Die direkte Demokratie der Schweiz ist für viele beispielhaft und gilt als Inspirationsquelle für eine stärkere Beteiligung der Bürger am politischen Geschehen. Jedoch sorgen Initiativen1 zur Verfassungsrevision gelegentlich auch für negative Schlagzeilen – einige wurden in jüngster Zeit als populistisch, mithin sogar als rechtswidrig bezeichnet. 2010 stimmten die Bürger über die von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) lancierte „Abschiebungs-Initiative“ „Für die Ausschaffung krimineller Ausländer (Ausschaffungsinitiative)“ ab. Der Souverän stimmte ihr bei einer Stimmbeteiligung von 53 Prozent mit 53 Prozent zu. In der Folge nahm das Parlament die gesetzliche Umsetzung in Angriff und wich dabei in einem Punkt von den Vorgaben der Initiative ab: Es fügte eine Härtefallklausel ein, die den Verfassungsnormen wie dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit Rechnung trägt. Daher reichte die SVP – mit dem Ziel, die gesetzliche Umsetzung der Initiative dem Parlament zu entziehen – noch während der Gesetzgebungsarbeiten eine weitere Initiative mit gleicher Stoßrichtung ein: Eine Liste von Straftaten, inklusive eines Ausweisungs-Automatismus für ausländische Täter, sollte in die Verfassung aufgenommen werden – ein Novum! Dadurch sollte die Prüfung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls durch die zuständige Strafbehörde verhindert werden. Die Initiative erhielt daher die Bezeichnung Durchsetzungsinitiative. Die fragliche Liste umfasste nebst schweren Verbrechen auch leichte Vergehen, teilweise Delikte, die nicht von Amtes wegen verfolgt werden.
Daraufhin folgte im Februar 2016 die Abstimmung über die Durchsetzungsinitiative, die mit 59 Prozent bei einer überdurchschnittlichen Beteiligung von 63 Prozent abgelehnt wurde. Diesem Resultat ging „ein Abstimmungskampf [voraus], wie ihn die Schweiz lange nicht [mehr] erlebt hat“2, wie es im Deutschlandfunk hieß.
Nachdem der Siegesrausch verflogen, der politische Kater überwunden ist und der Alltag wieder Einzug gehalten hat, ist es angebracht, eine Analyse vorzunehmen: Warum wurde die erste Initiative angenommen und die zweite abgelehnt – obwohl die Grundforderung letztlich die gleiche war? Aus der Identifizierung von Indikatoren lassen sich Hinweise ableiten, wie mit rechtsstaatlich problematischen, oft populistischen Forderungen umzugehen ist. Vor ähnlichen Herausforderungen stehen auch andere europäische Staaten, nicht zuletzt Deutschland.
Beteiligung braucht Anstöße
Vor der Abstimmung entstand zwar eine Diskussion über problematische Aspekte der Ausschaffungsinitiative, doch bewegte sich diese eher auf der abstrakten Ebene und war für Teile der Bevölkerung somit zu wenig fassbar und kaum präsent. Bei vielen Bürgern rückte die folgenreiche Dimension der Annahme dieser Initiative erst während der parlamentarischen Umsetzung ins Bewusstsein.
Dies zeigt, dass in einem politischen Diskurs das unmissverständliche Aufzeigen der Konsequenzen politischer Forderungen von entscheidender Bedeutung ist. Es ist töricht, zu glauben, sich Streitgesprächen – etwa mit der AfD – zu verweigern, wäre langfristig erfolgreich, weil die Bevölkerung die Absurdität eines Unterfangens schon erkennen und sich das Problem quasi von selbst verflüchtigten würde. Bei der Durchsetzungsinitiative wurde deutlich artikuliert, was die Konsequenzen einer Annahme wären: Die Gewaltenteilung wäre dadurch grundsätzlich infrage gestellt worden und weitere wichtige Prinzipien des Rechtsstaates wären in der Folge verletzt worden.
Es brauchte zur Vermittlung dieser Erkenntnis allerdings eine Initialzündung: Der Weckruf erfolgte, als eine Umfrage im Oktober 2015 eine Mehrheit von 66 Prozent für die Durchsetzungsinitiative ergab.3 Diese Momentaufnahme riss viele aus ihrem politischen Dämmerschlaf und setzte ein starkes Engagement unterschiedlicher Akteure in Gang, denen Schritt für Schritt eine Mobilisierung gegen die Initiative gelang.
Alle Parteien, mit Ausnahme der SVP, sprachen sich gegen die Initiative aus. Neu war, dass amtierende und ehemalige Bundesparlamentarier aus allen Parteien, darunter auch ehemalige SVP-Parlamentarier, ein Manifest unterzeichneten, in dem sie sich für die Institutionen und für die verfassungsmäßigen Grundlagen der Rechtsstaatlichkeit einsetzten. Augenfällig war zudem die starke Mobilisierung verschiedener gesellschaftlicher Gruppierungen: So schalteten sich auch prominente Staatsanwälte – die sich sonst bei Abstimmungen in Zurückhaltung üben, insbesondere bei Themen, die ihre spätere Arbeit beeinflussen – in die Debatte ein und zeigten die Undurchführbarkeit der Initiative auf.
Wesentlich zugespitzter äußerten sich 120 Rechtsprofessoren, die ebenfalls ein Manifest veröffentlichten: Ihnen ging es um nicht weniger als um die Verteidigung des Rechtsstaates. Des Weiteren veröffentlichten Mitglieder der Bischofskonferenz einen „dringenden Aufruf“ für ein Nein, dem sich auch Ehemalige anschlossen. Zusätzlich zu diesen Vorstößen aus politischen, kirchlichen und wissenschaftlichen Kreisen lancierten Verbände, soziale Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen markante Kampagnen; auch Prominente aus Gesellschaft und Kultur meldeten sich prononciert zu Wort. In den Medien wurde bald von der Zivilgesellschaft gesprochen – ein Begriff, der in der Presse zuvor nicht geläufig war.
Diese vielseitigen Bestrebungen gegen die Initiative fanden eine starke Resonanz in verschiedenen Medien. Sie wirkten allesamt als Multiplikatoren, wodurch ein außerordentlich breites Publikum erreicht wurde – selbst politisch Desinteressierte. Schon lange war ein Abstimmungsthema nicht mehr so omnipräsent und im Alltag der Bürger angekommen: Ob bei der Arbeit, im Vereinsleben oder beim Apéro entstanden lebhafte, kontroverse Debatten darüber, inwiefern die zentralen Prinzipien des Rechtsstaats nun tatsächlich auf dem Spiel stünden. Dadurch ließ sich der von der SVP auch in der Vergangenheit postulierte Gegensatz zwischen der – im schweizerischen Jargon – „Classe politique“ und dem „Volk“, als dessen Vertreter sich die SVP sieht, aufbrechen. Die Durchsetzungsinitiative mobilisierte offenbar ein vorhandenes Nein-Potenzial bei denen, die sonst der Urne fernbleiben, und zwar über alle Bevölkerungsschichten hinweg.4
Dieses umfassende Engagement spiegelte sich auch in den Resultaten der Befragungen im Vorfeld der Abstimmung wider: Im Januar 2016 ergab sie noch eine Mehrheit von 51 Prozent, bei der letzten Umfrage zwei Wochen vor dem Urnengang zeichnete sich hingegen bereits ein leichter Nein-Trend ab. Der Ausgang der Abstimmung blieb allerdings bis zur Schließung der Stimmlokale offen.
In internationalen Zeitungen fand das Engagement der Zivilgesellschaft Beachtung und es wurde allen Europäern empfohlen, daraus zu lernen.5 Mit Blick auf Deutschland könnte der Verlauf des Abstimmungskampfes in der Schweiz zur Konsequenz haben, dass sich die Parteien auch organisatorisch stärker in Richtung Zivilgesellschaft öffnen werden. Hier schlummert ein fruchtbares Potenzial, das aktiviert werden kann – vorausgesetzt, dass die Schwellen zu einer ernstgemeinten und nicht nur Pro-forma-Partizipation überwindbar sind. Angesichts der schwindenden Bindungskraft der Volksparteien ist dies zumindest überlegenswert, wenn nicht gar überlebenswert.
Populismus nicht mit Populismus bekämpfen
Die Gegenkampagne zur Durchsetzungsinitiative schoss gelegentlich aber auch über ihr Ziel hinaus: Im Zürcher Hauptbahnhof wurde auf großflächigen Anzeigetafeln das Motiv eines an ein Hakenkreuz erinnernden Schweizerkreuzes aufgeschaltet. Nun wurde politisch-(social-) medial über das Plakat diskutiert und nicht mehr über den eigentlichen Anlass dazu. Auf dem Höhepunkt des Treibens sahen sich die Schweizerischen Bundesbahnen veranlasst, die Werbung zu stoppen, weil „Kunden in ihren Gefühlen in tiefster Weise verletzt [wurden] und ihre persönliche Vergangenheit verharmlost“ wurde.6 Die Gegner der Initiative waren in eine klassische Falle getappt: Es liegt nicht im Interesse der Sache, auf politisch-populistische Provokationen mit einer noch stärkeren Dramatisierung der Situation zu reagieren und gezielt an Emotionen anzuknüpfen. Populismus lässt sich in den wenigsten Fällen erfolgreich mit Populismus bekämpfen – dieser Wettlauf gegen den „Trumpismus“ hat kaum Gewinnchancen, wohl aber das Aufzeigen aller Konsequenzen: für den Einzelnen, die Gesellschaft, die Institutionen und den Rechtsstaat.
Urknall oder Strohfeuer?
Nun wird das Gesetz zur Ausschaffungsinitiative in Kraft gesetzt, was allerdings vielen Beobachtern jetzt beinahe so problematisch erscheint wie die Annahme der Durchsetzungsinitiative.7 Diese mangelnde Akzeptanz ist die langfristige Folge von fehlendem Engagement, Desinteresse und der daraus resultierenden Stimmabstinenz. Die Lektion aus der ersten Abstimmung wurde jedoch von den meisten beherzigt. Es können weitere Ingredienzien für das Nein ausgemacht werden: Es gibt kein „Naturgesetz“ einer aktiven Beteiligung des Souveräns, es braucht eine Initialzündung. Die Kommunikation muss die Konsequenzen einer bevorstehenden Abstimmung deutlich aufzeigen, ohne dabei dem Populismus anheimzufallen. Es braucht ein breites Engagement jenseits von Parteien, aber durchaus in Kooperation mit diesen.
Für die Neue Zürcher Zeitung ist es nicht ausgeschlossen, dass die „Geschichtsschreibung im 28. Februar 2016 keinen zivilgesellschaftlichen Urknall erkennen wird, sondern ein Feuerwerk, ja nur ein Strohfeuer“8. Ob sich diese Einschätzung einst bewahrheiten wird, lässt sich nicht abschätzen; diesbezügliche Zweifel sind durchaus berechtigt. Dessen ungeachtet lässt sich mit Gewissheit konstatieren: Wäre die Durchsetzungsinitiative angenommen worden, nähme die Geschichte der Schweiz einen anderen Verlauf. Ob Urknall oder Strohfeuer, die alles überragende Erkenntnis ist eine einfache wie auch mahnende: Die Gesellschaft muss die Errungenschaft des Rechtsstaates immer wieder aufs Neue verteidigen.
Michael Strebel, geboren 1977 in Oberwil-Lieli (Kanton Aargau, Schweiz), Leiter des Parlamentsdienstes des Parlaments der Stadt Wetzikon (Zürich) und Lehrbeauftragter für Vergleichende Politikwissenschaft an der FernUniversität Hagen.
1 100. 000 Stimmberechtigte können mittels Initiative eine Total- oder Teilrevision der Verfassung vorschlagen.
2 www.deutschlandfunk.de/nein-zur-durchsetzungsinitiative-in-der-schweiz-das.720.de.html?dram:article_id=346973 [02.04.2016].
3 Zu den Umfragen: http://www.gfsbern.ch/de-ch [02.04.2016].
4 So die Analyse zum Kanton Zürich (vgl. statistik.info 2016/01).
5 www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/dsipresseschau-sieg-der-vernunft-ueber-die-angst/story/18504827 [09.04.2016].
6 www.sbb.ch/sbb-konzern/medien/archiv. newsdetail.2016-2-2402_2.html [02.04.2016].
7 Vgl. https://www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2015/2735.pdf [03.04.2016].
8 NZZ: Eine Abstimmung macht noch keine neue Ära, 01.03.2016, S. 12.