„The Elephant in the room“ – das ist eine etwas abgegriffene, englische Metapher für eine unübersehbare Wahrheit, die aber nicht zur Kenntnis genommen wird. Ein solcher Elefant hat sich in dem kleinen „Raum“ Israel breitgemacht. Und auf der Flanke dieses Tieres steht in großen Lettern „Türkei“: Denn es gibt in Israel kaum eine Debatte – sei es das neue „Megathema“ Energie, die Terrorbekämpfung, die regionale Kräfteverteilung, die Wirtschaftsbeziehungen und Handelsrouten oder was auch immer –, bei der die Türkei nicht früher oder später Erwähnung findet.
Anders als die genügsamen Kollegen in freier Wildbahn ist der „türkische Elefant“ aus israelischer Sicht allerdings launisch, gelegentlich sogar aufbrausend. Der wichtigste Grund dafür ist ein Ereignis, das vor sechs Jahren die vielversprechende bilaterale Zusammenarbeit beider Staaten vorläufig beendet hatte.
Am Morgen des 31. Mai 2010 bewegt sich ein Verband aus sechs Schiffen über das Mittelmeer in Richtung Gaza. Als Flaggschiff dient die „Mavi Marmara“, einst ein Kreuzfahrtschiff, das sich nun im Besitz der islamistischen und sehr umstrittenen (in Deutschland verbotenen) türkischen Gruppierung IHH (İnsan Hak ve Hürriyetleri İnsani Yardım Vakfı, „Stiftung für Menschenrechte, Freiheiten und Humanitäre Hilfe“) befindet. An Bord der Schiffe sind mehr als 600 Aktivisten, darunter Prominente wie der schwedische Autor Henning Mankell, Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Pax-Christi-Anhänger und viele mehr, außerdem rund 10.000 Tonnen Material, die als Hilfsgüter deklariert sind. Erklärtes Ziel der groß angelegten Aktion ist es, die israelische Seeblockade um den Gazastreifen zu durchbrechen. Die israelische Marine hatte zuvor Warnungen ausgesprochen und dem Schiffszug sogar die Alternative eröffnet, die Hilfsgüter im Hafen Ashdod zu löschen und auf dem Landweg nach Gaza zu bringen.
Die Schiffe bleiben unbeeindruckt auf Kurs. Noch in internationalen Gewässern bringt die israelische Marine das Schiff auf – durchaus in Übereinstimmung mit dem Völkergewohnheitsrecht, das eine Durchsuchung gestattet, wenn es das Ziel eines Schiffes ist, eine Blockade zu durchbrechen. Freilich gilt auch dabei der strenge Maßstab der Verhältnismäßigkeit. Ob dieser Grundsatz beachtet worden und was dann genau passiert ist, darüber gibt es bis heute widersprüchliche Aussagen.
Die israelischen Soldaten sagen später aus, sie hätten auf die extreme Aggression der Aktivisten reagieren müssen. Die Aktivisten geben an, kaum Gegenwehr geleistet zu haben. Was auch immer der Wahrheit entspricht: Am Ende sind neun getötete Türken, über vierzig verletzte Aktivisten und sieben verwundete israelische Soldaten zu beklagen. Die türkische Öffentlichkeit ist aufgebracht.
Daraufhin zieht die Türkei ihren Botschafter aus Israel ab und sagt die geplanten gemeinsamen Militärmanöver ab. Die vom damaligen Außenminister Ahmet Davutoğlu geforderte Entschuldigung bleibt zunächst aus. Also wird der israelische Botschafter im September 2011 aus der Türkei ausgewiesen. Erst im März 2013 kommt es – auf Vermittlung von Barack Obama, der die Funkstille zwischen den beiden wichtigsten US-Verbündeten in der Region aus eigenem Interesse beenden will – zu einem Telefonat zwischen Benjamin Netanjahu und Recep Tayyip Erdoğan. Der israelische Ministerpräsident entschuldigt sich, bedauert die „tragischen Folgen“ und sagt Entschädigung für die Hinterbliebenen zu. Erdoğan nimmt die Entschuldigung an, zu einer wirklichen Normalisierung kommt es aber vorerst nicht.
Populistisch-realistischer Spagat
Erdoğan lässt die Entrüstung auf „verminderter Flamme“ weiter köcheln und zwingt seine Regierung so in Sachen Israel zu einem „Spagat“. Als Populist glaubt er, dass ihm Israel als negative Projektionsfläche dienlich ist, um seinen Führungsanspruch in der „muslimischen Welt“ zu untermauern. Seine AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi, „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“) mischt dabei kräftig mit und schürt Ablehnung. Der Realist Erdoğan bremst hingegen die Wut, weil er weiß, dass das kleine, aber militärisch und wirtschaftlich kraftvolle Israel ein Stabilitätsanker in der Region und ein potenzieller Partner ist.
Selbst wenn sich die zivilgesellschaftlichen Kontakte, die seit osmanischer Zeit zwischen dem jüdischen Volk im Heiligen Land und der Türkei eng sind, in der Folge der „Mavi Marmara“-Ereignisse vermindert haben – zum Erliegen gekommen sind sie nicht. Sie bilden weiterhin ein stabiles Band zwischen der Türkei und Israel. Besonders erstaunlich ist auch die Tatsache, dass in einer Zeit, in der sich die Beziehungen politisch dem Gefrierpunkt nähern, das Handelsvolumen zwischen beiden Staaten geradezu „explodiert“.
Für die politischen Exponenten ihrer Länder, Erdoğan und Netanjahu, ist die Ausgangslage ähnlich. Beide genießen „zu Hause“ einen stabilen Grad an Unterstützung; international sind sie – zumindest bis zum Ausbruch der Flüchtlingskrise, die für Erdoğan das Blatt zu wenden scheint – weitgehend in einer Außenseiterposition und zunehmend isoliert. Die Situation in Syrien, das der Erzfeind Ankaras, Baschar al-Assad, mit russischer Unterstützung regiert, macht es nun für die Türkei erforderlich, alle ihr zugänglichen Partner in der Region wieder an ihre Seite zu ziehen.
So ist es nicht verwunderlich, dass es Erdoğan ist, der inzwischen versöhnliche Töne gegenüber Israel anschlägt. Im Dezember 2015 überraschte er mit der Aussage, dass die gesamte Region von einer Wiederannäherung beider Staaten profitieren könne. Noch sind die Entschädigungen für die „Mavi Marmara“-Angehörigen nicht spruchreif, sodass die Rückkehr der Botschafter auf sich warten lässt.
Fördernde und lähmende Faktoren
Wenn diese Hürde genommen ist, werden drei Faktoren – fördernde und lähmende – bestimmen, welche Qualität die Wiederannäherung hat.
Erstens fördernd: Die israelisch-türkischen Beziehungen werden sich vermutlich in dem gleichen Maße erwärmen, wie das russisch-türkische Verhältnis nach den Auseinandersetzungen an der türkischsyrischen Grenze und dem Abschuss des russischen Jagdflugzeugs erkaltet. Nicht zuletzt hängt das mit dem Energiehunger des wirtschaftlichen „Tigerstaates“ Türkei zusammen. Noch wird mehr als die Hälfte des türkischen Energiebedarfs von russischen Gaslieferungen gedeckt. Umgekehrt führt der wirtschaftlich einzig sinnvolle Weg von israelischem Gas zu den europäischen Verbrauchern über die Türkei. Selbst wenn viele politische und technische Fragen ungeklärt sind, die Energiepolitik bietet eine neue und stabile Grundlage für die Beziehungen zwischen Israel und der Türkei.
Zweitens ebenfalls fördernd: die gemeinsame Gegnerschaft zum Iran! Die Ergebnisse der 5-plus-1-Gespräche riefen in der Türkei und in Israel Befürchtungen hervor, dass die Aufhebung der Sanktionen und das „Auftauen“ der eingefrorenen Vermögen die Kräfteverhältnisse in der Region zu ihrem Nachteil verändern werden. Beide Staaten wollen einen atomar bewaffneten, aber auch einen regional dominanten Iran verhindern und müssen zudem daran interessiert sein, die Situation in Syrien wenigstens ein Stück weit zu stabilisieren.
Drittens lähmend: Neben dem türkischen drängt sich noch ein anderer „Elefant“ in den Raum: der Nachbar Ägypten! Hier bahnt sich ein Interessenkonflikt an, denn eine strategische Allianz zwischen der Türkei und Israel lässt sich nur dann wieder aufbauen, wenn man der Türkei einen gewissen Grad an Engagement im Gazastreifen zugesteht. Das bedeutet, die Hamas zu unterstützen, was nicht nur für die Israelis ein Problem darstellt, sondern auch ein Dorn im Auge des ägyptischen Regimes wäre, das die Hamas als „Familienmitglied“ der verhassten Muslimbruderschaft von der Sinaihalbinsel aus erbittert bekämpft. Schon in den letzten Wochen, als sich die Beziehungen zwischen Israel und der Türkei wieder erwärmt haben, wehte ein kühler politischer Hauch über den Sinai nach Israel herüber. Gerade weil ISIS und Dschihadisten auf der Halbinsel ihr Unwesen treiben und auch deshalb Interesse daran besteht, dass die Grenze zum Gazastreifen bei Rafah hermetisch bleibt, braucht Israel nicht nur gute türkisch-israelische, sondern ebenfalls gute israelisch-ägyptische Beziehungen.
Zusätzlich spielt das Verhältnis zu den europäischen Partnern in die türkischisraelischen Beziehungen hinein. Beide Staaten haben zu ihrem Nachbarn Europäische Union ein nicht ganz problemfreies Verhältnis, um es milde zu formulieren. Die Türkei wie Israel tendieren zunehmend in religiöse Richtungen, werden nationalistischer, mehr oder minder deutlich zeigen sich Tendenzen zur Selbstisolierung und Abwendung vom „Westen“. Eben dieser Westen steht vor einer Herkulesaufgabe, vor allem diesen beiden wichtigen Verbündeten gegenüber: Wie kann es gelingen, in diesen Ländern, die mit realen Bedrohungen zu kämpfen haben, einerseits auf die Einhaltung von Menschen- und insbesondere Minderheitenrechten sowie auf demokratische Prinzipien und damit letztlich europäische Werte überzeugend zu pochen, andererseits aber die Verbindung zwischen Europa und diesen beiden Ländern mit klaren Angeboten zur Zusammenarbeit lebendig und belastbar zu halten? Insofern liegt der Schlüssel zu mehr regionaler Stabilität eben nicht nur in Israel und der Türkei, er liegt auch in Brüssel und in den europäischen Hauptstädten.
Ein martialisches Sprichwort in der Türkei lautet: Dem Hahn, der zu früh kräht, wird der Kopf abgehackt. Im Fall des türkisch-israelischen Verhältnisses muss das gute Tier allerdings auch um sein Leben fürchten, wenn es nicht rechtzeitig kräht. Die Zeit für eine Aussöhnung zwischen Israel und der Türkei ist ebenso reif wie für eine kluge europäische Politik, die beide Länder in die Verantwortung für eine stabile und friedliche Entwicklung der Region nimmt.
Michael Borchard, geboren 1967 in München, Leiter des Auslandsbüros Israel der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Jerusalem.