Dass Imperien untergehen, ist in der Weltgeschichte ein bekanntes Phänomen. Der Fall großer Reiche geht mit dem Herrschaftsverlust mächtiger Potentaten einher und ruft meist wilde Verschwörungstheorien auf den Plan, die dunklen Kräften Schuld an dem Niedergang geben. Sie dienen der Erklärung für den Zusammenbruch und sollen den Machtverfall rechtfertigen. Nicht anders verhält es sich beim Zerfall des sowjetischen Hegemonialsystems und beim Ende der UdSSR, das vor einem Vierteljahrhundert am 25. Dezember 1991 besiegelt wurde.
Der einstige Koloss entstand am 30. Dezember 1922 aus dem Zarenreich im Zuge der Oktoberrevolution 1917 in Gestalt der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und existierte 69 Jahre. Wie einst Großreiche an Dekadenz, Katastrophen, verpassten Reformen, Bürgerkrieg, imperialer Überdehnung und ökonomischer Divergenz zwischen der Zentralmacht und ihren Regionen scheiterten, so lassen sich einige dieser Faktoren auch beim Untergang der Sowjetunion beobachten. Indes liegen die Gründe für den schleichenden Zerfallsprozess des Imperiums, sowohl im Inneren der Union als auch in der äußeren Einflusssphäre, tiefer und reichen weit in die Vergangenheit zurück.
Im Inneren verstärkten sich Anfang der 1980er-Jahre Diskrepanzen zwischen der veralteten Kreml-Garde der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) mit Leonid Breschnew, Juri Andropow und Konstantin Tschernenko, ihren ideologischen Ansprüchen, die mit der Realität wenig gemein hatten, dem verkrusteten, einer Diktatur gleichen zentralistischen Herrschaftssystem, das reformunfähig war, und dem ökonomischen Niedergang. Notwendige staatliche und gesellschaftliche Veränderungen des Unionssystems blieben aus. Die KPdSU stand vor einem Generationenwechsel, auf den sie nicht wirklich vorbereitet war, da sich in derartig diktatorisch regierten Staaten der Machtwechsel gewöhnlich durch Sturz der Führungsfigur vollzieht.
Gorbatschows Perestroika
Über die Ursachen für diese Entwicklungen wird unverändert gestritten. Manche sehen in der Modernisierung der Sowjetunion das eigentliche Ziel von Michail Gorbatschows Politik der Perestroika. Seine kommunistische Rhetorik nutzte er, um Konservative in der Partei zu beruhigen, in Wirklichkeit aber verstärkt Gedanken westlicher sozialer Demokratie durchzusetzen. Andere hingegen hielten immer schon sein Reformgerede lediglich für vorgeschoben, weil eine umfassende Änderung des zentralistischen Systems ausblieb. Ebenso fraglich ist, ob Gorbatschow intendierte, mit seiner Reformpolitik einerseits die Sowjetunion zu bewahren und andererseits den Sozialismus in eine zivildemokratische Gesellschaftsordnung umzugestalten. Dabei waren das sowjetische Imperium und das kommunistische Regime ökonomisch nicht mehr zu retten. Stagnierende Wirtschaftsleistungen über Jahre hinweg, hohe US-Dollar-Verluste aufgrund des gesunkenen Ölpreises, das westliche Hochtechnologieembargo und Katastrophen wie in Tschernobyl – die berechtigte Zweifel an der Technologiekompetenz aufkommen ließen – verschärften die sozioökonomische Krise und Verfallsentwicklung des Sowjetsystems. Bisher ist unklar, ob Gorbatschows Politik den Niedergang verursacht oder gar beschleunigt hat, oder ob der wirtschaftliche Zusammenbruch unaufhaltsam war und er lediglich versuchte, den Prozess dringend erforderlicher Gesellschaftsreformen erträglich zu gestalten, wie er selbst behauptet. Die Frage zu stellen, ob die Sowjetunion ohne Reformen hätte überleben können, ist überflüssig, weil hypothetisch.
Neben der Ökonomie spielte ebenso die Oppression eine Rolle. Die Sowjetunion als Vielvölkerstaat konnte die Hunderte verschiedener Volksgruppen nur mit Zwang kontrollieren. Ethnische Identitäten, die sich auseinander entwickelten, und wachsende Nationalitätenkonflikte bargen Sprengkraft und ließen sich mit der von Russland dominierten Föderationspolitik zunehmend schwerer in Einklang bringen. Hinzu kam, dass Gorbatschows Glasnost-Politik zur Wiederentdeckung und Neubewertung der eigenen Vergangenheit führte. Sowjetische Intellektuelle benannten die Perversionen der Schreckensherrschaft Stalins und deuteten nun den Hitler-Stalin-Pakt als Ausgangspunkt seiner Expansionspolitik, die Polen teilte und das Baltikum sowie Moldawien dem Einfluss Moskaus unterwarf.
Im Ost-West-Konflikt machte sich in den 1980er-Jahren die ökonomische und militärische Erschöpfung der Sowjetunion zusehends bemerkbar. Ausgaben für Rüstungsgüter gingen ausnahmslos auf Kosten der Konsumgüterindustrie. Der Kremlführung fehlte es an Weitsicht, die Verhandlungen über den NATO-Doppelbeschluss mit dem Westen für Abrüstungsvereinbarungen zu nutzen, um die eigene Wirtschaft zu entlasten und Reformen voranzutreiben. Das Land war außerstande, der neuen Eskalationsstufe im Rüstungswettlauf mit den Vereinigten Staaten nachzukommen, die sich mit der geplanten Einführung satellitengestützter Raketensysteme (SDI-Programm) der Reagan-Administration abzeichnete. Gorbatschow reagierte darauf mit dem Abschluss des INF-Abkommens über nukleare Mittelstreckenwaffen und beendete mit dem Abzug der Roten Armee aus Afghanistan 1989 den zehn Jahre zuvor begonnenen Versuch, durch Zugang zum Indischen Ozean die geostrategische Position zu verbessern.
Abkehr von der „Breschnew-Doktrin“
In Osteuropa verlangte die herangewachsene Nachkriegsgeneration mehr Freiheit und Prosperität. Die Überzeugungskraft der kommunistischen Ideologie verblasste, je mehr sich Oppositions- und Freiheitsbewegungen, besonders die Solidarność in Polen, ausbreiteten. Gorbatschows Abkehr von der „Breschnew-Doktrin“ spielte eine entscheidende Rolle. Als nach dem Fall der Mauer in Berlin die Bevölkerungen in den Warschauer-Pakt-Staaten aufbegehrten, um die Jahreswende 1989/90 reihenweise Führer der kommunistischen Parteien stürzten und Regimewechsel folgten, war Gorbatschow Gefangener seiner eigenen Politik. Sie wäre unglaubwürdig geworden, hätte er versucht, gegen solche Veränderungen politisch oder gar militärisch vorzugehen. Da die Sowjetmacht auf Intervention verzichtete, die DDR aufgrund der bevorstehenden Wiedervereinigung Deutschlands, dessen NATO-Mitgliedschaft politisch beschlossen war, aus den militärischen Strukturen des Warschauer Pakts am 24. September 1990 ausschied, war ein entscheidender Schritt zur Liquidierung des Bündnisses getan, die zum 1. Juli 1991 erfolgte. Auf dem europäischen Kontinent änderte sich die sicherheitspolitische Ordnung grundlegend.
Den Kalten Krieg verlor die Sowjetunion ökonomisch, politisch-ideologisch und militärtechnologisch angesichts ausbleibender Forschungsentwicklungen. Die Hegemonialmacht musste zusehen, wie ihr Herrschaftssystem über Ostmitteleuropa schrittweise zusammenbrach. Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien entzogen sich der kommunistischen Bevormundung, strebten nach Selbstbestimmung und wandten sich dem Westen in der Hoffnung zu, bald Anschluss an den besseren Lebensstandard zu erlangen. Erste Zeichen der Abkehr vom Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und für eine vorsichtige Annäherung an die Europäischen Gemeinschaften waren das Assoziierungsabkommen und das Wirtschaftshilfeprogramm für Polen und Ungarn (Poland and Hungary: Aid for Restructuring of the Economies, PHARE) 1989. Zugleich scheiterten Bemühungen, den RGW marktwirtschaftlich zu reformieren, sodass dieses System der sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft Ende Juni 1991 die Arbeit einstellte.
Parallel vollzog sich ein allmählicher Erosionsprozess der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, der mit den Unabhängigkeitserklärungen der drei baltischen Staaten im März und Mai 1990 begann und sich im April 1991 mit der Ablösung Georgiens von der UdSSR fortsetzte. Der gescheiterte Putsch gegen Präsident Gorbatschow vom August 1991 signalisierte elf weiteren Unionsrepubliken dessen Führungsschwäche und ermunterte sie, sich loszusagen. Ebenso versuchte Boris Jelzin, die Schwäche Gorbatschows auszunutzen und an die Macht zu gelangen. Als Konsequenz vereinbarten die Präsidenten Russlands, Boris Jelzin, der Ukraine, Leonid Krawtschuk, und Weißrusslands, Stanislaw Schuschkewitsch, am 8. Dezember 1991, den Unionsvertrag von 1922 außer Kraft zu setzen. Stattdessen wurde die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) vereinbart, der am 21. Dezember acht weitere, kurz davor unabhängig gewordene Sowjetrepubliken beitraten.
Verlust der Weltmachtposition
Der Untergang der Sowjetunion war keineswegs ein Zufall, vielmehr das Produkt jahrzehntelanger Fehlentwicklungen, mit denen Russland auch gegenwärtig noch zu kämpfen hat. Nicht Gorbatschows Reformeifer, sondern Jelzins Verhalten 1991 und der Kapitalismus, so meinen Kritiker, die dem Sozialismus nachtrauern, heute noch, zerstörten die Errungenschaften des Sowjetvolkes. Die neue Ordnung in Europa schuf teils bis in die Gegenwart nachwirkende Probleme. Estland, Lettland und Litauen, Polen, Ungarn, der zusätzliche Zerfall der Tschechoslowakei in Tschechien und die Slowakei als eigenständige Republiken, Bulgarien und Rumänien, sie alle suchten sicherheitspolitischen Schutz bei der NATO und traten der Europäischen Union (EU) bei. Dagegen verblieben die weiter im Osten liegenden Staaten Ukraine, Moldawien und Georgien in einem machtpolitischen Vakuum. Regionale Konflikte und Bürgerkriege am Rand des Sowjetreichs waren in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten die Folge. Beispiele sind die Konflikte zwischen Georgien und Abchasien, um Transnistrien, im Kaukasus (Tschetschenien, Bergkarabach, Dagestan), in Zentralasien (Tadschikistan, Aufstände in Südkirgisistan) bis hin zur Krimkrise und dem Krieg in der Ukraine seit 2014.
Unter Präsident Wladimir Putin kämpft Russland seitdem um die Anerkennung seines Weltmachtstatus. Der Zerfall des sowjetischen Imperiums hat die russische Seele stärker getroffen, als viele Beobachter im Westen es für möglich gehalten haben. Alte Traumata bestehen in Russland derzeit fort, neue sind hinzugekommen. Verlust der Weltmachtposition, insbesondere in den Augen der Regierung in Washington, Furcht vor Einkreisung und Isolierung seitens der Vereinigten Staaten, Chinas und der EU erklären zum Teil, warum Putins Politik im eigenen Lande so viel Unterstützung findet. Er bedient das Volksempfinden, das danach lechzt, Russland als globale Macht anerkannt zu sehen wie die einstige UdSSR.
Hanns Jürgen Küsters, geboren 1952 in Krefeld, seit 2009 Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste /Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung, Dr. rer. pol., apl. Professor an der Universität Bonn.