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Zu den deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen

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Friedrich der Große und Sultan Mustafa III. schlossen bereits anno 1761 einen Schifffahrts- und Handelsvertrag. 1856 baute Siemens in Istanbul das erste Telegrafenamt. Dynamisch entwickelten sich die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen jedoch erst mit Sultan Abdulhamid II., der 1876 den Thron an der Hohen Pforte bestieg. Er wollte zum Ende des 19. Jahrhunderts die „Bagdadbahn“ von Deutschen bauen lassen. Das Deutsche Reich wiederum wollte in diesen Jahren sein Wirtschaftswachstum langfristig sichern. Das Osmanische Reich mit seiner schnell wachsenden, konsumhungrigen Bevölkerung konnte als ein weiterer Absatzmarkt für deutsche Produkte dienen. Die Erschließung neuer Märkte, der Zugang zu den Rohstoffen Mesopotamiens, aber auch der Zugewinn an Einfluss im Interessengebiet Großbritanniens und Frankreichs waren für Kaiser Wilhelm II. sehr verlockend.

Mit der Bagdadbahn war somit das erste deutsch-türkische Großprojekt geboren. Die Eisenbahnstrecke sollte über das heutige Syrien und über den Irak entlang der Erdölkonzessionen führen. Der osmanische Sultan überschrieb der Deutschen Bank als Zeichen der Anerkennung und Abgeltung der Kosten die Konzessionen für alle Erdölvorkommen entlang eines zwanzig Kilometer breiten Korridors beidseitig der Bahnlinie bis nach Mosul (im heutigen Irak), wo bereits reiche Erdölvorkommen entdeckt worden waren.

Die engen Beziehungen zwischen beiden Staaten führten schließlich bis zum Bündnis im Ersten Weltkrieg, den sie 1918 gemeinsam verloren. 1919 begann der Befreiungskrieg der Türken unter der Führung Mustafa Kemals gegen die Besatzer, an dessen Ende am 29. Oktober 1923 die Gründung der Republik Türkei stand. Keine fünf Monate später unterschrieb Staatsgründer Mustafa Kemal (der 1934 den Familiennamen Atatürk, „Vater der Türken“, erhielt) in der neuen Hauptstadt Ankara ein erstes Deutsch-Türkisches Freundschaftsabkommen.

Der „Vater der Türken“ konzentrierte sich nach Gründung der Republik auf einen raschen Aufbau der Industrie und auf den Ausbau der Infrastruktur. Atatürk wollte die Türkei durch verschiedene Reformen auf das Niveau der „westlichen Zivilisation“ heben. Lateinische Schrift, Gregorianischer Kalender, Laizismus und Stärkung der Frauenrechte waren wesentliche Elemente der Veränderungen. Das Schul- und Bildungssystem reformierte er ebenfalls, es fehlte jedoch an modernen Hochschullehrern. Diese kamen vor allem ab 1933, zumeist jüdische und sozialdemokratische Wissenschaftler, Politiker oder Künstler, die aus Deutschland oder Österreich fliehen mussten. Knapp 800 Flüchtlinge nahm die Türkei auf.

 

Atatürk, der radikale Reformer

Atatürk ahnte, dass die innen- und außenpolitischen Entwicklungen des Deutschen Reiches wieder in einen großen Krieg münden würden. Diesen erlebte er selbst jedoch nicht mehr, er verstarb am 10. November 1938. Nach Kriegsende 1945 waren die Fronten wiederum schnell geklärt. Deutschland und die Türkei waren geopolitische Frontstaaten mit dem gleichen Gegner (die Sowjetunion) und somit Partner mit gleichen Interessen. 1952 wurde die Türkei (zeitgleich mit Griechenland) Mitglied der NATO. 1949 bereits wurde sie Mitglied des Europarates und bewarb sich 1959 um eine Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). 1963 wurde ein Assoziierungsabkommen mit der EWG geschlossen („Ankara-Abkommen“), das eine Mitgliedschaft in Aussicht stellte. Die tatsächlichen Beitrittsverhandlungen wurden 2005 offiziell aufgenommen, gerieten jedoch bald ins Stocken.

Erste Reformen zur Liberalisierung und Demokratisierung des Landes leitete Turgut Özal, Ministerpräsident bis 1989, bereits 1983 ein. Bedeutender waren aber die Reformen in der Wirtschaftspolitik. Die Maßnahmen kurbelten die türkische Wirtschaft an, Exporte stiegen, und Investoren aus dem Ausland kamen vermehrt ins Land. 2001 verursachten Dissonanzen zwischen Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer und Ministerpräsident Bülent Ecevit eine Staatskrise, die in einer wirtschaftlichen Depression mündete. Ein marodes Bankensystem, verbunden mit permanent steigenden Leistungs- und Handelsbilanzdefiziten und einer hohen Inflation, führte gemeinsam mit der Staatskrise zu Spekulationen und Kapitalflucht, was die Zentralbank zur Freigabe der türkischen Lira zwang. Innerhalb eines Tages verlor die Türkische Lira vierzig Prozent an Wert. Somit stiegen Schulden in Fremdwährungen gewaltig an. 21 Banken meldeten Insolvenz an, ein Staatsbankrott konnte nur durch einen Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) verhindert werden.

Bei den vorgezogenen Neuwahlen 2002 erreichte die ein Jahr zuvor gegründete AKP die absolute Mehrheit. In ihrer ersten Legislaturperiode unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan wuchs die Wirtschaft durchschnittlich um sieben Prozent, das Exportvolumen verdoppelte sich, die Inflationsrate fiel von dreistelligen auf einstellige Werte von sieben bis acht Prozent. Wie Turgut Özal zwanzig Jahre zuvor stieß Erdoğan eine Privatisierungswelle an, die bis heute anhält. Der Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen im Oktober 2005 war ein Impuls, der viele ausländische Investoren anlockte.

Waren es 2002 noch rund 6.000 ausländische Unternehmen, die sich in der Türkei engagierten, sind es heute knapp 44.000. Davon kommen mehr als 6.200 aus Deutschland. Zu den Pionieren unter den deutschen Unternehmen in der Türkei gehören beispielsweise Siemens, Bosch, Mercedes und MAN, die seit den 1960er-Jahren hochwertige Lkws und Omnibusse in der Türkei bauen. Neben DAX-Konzernen, wie BASF, Bayer oder Metro, zieht es immer mehr mittelständische Unternehmen wie Deichmann oder Aunde in die Türkei. Das Handelsvolumen hat eine Größenordnung von 37 Milliarden Euro erreicht (Direktinvestitionen aus Deutschland über zwölf Milliarden Euro).

 

Enge wirtschaftliche Verflechtung

 

In den vergangenen Jahren kamen circa fünf Millionen deutsche Touristen jährlich in die Türkei, 2016 wird diese Zahl aufgrund der Anschläge in der Türkei und des Syrienkriegs wohl nicht erreicht werden. Jedoch bilden neben den Touristen, den schätzungsweise mehr als 70.000 in der Türkei lebenden Deutschen und den mehr als 6.200 deutschen Unternehmen vor allem auch die 3,1 Millionen in Deutschland lebenden Menschen mit türkischen Wurzeln Brücken zwischen beiden Ländern. Beide Staaten können ihre Politik nicht ohne Berücksichtigung dieser Aspekte gestalten.

Mehr als 90.000 Unternehmen wurden von Nachkommen türkischer Gastarbeiter gegründet. Diese sind verbunden mit 450.000 Arbeitsplätzen und circa 45 Milliarden Euro Umsatz.

Die Nachkommen der ehemaligen Gastarbeiter werden vor allem in Ankara, aber auch in Berlin immer mehr als Bindeglied zwischen beiden Ländern angesehen. Die Zuund Abwanderung zwischen Deutschland und der Türkei hat sich bei rund 30.000 bis 40.000 Personen jährlich eingependelt. Jeder Austausch, ob durch Zuwanderung oder Austausch von Studenten, ist eine Brücke und damit ein Gewinn für beide Wirtschaftsnationen. Auch der Austausch von Fachkräften wird mit Unterstützung dieser Menschen eine Intensivierung der Beziehungen nach sich ziehen.

 

Türkei bleibt für Investitionen interessant

Sehr gewagte und zugleich symbolträchtige Wachstumsziele hat sich die türkische Regierung bis zum 100. Geburtstag der Republik im Jahre 2023 gesetzt. Die deutsche Wirtschaft kann sich sehr gute Chancen ausrechnen, an diesen Plänen zu partizipieren. Deutsche Unternehmen genießen einen sehr guten Ruf in der Türkei, sie haben einen Vertrauensvorschuss. Es sollte nicht vergessen werden, dass auch in Zeiten der Globalisierung neben internationalen Wettbewerbskriterien auch vertrauensvolle persönliche Beziehungen für Wirtschaftsbeziehungen von großer Bedeutung sind, gerade auch im Mittelstand. Auch auf dieser Ebene genießen deutsche Unternehmen eindeutig einen Wettbewerbsvorteil vor der internationalen Konkurrenz.

Die Verkehrsinfrastruktur soll bis 2023 gewaltig ausgeweitet werden. Mit dem Bau des weltgrößten Flughafens in Istanbul soll das Passagieraufkommen von circa 150 Millionen (2014) auf über 400 Millionen steigen. Das regionale Schienennetz soll um 5.000 Kilometer, das Hochgeschwindigkeitsschienennetz um 10.000 Kilometer ausgeweitet werden. Über 15.000 Kilometer Bundesstraßen und über 5.000 Kilometer Autobahnen sollen bis 2023 gebaut werden. Auf dem Energiesektor sind Investitionen von über 100 Milliarden Euro geplant, wovon ein erheblicher Teil in erneuerbare Energien fließen soll. Diese vielen Hundert Milliarden Euro Investitionsvolumen eröffnen Unternehmen aus Deutschland Chancen. Aber auch Perspektiven für gemeinsame Aktivitäten in Drittstaaten sind hiermit verbunden. Neben dem Nahen Osten und Asien entlang der Seidenstraße bietet Afrika Perspektiven des gemeinsamen Auftritts, was somit zum weiteren Ausbau der deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen führen könnte.

Der Krieg in Syrien, die Flüchtlingskrise, die Instabilität im Südosten des Landes trüben zurzeit die Stimmung. Wachstumsprognosen für die Wirtschaft liegen mit drei bis vier Prozent weit unter dem Durchschnitt der vergangenen dreizehn Jahre. Die Inflation, Zinsen und Arbeitslosigkeit steigen, die Türkische Lira hat erheblich an Wert verloren. Dennoch gibt es unveränderliche Eckwerte, die potenzielle Investoren immer noch schätzen: die geopolitische und logistische Lage, auch als Energiekorridor in unmittelbarer Nähe zu den Welt-Energiereserven, eine Bevölkerung von knapp achtzig Millionen mit einem Altersdurchschnitt von dreißig Jahren. Der Bedarf an Infrastruktur und Konsumgütern wird permanent steigen. Für Spekulanten ist die Türkei zurzeit nicht sehr attraktiv, für Investoren mit langfristigen Zielen ist sie es jedoch nach wie vor.

 

Verdreifachung des Handelsvolumens ist keine Utopie

In den letzten drei Jahren verging kaum eine Woche, in der kein deutscher Bundes- oder Landesminister die Türkei oder ein türkischer Minister Deutschland besuchte. Selbst wenn die Flüchtlingsproblematik mit weltpolitischen, innereuropäischen, innenpolitischen, sozialen und finanziellen Auswirkungen verbunden ist, sorgt sie für eine weitere Intensivierung in den deutsch-türkischen Beziehungen.

Beide Länder sollten mittlerweile gelernt haben, die eigene Geschichte, Politik, Gesellschaft und Kultur nicht zum Maßstab zu machen und gegenseitiges Einfühlungsvermögen und Verständnis aufzubringen. Die jetzt erreichten 37 Milliarden Euro Handelsvolumen könnten in kurzer Zeit zu nostalgischen Dimensionen schrumpfen, eine Verdopplung auf siebzig Milliarden Euro in den nächsten zehn, eine Verdreifachung auf ein Volumen von 100 Milliarden Euro in den nächsten fünfzehn Jahren ist keine Utopie, wenn beide Länder auf ihre geschichtliche Erfahrung zurückblicken und mithilfe dieser ihre gemeinsame Zukunft gestalten.

 

Suat Bakir, geboren 1962 in Izmir (Türkei), Diplom-Volkswirt, lebt seit 45 Jahren in Berlin. Er war Geschäftsführer der Türkisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer (TD-IHK).

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