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Ein Leben als Politiker in West und Ost

Die Autobiographie von Bernhard Vogel

Bernhard Vogel: Erst das Land. Mein Leben als Politiker in West und Ost, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2024, 416 Seiten, 28,00 Euro.

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Wenn der Begriff „Vollblutpolitiker“ auf einen Menschen zutrifft, dann auf Bernhard Vogel: mit 28 Jahren Eintritt in die CDU, mit 35 Kultusminister, mit 44 Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, mit 60 Ministerpräsident von Thüringen. Dennoch hält er rückblickend fest: „Auf die Idee, mich der Politik zuzuwenden, bin ich bis zum Abschluss meines Studiums nicht gekommen.“ Wer verstehen will, warum Vogel dennoch Politiker wurde, was ihn antrieb und was er bewirkte, kann jetzt dessen Erinnerungen zu Rate ziehen.

Geboren 1932 in einem Akademikerhaushalt, verbrachte er Kindheit und Jugend in Gießen und München. Wichtiger als die Schule wurde ihm sein kirchliches Engagement im „Bund Neudeutschland“, wo er schon früh mit der Katholischen Soziallehre in Berührung kam. Die Beschäftigung mit dieser Thematik führte dazu, dass Vogel parallel zum Studium Jugendbildungsreferent im Heinrich Pesch Haus in Mannheim wurde. Hier vermittelte er Arbeitern und Betriebsräten Grundgedanken christlicher Soziallehre, Grundlagen der Volkswirtschaftslehre sowie Arbeits- und Betriebsverfassungsrecht. Dennoch entschied er sich, sein Studium der Soziologie und Politikwissenschaft in Heidelberg zu Ende zu führen. Hier prägte ihn Dolf Sternberger, der „Vater des Verfassungspatriotismus“, der ihn mit einer Arbeit zu den „Unabhängigen in den Kommunalwahlen westdeutscher Länder“ 1960 promovierte. Als Mitglied von Sternbergers Forschungsseminar verfolgte Vogel eigentlich eine akademische Laufbahn. Jedoch überredete ihn ein Heidelberger Handwerksmeister, für den Stadtrat zu kandidieren, sodass er, nach dem Eintritt in die CDU, zunächst in die Kommunalpolitik hineinschnupperte.


Von Bonn nach Mainz

Parallel zu der nun beginnenden Politikerkarriere blieb Vogel zeit seines Lebens ein engagierter Katholik. In der katholischen Kirche waren die 1960er-Jahre von Reformbemühungen geprägt, beginnend mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1962 bis 1965. In Deutschland wurde der Essener Katholikentag von 1968, dessen Präsidentschaft Vogel übernahm, zu einem „Katholikentag des Umbruchs und des Aufbruchs“, in dessen Folge das Laienelement in der Kirche gestärkt wurde. Vogel wirkte an diesen Prozessen mit, zunächst als Mitglied, ab 1972 als Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK). In Konflikt mit dem Vatikan unter Papst Paul VI. geriet das ZdK über dessen Pläne, eine „nationale“ Bischofskonferenz der DDR zu schaffen und eine Nuntiatur in Ost-Berlin einzurichten. Aus deutschlandpolitischen Gründen sprach sich Vogel strikt dagegen aus. Mithilfe der Deutschen Bischofskonferenz und zahlreicher Unionspolitiker konnte das Vorhaben bis zu dessen ergebnislosem Abbruch unter Papst Johannes Paul II. verzögert werden.

Inzwischen hatte Vogel eine beeindruckende politische Laufbahn absolviert. Zwar ging seine Zusage, 1964 für den neuen Wahlkreis Neustadt-Speyer zu kandidieren, vor allem auf die Aufforderung von Betriebsräten großer Firmen aus Ludwigshafen und Mannheim zurück. Er benötigte dafür jedoch auch die Unterstützung des CDU-Fraktionsvorsitzenden im Mainzer Landtag Helmut Kohl, den er 1957 in Sternbergers Forschungsseminar kennengelernt hatte. Nach nur zwei Jahren als Bundestagsabgeordneter trug Kohl ihm den Posten des Kultusministers in Mainz an, obwohl nicht er, sondern Peter Altmeier noch Ministerpräsident war. Der Fraktionsvorsitzende konnte sich mit seinem Vorschlag gegen den Kandidaten des Ministerpräsidenten durchsetzen.

Kohl wurde zum wichtigsten Förderer Vogels, und dieser wiederum gehörte zu den engen Vertrauten Kohls, dem er 1974 als CDU-Landesvorsitzender und 1976 als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz nachfolgte. Er bewunderte an dem späteren Bundeskanzler „seine Verlässlichkeit, seine Glaubwürdigkeit, seine Kampfbereitschaft, seine Fähigkeit, Menschen um sich zu versammeln, seine Ecken und Kanten“. Kohl hatte Personen wie Vogel und Heiner Geißler in den 1970er-Jahren als Modernisierer der CDU für sich gewonnen, um die Partei grundsätzlich zu erneuern, ohne ihren christlich-konservativen Kern zu beschädigen. Anders als Geißler hielt Vogel Helmut Kohl auch später die Treue, vor allem, als sich dieser 1989 einem innerparteilichen Umsturzversuch gegenübersah – eine Episode, über die in Vogels Buch allerdings nichts zu erfahren ist.

Als Ministerpräsident wollte Vogel Rheinland-Pfalz „von seinem Ruf befreien, ein Land der ‚Rüben und Reben‘ zu sein“. Anschaulich schildert er die Herausforderungen, die er in den nun folgenden zwölf Jahren zu bewältigen hatte. Dazu zählten der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur sowie die Förderung der Wirtschaft, wozu unter anderem der Bau des Kernkraftwerks Mülheim-Kärlich gehörte. Dass Vogel in dieser Zeit elfmal die DDR besuchte, weil er es als seine Pflicht erachtete, nicht nur die westdeutschen Länder zu kennen, sondern auch Ostdeutschland, war mit seinem gesamtdeutschen Empfinden zu erklären. Dabei war er nur zweimal in „offizieller Mission“ unterwegs, um Erich Honecker zu treffen. Bei diesen Gelegenheiten scheute er vor Kritik, etwa am Schusswaffengebrauch gegenüber Flüchtlingen an der innerdeutschen Grenze, nicht zurück. Wenig bekannt war bisher die Freundschaft Vogels mit dem Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Durch dessen Entführung im September 1977 geriet er in einen inneren Konflikt, da er einerseits wollte, dass dieser überlebte, und Verständnis für dessen Familie aufbrachte, andererseits aber den Standpunkt teilte, dass die Bundesrepublik sich nicht von Terroristen erpressen lassen durfte.


„Gott schütze Rheinland-Pfalz“

Wenngleich Vogel Rheinland-Pfalz überaus erfolgreich regierte und stets satte Mehrheiten für die CDU erreichte, brodelte es in der Partei, als nach der Landtagswahl 1987 die Union auf „nur“ noch 45,1 Prozent der Stimmen kam und eine Koalitionsregierung mit der FDP gebildet werden musste. Hinzu kam Kritik an Vogels Person und Amtsführung. Auf dem Parteitag 1988 trat der ehemalige Fraktionsvorsitzende Hans-Otto Wilhelm als Gegenkandidat gegen Vogel an und forderte die Trennung der Ämter des Ministerpräsidenten und des Parteivorsitzenden. Vogel bekundete seine Ablehnung und stellte sich Wilhelm entgegen. Als Letzterer gewählt wurde, erklärte Vogel seinen Rücktritt als Ministerpräsident zum 2. Dezember und schloss seine Rede mit den Worten: „Gott schütze Rheinland-Pfalz.“ Die CDU regierte noch bis 1991, danach wurde sie abgewählt und ist seither in ihrem einstigen Stammland nicht wieder an die Regierung gekommen.


„Das größte Abenteuer meines Lebens“

Für den 56-jährigen Vogel brach damit eine Welt zusammen, er „fiel ins Bodenlose“. Es bedurfte des Zuspruchs von Kohl, der ihn überzeugte, den Vorsitz der Konrad-Adenauer-Stiftung zu übernehmen; ein Amt, das er von 1989 bis 1995 innehatte. Als nach dem Rücktritt des Thüringer Ministerpräsidenten Josef Duchač im Januar 1992 rasch ein kompetenter Nachfolger gesucht wurde, ließ sich Vogel, der eine Thüringer Lösung bevorzugt hätte, nach anfänglichem Zögern von Kohl auch dafür gewinnen. Damit „begann das größte Abenteuer [s]eines Lebens“. Nun galt es, ein Land ganz neu aufzubauen: Neben der Etablierung einer neuen Verwaltungsstruktur ging es vor allem um den Aufbau einer neuen Wirtschaftsordnung auf den Trümmern der ehemaligen DDR-Wirtschaft.

Die oftmals geschmähte Treuhandanstalt, die mit der Privatisierung der ehemals „volkseigenen“ Wirtschaft beauftragt war, erfährt durch Vogel eine Ehrenrettung: Sie habe „ihre Herkulesaufgabe, trotz mancher Fehler, alles in allem erfolgreich gelöst“. Vogel stürzte sich von Anfang an mit Elan in seine vielfältigen Aufgaben, die den Ausbau der Infrastruktur, insbesondere einer erst nach Ende seiner Amtszeit realisierten ICE-Streckenführung über Erfurt, die Gründung einer neuen Universität, die Aushandlung der Solidarpakte I und II für die ostdeutschen Länder, die Abfederung der hohen Arbeitslosigkeit, die Neugründung der Gedenkstätte Buchenwald und vieles andere mehr umfassten.

Dass Vogel als Westdeutscher trotz der zahlreichen Alltagsprobleme der Menschen zu einem äußerst populären Ministerpräsidenten wurde, hing nicht zuletzt damit zusammen, dass er von Anfang an seine Identifikation mit Thüringen deutlich machte. Ein Mittel dazu waren zahlreiche Wochenendwanderungen von Freitag bis Sonntag und Kreisbereisungen – Letztere hatte er auch schon in Rheinland-Pfalz durchgeführt. Hier konnten die Menschen ihm näherkommen, und er trat in persönlichen Kontakt zu den Thüringerinnen und Thüringern. Daher war es auch keine Frage, dass er nach dem Rücktritt des CDU-Landesvorsitzenden Willibald Böck 1993 zu seinem Nachfolger gewählt wurde.


Rückblick auf die Thüringer Entwicklung

Sein Einsatz wurde von den Thüringerinnen und Thüringern belohnt: Bei den Landtagswahlen von 1994 und 1999 erhielt die CDU 42,6 beziehungsweise 51 Prozent der Stimmen. Vogel, der bei seiner Meinung blieb, dass Thüringen eigentlich von einem gebürtigen Thüringer regiert werden sollte, baute mit dem Eichsfelder Dieter Althaus einen Nachfolger auf, der nach seinem Rücktritt zunächst (2001) den CDU-Vorsitz und danach (2003) auch das Amt des Ministerpräsidenten übernahm.

Heute sieht Vogel, der zwischen 2001 und 2009 noch einmal als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung fungierte, mit gemischten Gefühlen auf die Thüringer Entwicklung. Dabei gilt seine Antipathie zum einen Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Partei Die Linke, der das Ziel verfolge, die heutigen Eigentums- und Machtverhältnisse grundlegend zu verändern, und zum anderen der AfD, die Vogel als „nationalistische, rückwärtsgewandte, geschichtsvergessene Partei“ bezeichnet. Das ist sicher zutreffend; leider bietet er keine Erklärungen für den – nach dem Ende seiner Amtszeit eingetretenen – Erfolg dieser Partei in Thüringen, außer dass sie „zum Auffangbecken für Verdrossene geworden“ sei.

Insgesamt hat Vogel eine in vielerlei Hinsicht aufschlussreiche Autobiographie vorgelegt, die Einblicke in das Denken und Fühlen des langjährigen CDU-Politikers erlaubt. Wer an den Hintergründen politischer Entscheidungen interessiert ist, kommt jedoch weniger auf seine Kosten. Die vornehme Zurückhaltung kommt Weggefährten meist entgegen, befriedigt indes nicht immer die Neugier von Zeithistorikern, die einen genaueren Blick hinter die Kulissen werfen möchten.

 

Hermann Wentker, geboren 1959 in Bonn, promovierter und habilitierter Historiker, Leiter der Abteilung Berlin des Instituts für Zeitgeschichte, apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Potsdam.

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