Andreas Platthaus: Der Krieg nach dem Krieg: Deutschland zwischen Revolution und Versailles 1918/19, Rowohlt Verlag, Berlin 2018, 448 Seiten, 26,00 Euro.
Howard Elcock: Could the Versailles System have Worked?, Springer International Publishing – Palgrave Macmillan, London / New York / Shanghai 2018, 193 Seiten, 69,54 Euro.
Eckart Conze: Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt, Siedler Verlag, München 2018, 560 Seiten, 30,00 Euro.
Jörn Leonhard: Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt, 1918–1923, C. H. Beck Verlag, München 2018, 1.531 Seiten, 39,95 Euro.
Vor einhundert Jahren, im Juni 1919, endete mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages im Spiegelsaal von Versailles der Kriegszustand zwischen Deutschland und seinen Hauptgegnern Frankreich und Großbritannien sowie 25 weiteren „alliierten und assoziierten Mächten“. Der Vertrag war dabei nur einer der fünf Pariser Vorortverträgen: Neben Versailles wurden die Verträge von Saint-Germain-en-Laye mit Österreich, Neuilly-sur-Seine mit Bulgarien, Trianon mit Ungarn und Sèvres mit dem Osmanischen Reich geschlossen. Da der Senat der Vereinigten Staaten von Amerika 1920 die Ratifizierung des Versailler Vertrages ablehnte, schlossen die USA und Deutschland 1921 einen Separatfrieden.
Die wesentlichen Bedingungen des Versailler Vertrages bestanden in umfangreichen Gebietsabtretungen, durch die das Deutsche Reich circa dreizehn Prozent seines Territoriums einbüßte, der Pflicht zur Leistung von Reparationen in noch zu bestimmender Höhe, der Schaffung eines Berufsheeres von maximal 100.000 Mann sowie der Anerkennung der alleinigen Kriegsschuld Deutschlands. Außerdem wurde ihm der Beitritt zum Völkerbund in Aussicht gestellt, dessen Satzung in Teil I des Vertrages niedergelegt war.
Bereits 1919 hatte der Vertrag eine schlechte Presse. Selbst einflussreiche Stimmen aus den Reihen der Siegerstaaten kritisierten ihn scharf. Der britische Ökonom John Maynard Keynes, der auf britischer Seite an den Friedensverhandlungen teilgenommen hatte, zog sich aus Protest gegen den Vertrag aus der Delegation zurück und veröffentlichte wenig später sein Buch The Economic Consequences of the Peace. Diese harsche Abrechnung mit dem Vertragswerk erlangte besonders im englischsprachigen Raum großen Einfluss. In Deutschland wurde der Vertrag bekanntermaßen über alle politischen Lager hinweg als nationale Demütigung empfunden und stellte sich als schwere Bürde für den demokratischen Neubeginn heraus.
Moralische Anklage des Kriegsgegners
Von den zahlreichen Neuerscheinungen zu den Pariser Vorortverträgen sollen hier vier besprochen werden. Andreas Platthaus, Feuilleton-Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, bemerkt in seinem Buch Der Krieg nach dem Krieg. Deutschland zwischen Revolution und Versailles 1918/19, es herrsche unter den Historikern weitgehend Einigkeit darüber, dass der Vertrag kaum Chancen auf Erfolg gehabt habe. Umstritten sei „lediglich die Frage, wie es geschehen konnte, dass man dem Abkommen überhaupt diese Form gab“ (S. 11).
Die Phase zwischen dem Waffenstillstand in Compiègne im November 1918 und der Vertragsunterzeichnung im Juni 1919 beschreibt Platthaus als „Krieg, den keiner so nennt“. Damit greift er die vielzitierte Charakterisierung von Gerd Krumeich auf, der von der Fortdauer des „Krieges in den Köpfen“ auch nach Einstellung der Kampfhandlungen gesprochen hat. Wie Platthaus eindrücklich am Beispiel der fünf „Gueules cassées“ (deutsch: „zerschlagene Fressen“) zeigt – jener Delegation französischer Soldaten mit grauenhaften Gesichtsverletzungen, die bei der Vertragsunterzeichnung im Spiegelsaal gegenüber den Deutschen platziert wurde –, diente ihre Zurschaustellung nicht als Mahnung vor dem Krieg als solchem und Appell zur friedlichen Konfliktlösung, sondern zur visuellen Untermauerung der moralischen Anklage des unterlegenen Kriegsgegners.
Eingestreut in die detaillierte Darstellung der Friedensbedingungen sind drei biographische Exkurse: Albert Einstein, der die internationale Sicht eines überzeugten Pazifisten auf die Ereignisse repräsentiert, die Wahrnehmung des Chefredakteurs des Berliner Tageblatts Theodor Wolff als Meinungsmacher und scharfem Kritiker des Friedens sowie die Perspektive des Malers Claude Monet als Vertreter der Siegernation. Insgesamt ist die Darstellung flüssig geschrieben und eignet sich zum Einstieg in die Thematik.
Kriegsschuldartikel 231 vergiftete Atmosphäre
In seinem posthum veröffentlichten Buch fragt Howard Elcock, Professor an der Northumbria University in Großbritannien, ob das Versailler Vertragssystem hätte funktionieren können (Could the Versailles System have Worked?). Elcock konzentriert sich dabei auf die Beziehungen zwischen den Hauptmächten USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland von 1919 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Seit dem Vertrag von Locarno 1925, so seine Argumentation, habe es durchaus Chancen auf „einen stabilen und dauerhaften Frieden“ gegeben. Bereits Ende der 1920er-Jahre hätten die Außenminister Gustav Stresemann und Aristide Briand die Idee einer föderal organisierten europäischen Union diskutiert. Folglich müssten die Weltwirtschaftskrise und der Aufstieg Adolf Hitlers viel stärker als Gründe für das Scheitern des Versailler Vertragssystems gewichtet werden (S. 12).
Diese Argumentation überzeugt nicht. Das beginnt mit der perspektivischen Einengung auf Deutschland. Noch dazu werden die (innenpolitischen) Entwicklungen sowie die Wahrnehmung des Versailler Vertrages in Deutschland nur oberflächlich thematisiert. Wenn der Autor Reichsaußenminister Gustav Stresemann zum Chef der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) statt der Deutschen Volkspartei (DVP) macht, zeugt das von Elcocks Unkenntnis der innenpolitischen Situation im Deutschen Reich, denn die Deutschnationalen hatten den Vertrag von Locarno vehement bekämpft – und eben nicht unterstützt.
Auch geht die Analyse nirgends auf den Kriegsschuldartikel 231 ein, der die Atmosphäre weit mehr vergiftete als die übrigen Vertragsbestimmungen. Elcocks Behauptung, der Vertrag von Locarno habe den Weg hin zu einer dauerhaften Verständigung eröffnet, verkennt außerdem, dass er die grundsätzlichen Differenzen ja nicht beseitigte. Weder für die Reparations- noch für die territoriale Frage zeichnete sich bis Ende der 1920er-Jahre eine einvernehmliche Lösung ab. Es war sogar erst die Weltwirtschaftskrise, die zum faktischen Ende der Reparationszahlungen auf der Konferenz von Lausanne (1932) führte. Auch der Bau der Maginot-Linie – das Befestigungsbollwerk an Frankreichs Westgrenze – noch 1927 spricht gegen den behaupteten Geist der Verständigung. Selbst wenn es Ansätze zu einer Entspannung gab, steht doch außer Frage, dass das Versailler Vertragssystem als solches einem friedlichen Neuanfang im Weg stand.
In ihrem Ansatz vergleichbare Darstellungen des Versailler Vertragssystems legen die Neuzeithistoriker Eckart Conze aus Marburg (Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt) und Jörn Leonhard aus Freiburg (Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt, 1918–1923) vor. Beide Autoren gehen davon aus, dass die Geschichte des Vertragswerks nicht aus der Perspektive seines Scheiterns mit Beginn des Zweiten Weltkriegs als teleologische Zwangsläufigkeit geschrieben werden darf. Sie kommen jedoch zu dem Ergebnis, dass die Nachkriegsprobleme zu komplex waren, als dass sie unter den gegebenen Umständen dauerhaft und für alle Beteiligten zufriedenstellend hätten gelöst werden können.
Teils gegensätzliche Interessen
Das Ausmaß an Problemen war in der Tat gewaltig: So lastete auf den Verantwortlichen ein bisher nie gekannter Druck öffentlicher Erwartungen, die im Krieg immer höher geschraubt worden waren. Dabei waren die Interessen der Siegermächte – insbesondere der USA und Großbritanniens auf der einen und Frankreichs auf der anderen Seite – teils gegensätzlich. Über ein Treffen mit dem britischen Premierminister David Lloyd George bemerkte der französische Premierminister Georges Clemenceau, es sei vorzüglich verlaufen – man habe in allen Fragen unterschiedliche Ansichten („Splendidly. We disagreed about everything.“). Während Briten und Amerikaner mildere Bedingungen bevorzugten, war Frankreich aus einem außerordentlichen Sicherheitsbedürfnis heraus an einer möglichst weitgehenden Schwächung Deutschlands interessiert.
Hinzu kam, dass die Herrschaftsräume dreier Imperien nach dem nationalstaatlichen Modell binnen weniger Monate neu geordnet werden sollten: das ehemalige Vielvölkerreich Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich und teilweise auch frühere russische Gebiete. In der Kürze der Zeit und angesichts der ethnischen Landkarten, die einem Flickenteppich glichen, war dies eine schier unlösbare Aufgabe.
„Hausgemachte“ Probleme
Freilich waren zahlreiche Probleme „hausgemacht“. So brach die Pariser Friedenskonferenz im Vergleich zu den großen Friedensschlüssen der vorangegangenen Jahrhunderte (besonders 1648 und 1815) mit erprobten Grundsätzen: Die Verliererstaaten wurden 1919 nicht gleich-, sondern als unterlegene Bittsteller behandelt, Kriegsverbrechen moralisierend ausschließlich ihnen zur Last gelegt. Anstatt das demokratische Deutsche Reich einzubinden, wurde ihm, dem „Paria“ der Völkergemeinschaft, der Beitritt zum neugegründeten Völkerbund zunächst verwehrt. Schwierige Charakterzüge der beteiligten Politiker wirkten sich ebenfalls nachteilig aus, beispielsweise die Selbstüberschätzung des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, der die Verhandlungen ohne Einbindung der den US-Senat dominierenden Republikaner führte und allein auf sein Charisma vertraute, was die Ablehnung des Vertrages durch den US-Senat nachgerade provozierte. Durch die Nichtbeteiligung der USA konnte der Völkerbund nicht die erhoffte Wirkung entfalten.
Auch mit Blick auf die globalen Gegebenheiten handelten die Siegermächte widersprüchlich: Einerseits traten sie für das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker und die demokratische Regierungsform ein. Das galt jedoch nicht für die Kolonialvölker, denen die Selbstregierung weitgehend vorenthalten wurde. Andere Mächte sahen sich um ihre berechtigten Interessen betrogen. So musste es China zunächst hinnehmen, dass die ehemalige deutsche Kolonie Kiautschou auf dem chinesischen Festland Japan zugesprochen wurde – eine als Demütigung empfundene Entscheidung, die in China bis heute präsent ist.
„Dolchstoßlegende“
Selbstverständlich fehlte auch auf deutscher Seite, vor allem in den Reihen der ehemaligen kaiserlichen Eliten, die Einsicht in die eigene Verantwortung für die Niederlage. Dass das innenpolitische Klima durch die „Dolchstoßlegende“ und die Hetze gegen „Erfüllungspolitiker“ eine schwere Belastung für die junge Weimarer Republik darstellte, war einer der Gründe, warum auf den teuer erkauften Sieg ein „Pyrrhusfrieden“ folgte: ein Frieden, der einem Fehlschlag gleichkam.
Ein Aspekt, den sowohl Eckart Conze als auch Jörn Leonhard anreißen, ist die interessante Frage, inwieweit die Erfahrungen mit dem Versailler Vertragswerk und seinem Scheitern die Neuordnung der Welt nach 1945 bedingten. Wieviel „Lehren aus Versailles“ beeinflussten das Handeln der politisch Verantwortlichen aller Seiten nach 1945? Hier bieten sich durchaus interessante Ansätze für eine systematische, international vergleichende Darstellung beider Friedensordnungen. Schließlich hatten einige der Architekten der Friedensordnung nach 1945 ihre Erfahrungen mit der Friedensordnung von Versailles gemacht. Jean Monnet, einer der Gründerväter der Europäischen Gemeinschaften, war 1920 stellvertretender Generalsekretär des Völkerbundes gewesen, und Konrad Adenauer, der nach 1945 maßgeblich den Aufbau der Bundesrepublik prägte, hatte als Kölner Oberbürgermeister den Krieg und die französische Rheinlandbesetzung in den 1920er-Jahren aus nächster Nähe erlebt. Letztlich könnte eine solche Betrachtung der Friedensordnung nach 1945 im Lichte der Erfahrungen mit dem Frieden von Versailles dazu beitragen, die 1950er- und 1960er-Jahre mehr aus ihrer Vorgeschichte heraus zu beurteilen, als sie an den Maßstäben der Gegenwart zu messen.
Jan Philipp Wölbern, geboren 1980 in Marburg, Wissenschaftlicher Referent, Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste /Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung.