In Europa werden Zukunftsszenarien einer von Robotik, Künstlicher Intelligenz, Digitalisierung und Algorithmen dominierten Welt kontrovers diskutiert. Zwischen Euphorie einerseits und Sorgen andererseits schwanken Stimmungen und Argumente. In Japan scheinen die Stimmen der Bedenkenträger weniger laut zu sein, können wir dort doch immer neue technische Ideen und Durchbrüche beobachten. Es scheint so, dass die Japaner Meister der Technik, die Europäer Meister der kritischen Ethik sind. Doch so einfach ist es nicht. Auch in Japan gibt es dazu normative Diskussionen, die für Europa ein Spiegel sein können. Das Verhältnis zwischen Robotik-Affinität und normativer Reflexion soll daher im Folgenden diskutiert werden. Gibt es für die Akteure in Japan etwas aus den kritischen ethischen Anfragen aus dem Westen zu lernen? Was können wir möglicherweise ethisch von Japan lernen? Am Beginn dieser Brücke steht eine Diskussion von Thesen zur Roboter-Ethik in Japan mit Rückgriff auf Forschungen von Cosima Wagner, Patrick Grüneberg und anderen. Dem werden anschließend normative Fragehorizonte aus europäischer Sicht gegenübergestellt, ehe ein konstruktiver Dialog solcher Perspektiven versucht wird.
Laut der Friedensthese war in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg eine militärische Nutzung innovativer Technik lange ausgeschlossen. Eine solche Verwendung hätte im Blick auf die verheerenden Folgen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki Diskussionen zur Unterscheidung einer guten von einer schlechten Nutzung aufgedrängt. So aber wurde die nicht militärische Robotik als eine gute angesehen, während aus japanischer Sicht die etwa in den USA oder Europa anzutreffende militärische Nutzung auch eine moralisch schlechte Robotik ermöglicht. Deshalb müssten sich Europa und die USA ethischen Fragen stellen, die in Japan lange obsolet seien. In jüngster Vergangenheit jedoch wird die militärische Nutzung angesichts der politischen Bedrohungslage auch in Japan nicht mehr ausgeschlossen. So ist diese Flanke ethischer Infragestellung nun geöffnet.
Der Animismus in der Shinto-Religion wird oft für eine hohe Robotikakzeptanz in Japan verantwortlich gemacht, weil auch künstlichen Artefakten eine Seele zugesprochen werde. Nach der Animismus-These bestehe eine indigene Affinität der Japaner zu Humanoiden und anderen Robotern. Die religiöse Deutung der Animisierung als Grund für eine herausragende Robotikliebe wird aber überschätzt. So kennt der Schintoismus zwar einen gleichen Wert aller (auch künstlichen) Wesen. Doch dieser Perspektive steht die Überzeugung einer selbstverständlichen menschlichen Dominanz gegenüber, nach der alles andere Geschöpfliche oder Künstliche dem Menschen zu dienen habe. So besteht zwar eine gewisse Vertrautheit des Menschen mit humanoider Technik, doch schließe diese eine Unbehaglichkeit nicht aus, sofern die menschliche Dominanz in Gefahr gerät.
Der ursprünglich friedliche Einsatz zur Lösung gesellschaftlicher Probleme und der Animismus haben zweifellos zu einer besonderen Robotik-Affinität in Japan beigetragen, die jedoch nicht ungetrübt ist. Solche Prägungen bleiben mitbestimmend für ein Grundverständnis der Japaner in ihrer Beziehung zur Robotik. Eine einfache Annahme japanischer Affinität zu allen möglichen Formen der Robotik muss jedoch unter Berücksichtigung solcher Kontexte relativiert werden. So gilt es, das angenommene Phänomen einer erhöhten Offenheit für technische Innovationen differenzierter in den Blick zu nehmen, etwa mit der Nationalismus-These.
Popkultur zur Traumaüberwindung
Nach der Nationalismus-These sei die Robotik-Affinität aus einem Überlegenheitsdenken Japans abzuleiten. Das Technikverständnis war in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt von einer Popkultur, die etwa mit Manga- und Robotikhelden ein versöhnliches Miteinander von Mensch und Technik propagierte. Diese Kultur kann als ein Versuch zur Verarbeitung des Weltkriegsfiaskos verstanden werden. Zum einen galt es, die durch das Trauma hervorgerufene Technikangst zu überwinden. Technikaffine Mangahelden standen zugleich für ein neues japanisches Kollektivbewusstsein, welches – jenseits militärischer Ambitionen – durch nunmehr technisch-ökonomische Überlegenheit eine positive Rettung und eine nationale Blüte verheißt. Politische Interessen treffen sich dabei mit wirtschaftlichem Kalkül. Die Erhaltung beziehungsweise der Ausbau des technischen Vorsprungs vor anderen Ländern ist das erklärte Ziel.
Technik und damit auch die Robotik dienen vor allem zur Behebung von (gesellschaftlichen) Problemen (etwa Pflege im demografischen Wandel). Solches Vertrauen basiere auf einer ethnischen Abwägung. Roboter treffen in der japanischen Gesellschaft auf höhere Akzeptanz als Menschen anderer Ethnien. Da die Bevölkerung altert und schrumpft, muss nach Lösungen für die damit verbundenen Probleme gesucht werden. Europäische Länder reagieren darauf mit Einwanderung von Fachkräften. Anders Japan: Dort sollen Roboter die – gegenüber Menschen anderer Ethnien – verlässlicheren Partner zur Sicherung japanischer Überlegenheit sein.
Roboter gelten in Japan selbstverständlich als dem Menschen untergeordnete Interaktionspartner unter menschlicher Kontrolle. Die praktische Lösungskompetenz als Bewertungsmaßstab nimmt dabei vor allem die Komfortsteigerung mehr in den Blick als die Sicherheit. Solches Vertrauen wurde zwar durch die Katastrophe von Fukushima infrage gestellt.
Die Empörung hielt sich jedoch in der bis dahin weitgehend fehlenden technikkritischen Öffentlichkeit in überschaubaren Grenzen. Dennoch sind nunmehr im Blick auf den Einsatz von Robotik auch Sicherheitsfragen Thema normativer Diskussionen, die es aber – aus nationalen wie wirtschaftlichen Interessen – wiederum zu zähmen gelte.
Der Nationalismusthese folgend, muss aus wirtschaftlichen, gesundheitspolitischen, ethnischen und inzwischen auch militärischen Gründen aufkeimende Technikkritik möglichst klein gehalten werden. Technische Vormachtstellung, Erhalt und Steigerung der Akzeptanz der Robotik sind unter solchen Vorzeichen vordringliche normative Ziele, die vielfältige Herausforderungen mit sich bringen.
Mensch oder Maschine?
Zunächst ist Akzeptanz nicht nur durch die militärische Nutzung und neue Sicherheitsbedenken gefährdet, sondern auch durch einen möglicherweise fehlenden Anwendungsnutzen der Robotik. Robotik darf also keine bloße Spielerei sein, sie muss Probleme der Menschen lösen.
Weiterhin erschüttern die neuen militärischen Optionen das Bild von der selbstverständlich guten Robotik. Es werden diese Anwendungsfelder einer kritischen ethischen Bewertung zu unterziehen sein, was auch eine ethisch schlechte japanische Robotik denkmöglich macht.
Außerdem ist die vorausgesetzte Überlegenheit des Menschen gegenüber einer zunehmend sich selbst steuernden Robotik nicht evident. Es wird also kritisch zu prüfen sein, unter welchen Voraussetzungen die einfach vorausgesetzte Hierarchie zwischen Mensch und Maschine in der Realität gesichert ist. Wird sie infrage gestellt, müssen Grenzen erkannt und durchgesetzt werden.
Roboter-ethische Fragehorizonte in Europa und den USA weisen gegenüber Japan markante Unterschiede auf. Die Frage nach einer möglichen Autonomie von sich selbst steuernden Robotern wird etwa hierzulande als Herausforderung für das Menschenbild angesehen. Dann ist die Frage: Wer ist der humanoide Roboter im Vergleich zum Menschen? Der mögliche Hinweis auf die Unterscheidung, Roboter könnten nur vorgegebene Ziele erreichen, sich aber nicht selbst Ziele setzen, ist nicht mehr ausreichend, wenn sich Algorithmen auch ohne menschliches Eingreifen gegenseitig inspirieren und steuern. Transhumanismus, die Entwicklung von Hybriden und Cyborgs, wo der Übergang von Mensch und Maschine fließend wird, drängt umso mehr die Frage nach dem Menschenbild auf. Wann können wir von einem Menschen sprechen, wann von einer Maschine? Es finden sich Gedankenspiele von einer E-Personalität, mit der Roboter als Rechtssubjekte mit einer Art (Menschen-)Würde gedacht werden.
Komplexe ethische Fragehorizonte
Auch sind Fragen der Verantwortlichkeit mit Haftung bei auftretenden Fehlern neu zu bewerten. So könnten Roboter rechtlich etwa wie Haustiere behandelt werden, für deren Verhalten der jeweilige Halter zur Rechenschaft zu ziehen wäre. Oder man hebt die Artefakte auf die Stufe des Menschen mit entsprechenden Rechten und Pflichten. Dann wären für sie auch „Menschenrechte“ denkbar: 2016 wurde in Saudi-Arabien einem weiblich aussehenden Roboter die Staatsbürgerschaft offiziell zugesprochen.
Gerechtigkeitsfragen, die Sorge vor negativen Arbeitsmarkteffekten, die Verdrängung menschlicher Kommunikation, Eingriffe in die Autonomie des Menschen durch technische Assistenzsysteme im Alter, eine Relativierung der Menschenwürde durch E-Personalität, Fragen des Datenschutzes und vieles andere mehr eröffnen komplexe ethische Fragehorizonte. In Japan werden solche Fragen bislang kaum diskutiert, solange die Überlegenheit des Menschen und der Dienstcharakter der Robotik vorausgesetzt sind.
Die japanische und die europäische Diskussionskultur zu Entwicklung und Einsatz von Robotik sollten voneinander lernen. Die erste Frage lautet: Wie kann in Japan die ethische Diskussion bereichert werden?
Aus europäischer Sicht erfordert die Kultivierung einer ethischen Diskussion zum Einsatz von Robotik eine von wirtschaftlichen oder nationalen Interessen möglichst befreite Abwägung von Pround Contra-Argumenten. Hierzu ist eine informierte kritische Öffentlichkeit notwendig, die nicht nur nach der Funktionalität neuer Robotik fragt, sondern auch Konsequenzen ihres Einsatzes für Menschenbild und Zusammenleben hinterfragt. Berechtigte Ängste und Sorgen der Menschen sollen weder geschürt noch unterdrückt werden.
Das Ziel einer erhöhten Technikakzeptanz im Vorfeld einer Diskussion zu postulieren oder Herstellerinteressen zu bevorzugen, ist illegitim. Auch onoethnisch diskriminierende Motive für eine RobotikAffinität sind nicht akzeptabel. Das Überlegenheitsmotiv kann möglicherweise eine Hybris begründen, die blind dafür macht, dass fremde Nationen Japan überholen. Eine immer weiter entwickelte Robotik mit immer ausgeklügelterer künstlicher Intelligenz kann mit feindlichem machtpolitischem Anspruch gegen Japan und andere freiheitliche Länder eingesetzt werden. Dies gilt im Besonderen für China, das traditionell politisch in einem Spannungsverhältnis zu Japan steht.
Die in Japan erst beginnende ethische Diskussion zum militärischen Einsatz von Robotik kann von den entsprechenden Erfahrungen damit und entsprechenden Orientierungen profitieren, die etwa in Europa vorliegen. Diese müssten in den weltanschaulichen Kontext Japans übertragen werden.
Diskussionskultur wehrt Dystopie
Die zweite Frage lautet: Wie kann sich die europäische Diskussion von Japan bereichern lassen?
Die in Japan als selbstverständlich angenommene Überlegenheit des Menschen gegenüber dem Artefakt birgt einerseits die Gefahr, wichtige Fragen etwa von Autonomie des Individuums oder eines möglichen totalitären Missbrauchs zu unterschätzen. Andererseits bewahrt sie davor, die Menschenwürde durch E-Personalitäten auszuhöhlen und so Artefakte auf die Ebene von Menschen zu stellen. Solche vor allem außerhalb Japans entwickelten Denkkonstrukte führen auf eine schiefe Bahn. Das Menschenbild wird beliebig, die herausgehobene Stellung des Menschen und seiner Würde obsolet. Wir kommen der Dystopie einer vom Menschen selbst initiierten Versklavung seiner selbst unter sich selbst steuernden Robotern (und möglicherweise deren menschlichen Herren im Hintergrund) einen Schritt näher. Die japanische Selbstverständlichkeit von der menschlichen Überlegenheit und dem bloßen Dienstcharakter der Robotik kann hier hilfreich sein, rote Linien zu ziehen.
Die ethischen Diskussionen zu Entwicklung und Einsatz von Robotik sind in Japan und Europa von unterschiedlichen Inhalten und Motiven bestimmt. Die Diskussionskultur einer Roboter-Ethik sollte angesichts gemeinsamer Herausforderungen nicht nur in Japan und Europa interkulturell weiterentwickelt werden. Hierbei sollten trotz unterschiedlicher religiöser, weltanschaulicher, politischer und historischer Kontexte Japan und Europa voneinander lernen, wollen sie mit Erfolg einer inhumanen Dystopie wehren und Robotik der Zukunft in den Dienst der Menschheit stellen. So kann es systematisch wie transparent gelingen, mit Freude an kreativer technischer Forschung gemeinsam gute von schlechter Robotik zu unterscheiden und mögliche Gefährdungen eines menschendienlichen MenschTechnik-Verhältnisses zu erkennen, öffentlich zu machen und zu minimieren.
Elmar Nass, geboren 1966 in Kempen (Niederrhein), katholischer Priester, Professor für Wirtschafts- und Sozialethik, Wilhelm Löhe Hochschule Fürth, Privatdozent für Christliche Wirtschafts- und Sozialethik, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen.