienste radioaktive Substanzen eingesetzt haben.
Ab einem bestimmten Zeitpunkt der Vernehmungen hat Jürgen beschlossen, zu schweigen. Über Monate sprach er nicht mehr. Das habe ich, als ich ihn besuchte, nicht gewusst. Das schafft eine psychische Veränderung im Menschen; er ist da sehr weit gegangen und hat dann – um nicht verrückt zu werden – in dem Sinne umgeschwenkt, dass er seine Gedanken und Ansichten ihnen „diktierte“. Das hat Jürgen in West-Berlin unter dem Titel „Vernehmungsprotokolle“ aufgeschrieben.
Ähnliches habe ich während der Haft auch gemacht: Ich habe ihnen gegenüber Reportage-Ideen referiert – über Umweltzerstörung, über Wahrnehmungen und Gedanken Jugendlicher in der DDR.
Lilo Fuchs: Eben. Du bist bei Dir geblieben – wie auch Jürgen und viele andere. Du konntest sie damit in dieser ausgelieferten Situation vielleicht etwas auf Abstand bringen. Jürgen merkte auch, dass er den Zustand des Schweigens nicht länger durchhalten kann.
Noch während seiner Untersuchungshaft veröffentlichte der Rowohlt Verlag Jürgens „Gedächtnisprotokolle, mit Liedern von Gerulf Pannach und Christian Kunert und einem Vorwort von Wolf Biermann“, und CBS brachte das geschmuggelte Tonband „Für uns, die wir noch hoffen“. War das ein Schritt, um in den Westen zu gelangen?
Lilo Fuchs: Jürgen und ich wollten eigentlich nicht in den Westen, die Entscheidung wurde von staatlicher Seite getroffen. Kunert, Pannach und Jürgen wurden durch Anwalt Wolfgang Vogel mit der Frage konfrontiert: „Entweder Sie bekommen einen Prozess mit einer Verurteilung zu zehn bis zwölf Jahren Haft oder Sie stimmen einer sofortigen Haftentlassung nach West-Berlin mit Aberkennung der DDR-Staatsbürgerschaft zu.“ Wir Ehefrauen wurden dann überraschend ins Anwaltsbüro bestellt. Dort informierte man uns über die „Alternative“, und Herr Vogel fuhr uns direkt in die Magdalenenstraße: „Dort können Sie Ihre Ehemänner sprechen.“
In dieser Situation entschieden sich alle drei Häftlinge für den Weg nach West-Berlin. Sie empfanden die U-Haft als lebensbedrohlich.
Mit der Ausreise war es nicht vorüber. Jürgen galt den Herrschenden in der DDR als einer der größten „Staatsfeinde“. Vom Stasi-Stützpunkt „Rheinland“ – Kolonnenstraße, in West-Berlin! – bliebt ihr unter ständiger Beobachtung. Auch ein Bombenanschlag auf euch wurde dort erwogen.
Lilo Fuchs: Von diesen Hintergründen haben wir im Detail erst nach Jürgens Tod erfahren. Es geschah ab und zu – besonders in Phasen, in denen eine Veröffentlichung von uns bekannt wurde. Uns fielen dann auf der Straße bestimmte Fahrzeuge, meist Planwagen, auf, die dort lange parkten. In den Akten waren bestimmte Fotos der Vorderansicht des Hauses zu sehen. 1986 explodierte eine Autobombe vor dem Haus – eine unserer Töchter wäre mit einer Freundin fast getroffen worden; Bremsschläuche an Jürgens Auto wurden manipuliert.
Was waren die Gründe für die anhaltende Verfolgung?
Lilo Fuchs: Im „Spiegel“ stand einmal, dass Jürgen Fuchs von 1977 bis zum Mauerfall die wohl wichtigste Verbindung der DDR-Opposition zur westlichen Öffentlichkeit gewesen sei. Er war ein internationaler Netzwerker, auch nach Osteuropa. Und er hielt Kontakt zu Menschen wie Manès Sperber und Ralph Giordano.
Ihr habt in West-Berlin auch eure Arbeit als Psychologen fortgesetzt.
Lilo Fuchs: Ja, von 1977 bis 1980 haben wir von Arbeitslosengeld sparsam gelebt. Jürgen schrieb über seine Haftzeit, 1978 erschein der Text „Vernehmungsprotokolle“ bei Rowohlt. Unser Psychologie-Studium wurde in West-Berlin anerkannt. Nach 1980 fanden wir Arbeit in einer psychosozialen Beratungsstelle.
Der Fall der Mauer und demnächst dreißig Jahre Einheit liegen hinter uns. Wie ist Dein Blick auf diese Entwicklung?
Lilo Fuchs: Was soll ich sagen? Wenn ich heute die Bilder aus Belarus sehe, erinnert mich das an unser eigenes Erleben. Der Gegenimpuls, wenn man merkt, dass gelogen, betrogen und gedroht wird, ist dort lebendig, wird aber massiv unterdrückt. Das Ganze, was uns so aufgeregt hat, ist dort nicht zu Ende. Und gleichzeitig stehen wir jetzt gemeinsam vor größten Herausforderungen. Die Klimaveränderungen zeigen sich immer deutlicher, ein Virus überschreitet alle Grenzen.
Das Gespräch führte Axel Reitel am 19. August in Berlin-Charlottenburg.
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