Der haushohe Sieg des „Außenseiters“ François Fillon bei den Vorwahlen der bürgerlich-konservativen Partei Les Républicains (LR) Ende November 2016 war eine große Überraschung. Umfragen sahen Fillon noch drei Wochen vor dem ersten Wahlgang weit abgeschlagen auf dem dritten, teilweise sogar auf dem vierten Platz. Der „Thatcher von der Sarthe“ nach dem gleichnamigen französischen Fluss und Departement –, wie ihn französische Medien nennen, scheint mit seinem Wahlprogramm jedoch genau den Nerv der französischen Vorwahlzeit getroffen zu haben.
Fillons staatsmännische Aura, die – so schwärmen Beobachter – an den weiterhin sehr verehrten Charles de Gaulle erinnere, sei eine willkommene Abwechslung nach dem „Bling-Bling-Mandat“ von Nicolas Sarkozy und der „Nullrunde“ François Hollandes. Nicht unbedeutend ist in diesem Zusammenhang, dass das Wahlprogramm viele gaullistische Einflüsse aufweist. Drei Prioritäten hat François Fillon darin festgelegt: Die französische Wirtschaft soll einer strikten Liberalisierungskur unterzogen werden, der Staat seine Autorität zurückerlangen und die republikanischen Werte sollen in der französischen Gesellschaft gestärkt werden.
Radikale wirtschaftspolitische Forderungen
Für französische Verhältnisse sind die wirtschaftspolitischen Forderungen von Fillon geradezu radikal. Als „asozial“ und „ultraliberal“ bezeichneten die Sozialisten und Vertreter des rechtspopulistischen Front National (FN) das Wirtschaftsprogramm des Präsidentschaftskandidaten der Républicains – Fillon bringe das französische Sozialmodell in Gefahr.
Im europäischen Vergleich lesen sich Fillons Forderungen nicht wirklich revolutionär. Sollte er es als Präsident bis 2022 wirklich schaffen, die Staatsausgaben von 56 auf 49 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu drücken, wie er derzeit ankündigt, lägen sie nach heutigem Stand immer noch höher als in 21 anderen EU-Ländern. Fillon versuche nur durchzusetzen, was in Europa bereits in den vergangenen fünfzehn Jahren passiert ist, beschwichtigen denn auch Parteigrößen wie der ehemalige Minister Luc Chatel; das Programm sei durchaus mit den Reformen der Agenda 2010 des deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder gleichzusetzen. Ob er mit diesem Vergleich punkten kann, bleibt jedoch fraglich. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an einen Besuch von Peter Hartz bei François Hollande im Januar 2014, der dem französischen Staatspräsidenten einen medialen „Shitstorm“ bescherte.
Fest steht hingegen, dass Frankreich dringend Reformen braucht, um die aktuelle Wirtschaftskrise zu überwinden. Den verkrusteten Strukturen hat François Fillon mit seiner Liberalisierungskur den Kampf angesagt: Insgesamt 100 Milliarden Euro möchte er während seiner Amtszeit bei den öffentlichen Ausgaben einsparen. Bis 2022 will Fillon 500.000 Stellen im öffentlichen Dienst streichen. Statt der 35-Stunden-Woche soll im öffentlichen Sektor künftig die 39-Stunden-Woche gelten. Diese Forderung soll dazu führen, dass sich auch der Privatsektor von der Erhöhung der Wochenarbeitszeit inspirieren lässt und zwischen den Sozialpartnern neue Verhandlungen angestoßen werden. Das Renteneintrittsalter will Fillon von 62 auf 65 Jahre anheben. Zur Ankurbelung der französischen Wirtschaft plant er, die Belastung der Unternehmen durch Steuer- und Sozialabgaben um rund vierzig Milliarden Euro zu senken. Auch der Vermögensteuer sagt Fillon den Kampf an. Sie soll schlichtweg abgeschafft werden, um Unternehmer wieder nach Frankreich zu locken.
Politik mit der Brechstange
Beobachter fragen sich, wie Fillon diesen ehrgeizigen Plan durchsetzen will. Erst im Frühjahr 2016 löste eine Arbeitsmarktreform in Frankreich landesweite Proteste und Streiks aus und konnte nur mit der Brechstange – konkret durch den Verfassungsartikel 49.3, der es einem Premierminister erlaubt, ein Gesetz ohne Parlamentsvotum für gültig zu erklären – durchgesetzt werden.
Tatsächlich scheint auch Fillon zu der Schlussfolgerung gekommen zu sein, dass in Frankreich vieles nur mit der Brechstange erreicht werden kann. Sein Wirtschaftsprogramm möchte er bereits in den ersten hundert Tagen seines Mandats, also spätestens bis Oktober 2017, durch ein „Einsatzkommando“ von kompetenten Ministern durchsetzen; das „gewerkschaftliche Monopol“ will er endgültig durchbrechen. Viel Hoffnung setzt der ehemalige Premierminister dabei auch auf Volksmandate, durch die er die nötige Autorität zur Durchsetzung der Reformen gewinnen möchte. Von einem Referendum über Einwanderungsquoten bis hin zur Senkung der Abgeordnetenzahl, der Zusammenlegung von Regionen und Departements und dem Ende von speziellen Regelungen im Rentensystem des öffentlichen Sektors ist die Rede. Die Liste der von ihm geplanten Referenden ist lang. Im Hinblick auf die letzten Volksabstimmungen in Europa ist jedoch Vorsicht angeraten.
In Frankreich ist in den vergangenen Monaten das Bewusstsein dafür gewachsen, dass nur tief gehende Reformen das Land wirtschaftlich retten können. Beachtenswert ist dabei, dass die starke französische Beamtenrepublik das vermeintlich radikale Reformprogramm von Fillon bei den Vorwahlen nicht abgestraft hat. Beobachter sehen die Vorwahlen deswegen auch als einen Lackmustest für die Zustimmung zu der verschriebenen Liberalisierungskur. Daraus lassen sich jedoch nur vorsichtige Prognosen für den Ausgang der wirklichen Feuerprobe ab Herbst 2017 stellen.
„Besiegt den islamischen Totalitarismus“
Im französischen Wahlkampf gehört eine Buchveröffentlichung für jeden Kandidaten zum guten Ton. Seit dem Frühjahr sind die Büchertische mit den Pamphleten der Politiker gut gefüllt. Auch Fillon bildet hier keine Ausnahme. Erstaunlich ist aber der Titel seines Buches. Kein allgemeingültiger Wahlkampfslogan ist auf dem Buchdeckel zu finden, sondern eine außenpolitische Forderung: Vaincre le totalitarisme islamique, den islamischen Totalitarismus besiegen. Aus seinem Wahlprogramm erschließt sich, dass die Bekämpfung des islamistischen Terrorismus die Priorität seiner Außenpolitik sein soll.
Für Deutschland ergeben sich daraus zwei direkte Konsequenzen: Auch wenn das Wahlkampfteam Fillons in den letzten Wochen alles daransetzte, das Image Fillons als „Putin-Freund“ loszuwerden, ist eine Umkehr der französischen Russlandpolitik zu erwarten. Für Fillon ist die Zusammenarbeit mit Russland, aber auch mit dem Iran wichtig, um den Krieg in Syrien zu beenden und somit auch gezielt, so betont er in seinem Wahlprogramm, die Christen im Orient zu schützen. Die Rücknahme der Wirtschaftssanktionen ist Teil des Russlandkurses, für den Fillon wirbt und bei dem er von zahlreichen Parteifreunden unterstützt wird.
Auch wenn Fillon zwölf Milliarden Euro zusätzlich in Sicherheit, Verteidigung und den Justizbereich investieren möchte, ist es ihm ein Dorn im Auge, dass Frankreich bei Auslandseinsätzen häufig allein an vorderster Front steht. In Mali und der Zentralafrikanischen Republik brauche man, so Fillon in seinem Wahlprogramm, zumindest die finanzielle Unterstützung der europäischen Partner. Dies ist auch als deutlicher Wink an die deutsche Regierung zu verstehen, deren verteidigungspolitische Zurückhaltung Fillon bereits bei verschiedenen Gelegenheiten kritisiert hatte. „So kann das nicht weitergehen“, sagte er erst im Oktober 2016 in einem Zeitungsinterview an die deutsche Adresse (Interview des Wochenmagazins L’Opinion mit François Fillon, 26. Oktober 2016; http://www.lopinion.fr/edition/politique/francois-fillon-l-armee-doit-revenir-a-missionsc-est-a-dire-se-112940.)
Die deutliche Rüge kündigt jedoch keine „Abschaltung“ des „deutschfranzösischen Motors“ an: Dieser steht für Fillon im Zentrum seiner Europapolitik, die gaullistisch geprägt ist. In seinem Wahlprogramm erwähnt Fillon mehrmals den Vorbildcharakter Deutschlands, gerade im Bereich des Arbeitsmarktes und des Ausbildungssystems.
Das Gemeinschaftsprinzip der Europäischen Union sieht der ehemalige Premierminister kritisch. Zurückkehren möchte er zu de Gaulles „Europa der Vaterländer“, also zu einer weiteren Stärkung des intergouvernementalen Handelns innerhalb der EU. Strategische Priorität sollen die Themen Energie, Landwirtschaft, Grenzschutz und Migration erhalten.
Zeitalter der „Camembert-Rechten“
Mit der Wahl Fillons zum Präsidentschaftskandidaten der Républicains kündigt sich in Frankreich ein konservativer Epochenwechsel an. Fillon, so scheint es, hat der schweigenden Mehrheit jenseits der Ballungsräume, der sogenannten France profonde, eine Stimme gegeben. Abseits der großen Bühnen der französischen Hauptstadt organisierte der Präsidentschaftskandidat seine erste Wahlkampfveranstaltung in Chantenay-Villedieu, einer kleinen Gemeinde westlich von Le Mans, und ließ sich im Schweinestall sowie bei der Verkostung von Rillette, einer deftigen Wurstspezialität, ablichten. Nach Sarkozys „Champagner-Rechten“, so schmunzeln französische Beobachter, sei nun das Zeitalter der traditionellen „Camembert-Rechten“ zurückgekehrt. Der Landwirtschaft – auch hier lässt sich der gaullistische Einfluss nachweisen – widmet der ehemalige Premierminister einen zentralen Platz in seinem Wahlprogramm. Die Aufhebung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland würde von vielen Landwirten begrüßt, denn sie machen die Sanktionen für schwere Einbußen verantwortlich. Auch der landwirtschaftliche Fokus im EU-Bereich, den Fillon angekündigt hat, geht in diese Richtung.
Die konservative Revolution, die Beobachter nun angestoßen sehen, findet jedoch vor allen Dingen im Hinblick auf die französische Laizismusdebatte statt. Während sich das Land im Sommer 2016 auf Burka- und Burkinidebatten konzentriert hatte, fand sich das katholische Bürgertum – von Medien und Analysten relativ unbeachtet – als neue, zentrale Wählergruppe zusammen und bewies bei den Vorwahlen der LR eine erhebliche Schlagkraft. Spätestens seit der Ermordung des Priesters Jacques Hamel in Saint-Étienne-de-Rouvray (Normandie) im Sommer 2016 definieren sich auch zahlreiche „Nichtkirchengänger“ in Frankreich wieder verstärkt als Katholiken und suchen in ihrer religiösen Identität einen neuen Wertebezug.
So stieß die Forderung Fillons auf offene Ohren, dem „kämpferischen Laizismus“, der seiner Meinung nach insbesondere vom linken Lager vorangetrieben wird, Einhalt zu gebieten. François Fillon ist Vertreter eines liberalen Laizismus, den er nur dort anwenden möchte, „wo wirklich Gefahr besteht“, denn „Frankreich hat keine religiösen Probleme, sondern lediglich ein Problem im Hinblick auf den Islam“. Nicht unbeachtet blieb, dass seine Sprecherin Valérie Boyer im französischen Fernsehen deutlich sichtbar ein großes Kreuz um den Hals trug. Bisher gehörte ein gewisser Antiklerikalismus in der Politik Frankreichs zum „guten Ton“.
Fillon ist einer der wenigen französischen Politiker, die sich offen über ihren eigenen Glauben äußern. Dies spiegelt sich auch in seinem Wahlprogramm und seiner Wahlkampfstrategie wider. Bereits im Juni 2015 organisierte er ein Treffen französischer Katholiken zur Rettung der Christen im Orient. Fillon ist darüber hinaus als Unterstützer der Bewegung „La Manif pour tous“ („Die Demo für alle“) aufgefallen, die sich als Reaktion auf die seit 2013 in Frankreich geltende „Ehe für alle“ gebildet hat. Die politische Bewegung „Sens commun“ („Gesunder Menschverstand“), die sich wiederum aus der „Manif pour tous“ gegründet hat und eng mit dem bürgerlich-konservativen Lager verbunden ist, hat bei den Vorwahlen für Fillon geworben. Dieser möchte zwar nicht die „Ehe für alle“ rückgängig machen, zumindest aber das Adoptionsrecht sowie die künstliche Befruchtung heterosexuellen Paaren vorbehalten.
Diese Forderungen, aber auch seine Nulltoleranzstrategie gegen Kriminelle, die deutliche Absage an eine Multikultigesellschaft, der Ruf nach Assimilation statt Integration und die Rückbesinnung auf Familie und Ehe scheinen angesichts eines gewissen gesellschaftspolitischen Pessimismus, der in Frankreich derzeit vorherrscht, auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein.
Neue Weichenstellungen für den Wahlkampf
Mit seinem deutlichen Sieg bei den Vorwahlen des bürgerlich-konservativen Lagers erwarb François Fillon die nötige Legitimation, um die Républicains bei den Präsidentschaftswahlen zu vertreten. Angesichts des Wahlergebnisses von 66,5 Prozent gilt der von Fillon verfolgte Kurs als neue Leitlinie der Partei. Dass sich dabei die wirtschafts- und sozialpolitisch weniger strikten und gesellschaftspolitisch liberaleren Wähler wiederfinden können, wird eine der großen Herausforderungen der kommenden Monate sein. Denn die Radikalität, mit der François Fillon die Teilnehmer der Vorwahlen überzeugt hat, könnte bei den Präsidentschaftswahlen zur Gefahr für ihn werden. Bereits bei der Neubesetzung des Parteivorstandes im Dezember 2016 wurde deutlich, dass Fillon als Vorsitzender der Partei eine Abspaltung des moderaten Lagers verhindern möchte.
Der überraschende Sieg Fillons hat auch für die anderen Parteien die Weichen neu gestellt. Die FN-Vorsitzende Marine Le Pen hatte sich bereits auf ein Duell Sarkozy – Hollande vorbereitet, was ihre Wahlkampfstrategie als Antikandidatin deutlich vereinfacht hätte. Fillons wertkonservatives Gesellschaftsbild erscheint jedoch auch für viele FN-Sympathisanten unterstützenswert. Die einzige Angriffsfläche bietet das strikte Wirtschaftsprogramm Fillons. Als große Verfechterin des französischen Wohlfahrtsstaates geht Marine Le Pen nun auf Stimmenfang beim „kleinen Mann“.
Im linken Lager hätte Fillons Sieg eigentlich für Jubel sorgen müssen. Eine Kandidatur gegen den „Vereiniger der Mitte“ Alain Juppé wäre ungleich schwerer gewesen. Angesichts der Zerstrittenheit im linken Lager und der Tatsache, dass die Linken gleich mehrere Kandidaten mit teilweise utopischen Forderungen ins Rennen schicken, scheint es unwahrscheinlich, dass es die Linke schaffen wird, den konservativen Kandidaten der Républicains zu schlagen.
Nino Galetti, geboren 1972 in Freiburg (Schweiz), Leiter des Auslandsbüros Frankreich der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Paris.
Nele Wissmann, geboren 1985 in Bielefeld, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Auslandsbüro Frankreich der Konrad-Adenauer-Stiftung.