Wer über ein intaktes Gedächtnis verfügt, wird auf prophetische Aussagen wenig geben. Insbesondere die „Trefferquote“ früherer Endzeitszenarien – von Atomtod bis Waldsterben – erwies sich bis heute als gering. Seltsamerweise haben aber zuletzt Ereignisse, die kaum jemand vorausahnte, wie die Flüchtlingskrise, der Brexit oder der Wahlsieg Donald Trumps, die Bereitschaft erhöht, sich wieder verstärkt auf derartige Prophezeiungen einzulassen. Eine diffuse, oft vom persönlichen Wohlergehen losgelöste Beunruhigung, dass etwas nicht stimme und irgendetwas passieren müsse, reizt die Phantasie und lässt nüchternen Realitäts- und Möglichkeitssinn allzu schnell inspirationslos erscheinen. Dabei gerät die deutsche, vor allem aber die europäische Politik mehr und mehr in den Ruf, nur ewige Krisen zu verwalten. Zukunft als Leerstelle ist noch eine temperierte Negativprophetie. Meist bleibt es nicht unter dem Selbstmord des Kontinents.
Die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Propheten ist ein biblisches Thema. Die gestiegene gesellschaftliche Fieberkurve macht sie wieder aktuell. Woran lässt sich erkennen, was eine valide Vorausschau eines imaginationskräftigen Zeitgenossen ist? Warnt sie vor Gefahren? Beflügelt sie die politische Phantasie? Oder entstellt sie die Wirklichkeit? Führt sie in die Irre und verleitet so zu neuem politischen Abenteurertum? Ist die Prophezeiung am Ende selbst Ursache ihrer Verwirklichung?
Eric Blair alias George Orwell entwarf 1948 mit dem Roman 1984 ein Zukunftsbild, das pessimistischer nicht sein könnte. Doch indem seine Horrorvision darauf zielte, die Realisierung der Möglichkeiten, die er in der Gegenwart angelegt sah, mit allen Mittel zu verhindern, ist 1984 das Gegenteil von Defätismus. Bald siebzig Jahre nach Orwell scheint manche dunkle Prophetie geeigneter, die befürchtete Katastrophe zu beschleunigen, als sie aufzuhalten. Der prophetische Geist wird leicht zum Gespenst, wenn er Ängsten immer nur neue Bilder gibt – ohne Rettung in Sicht, ohne Antrieb.
Darf man prophetisch sein, ohne die Konsequenzen zu erwägen? Manche lehnen jegliches Bedenken als Zwangsjacke des Freigeistes ab. Michel Houellebecq, der unablässig die Unverantwortlichkeit des Autors predigt, sagte auf die Frage, ob er dem Front National mit der Vision einer islamischen Republik auf französischem Boden eine Steilvorlage geliefert habe: Noch nie habe ein Leser wegen eines Romans seine Weltanschauung geändert! Man könnte versucht sein, dies zu bezweifeln. Noch besser ist es aber, die offenen Fragen politisch zu „bearbeiten“, die Ursachen und Katalysatoren der gesellschaftlichen Verunsicherung sind. Damit wäre die Endzeit für Apokalyptiker erneut eingeläutet.
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Bernd Löhmann, Chefredakteur