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Die digitale Industrie krankt am Schwinden deutscher Gründungskultur

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In mehr als 150 Jahren industrieller Revolution haben es deutsche Unternehmer immer wieder fertiggebracht, in nahezu jedem neu aufkommenden Industriesektor bedeutende Unternehmen zu gründen und sie zu Weltmarktführern zu entwickeln. Besonderes Geschick haben sie traditionell mit Produkten, die auf technischer Innovation und hoher Qualität beruhen. Sie genießen die Vorzüge eines Industriestandorts, der von Mittelständischen und Großunternehmen geprägt ist und eine Bandbreite besitzt, um die sie die Welt mit Recht beneidet.

Aber diese Kontinuitätslinie des deutschen Erfolgsmodells ist vor Kurzem abgerissen – und die Öffentlichkeit hat noch gar nicht realisiert, wie sehr der Industriestandort Deutschland darunter zu leiden haben wird. Die Auswirkungen auf den Wohlstand und die Gestaltungsmöglichkeiten der Volkswirtschaft werden sich erst mittelfristig in vollem Umfang einstellen. Dann allerdings wird es zu spät sein, um mit kleinen Eingriffen den Anschluss wiederherzustellen.

 

Selbstkolonialisierung der Digitalindustrie

Deutschlands Unternehmen und Gründer scheitern an der Digitalisierung – und zwar nicht erst, seit das Internet das private Leben verändert und beinahe alle Industriezweige in atemberaubender Geschwindigkeit durcheinandergewirbelt hat. Schon die Hardware- und Softwareindustrie, die ihren globalen Siegeszug in den 1960er- und 1970er-Jahren angetreten hat, kann bis auf die strahlende Ausnahme SAP keinen einzigen aus Deutschland stammenden Weltmarktführer vorweisen; selbst die viel gerühmten „Hidden Champions“ aus dem Mittelstand, die in anderen Branchen so charakteristisch für den Standort sind, muss man mit der Lupe suchen. Es werden zu wenig neue Unternehmen in der Digitalindustrie gegründet, und die wenigen Gründungen erlangen – in globaler Perspektive – keine echte Relevanz. Natürlich gibt es erfreuliche Ausnahmen und vielversprechende Ansätze, aber diese enden meist nach wenigen Jahren, da solche erfolgreichen Neugründungen im Rahmen von „Exits“ – einem Ausstieg mit möglichst hohem Gewinn – an amerikanische Konkurrenten „verscherbelt“ werden – und das ist dann schon das Ende der deutschen Erfolgsgeschichten!

Die Folgen sind dramatisch, weil die Wertschöpfung, die eigentliche Kreativ- und Ingenieurleistung, in fast allen Fällen ins Ausland abwandert. Zurück bleiben Vertriebsstandorte und Lobbyisten. Wer sich im politischen Berlin mit dem Thema Digitalisierung beschäftigt, wird feststellen, dass man kaum einen Stein umdrehen kann, ohne auf einen rührigen Lobbyisten eines amerikanischen Weltmarktführers zu treffen. Wir kolonialisieren unsere Digitalindustrie gegenwärtig selbst, ohne es zu merken.

Dass eine solche Dynamik nicht naturgesetzlich festgeschrieben ist, belegt die deutsche Wirtschaftsgeschichte. Aber woran liegt es, dass die Digitalindustrie nicht recht vorankommt, und wie kann man das Ruder noch rechtzeitig herumreißen? Leider gibt es nicht den einen, zentralen Grund für die Misere – es gilt, das „Ökosystem“, aus dem digitale Geschäftsmodelle hervorgehen, umfassender zu verstehen.

 

Keine technische Revolution ohne Techniker

Wenn es mit den Gründungen nicht so recht klappt, liegt es nahe, sich zunächst genauer mit den Gründern in Deutschland auseinanderzusetzen. Sind sie so viel schlechter als ihre Kollegen im Silicon Valley, in London, Tel Aviv oder Shanghai? Nein, das sind sie nicht! Aber es fällt auf, dass in Deutschland mehrheitlich andere Berufsgruppen Unternehmen gründen. Der typische deutsche Gründer mit einem digitalen Geschäftsmodell ist ein Betriebswirt oder MBA (Master of Business Administration) mit überschaubarer Berufserfahrung.

Die digitale Revolution ist aber zunächst eine technische Revolution. Daimler, Bosch, Siemens, Thyssen sowie Microsoft, Google und Facebook wurden nicht von Betriebswirten, sondern von Technikern gegründet. Sie sind in der Lage, durch die Kreativität der Ingenieure technischen Fortschritt zu kreieren. Gesucht werden zusätzlich Gründer aus dem MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik). Steht ein solches primäres Know-how nicht zur Verfügung, können allenfalls erfolgreiche Geschäftsmodelle kopiert werden, wie es Rocket Internet zur Kunst erhoben hat. Oder es werden „Nullachtfünfzehn-Ideen“ ausgebrütet, auf die eigentlich jeder Konsument ohne technisches Wissen kommen könnte – zum Beispiel einen Pizzadienst über das Internet zu organisieren statt über das Telefon. Das ist schön und gut, aber das nächste „Google“ kommt auf diese Weise nicht zustande. Und Chancen aus dem B2B-Bereich (Beziehungen zwischen mindestens zwei Unternehmen) kann man auf diese Weise ebenso wenig nutzen, denn dazu fehlt die konkrete technische Erfahrung aus der Praxis.

Die Lösung des Problems muss man glücklicherweise nicht eigens erfinden, man kann sie zum Beispiel beim MIT (Massachusetts Institute of Technology) abgucken. Die angegliederte Business School, die MIT Sloan School of Management, bringt Ingenieure und Ökonomen schon während des Studiums gezielt zusammen und organisiert Ausgründungen mit beträchtlichen Erfolgen in den letzten Jahrzehnten. So werden am MIT mit rund dreizehn Ausgründungen pro 100 Professoren mehr als dreimal so viele Unternehmen je Professor gegründet als im deutschen Start-up-Mekka Berlin. Die staatlichen Hochschulen mit ihren verbeamteten Lehrstuhlinhabern, für die solche Kooperationen zusätzliche Arbeit bedeuten, sind im Großen und Ganzen auch heute noch weit davon entfernt, ein Motor erfolgreicher Gründungen zu sein.

 

Wie das Kaninchen vor der Schlange

Gerade die Konzerne und etablierten Unternehmen stehen durch die Digitalisierung vor riesigen Herausforderungen. Wenn es weiterhin nicht gelingt, die angestammten Geschäftsmodelle in das digitale Zeitalter zu transformieren, werden sie unter den gleichen Existenzdruck geraten, der die analoge Fotoindustrie, die Musikindustrie und den Versandhandel getroffen hat. Aber gerade deutsche Unternehmen tun sich extrem schwer damit, sich selbst neu zu erfinden. Denn das bedeutet auch, eigene digitale Produkte zu entwickeln, die das angestammte Geschäft kannibalisieren könnten. Lieber starrt man wie das Kaninchen auf die Schlange. Viele CEOs gehen den vermeintlich leichteren Weg und betreiben eigene Beteiligungsunternehmen oder gründen eigene Inkubatoren, um außerhalb der trägen Strukturen des eigenen Konzerns freier experimentieren zu können. Damit werden sie als strategische Investoren zum Teil der deutschen Investorengemeinde.

Die sogenannten strategischen (beziehungsweise unternehmensnahen) Investoren spielen in der überschaubaren Risikokapitalszene Deutschlands eine wichtige, aber leider selten erfolgreiche Rolle. Es werden in der Summe wenige Start-ups finanziert, die Finanzierungsrunden sind extrem bürokratisch und für die Gründer enervierend und zeitaufwendig. Dabei sind die Summen, die investiert werden, viel zu klein, als dass man damit globale Marktführer nach dem Vorbild der amerikanischen Start-ups produzieren könnte. Ein nachvollziehbarer Know-how-Transfer zurück in das Mutterunternehmen kommt ebenfalls nur selten zustande, sodass sich die Frage stellt, warum man sich überhaupt mit Start-ups beschäftigt, wenn die eingesetzten Mittel am Businessplan gemessen niemals ausreichen können? Es drängt sich der Eindruck auf, dass bei einer Reihe dieser strategischen Investoren Marketingaspekte und Investor-Relations für die Mutterunternehmen wichtiger sind als ein nachhaltiges Interesse an den Gründungen.

 

Investoren mit „kleinen Tickets“

Diese Lücke könnten Risikokapitalgeber wie Business-Angels und Venture-Capital-Firmen schließen. Eine solche Form der Unternehmensfinanzierung hat in Deutschland leider keine Tradition und ist erst in den letzten Jahrzehnten aus den USA übernommen worden. Sie ist insbesondere für Hightechgründungen unumgänglich, denn es geht darum, im eigenen Segment innerhalb kurzer Zeit zu den Marktführern aufzusteigen, wenn ein nachhaltiger Erfolg erzielt werden soll. Für die erste Phase der Gründung, die Seed-Phase, ist mittlerweile mehr Kapital verfügbar. In der Wachstumsphase, in der Finanzierungsrunden über drei Millionen Euro benötigt werden, sieht es dagegen deutlich schlechter aus.

Insgesamt ist die Zahl der Investitionen durch Risikokapitalfirmen in Deutschland im Verhältnis zu den USA immer noch sehr gering und das jeweils investierte Kapital zu bescheiden, um globale Marktführer hervorzubringen. Auch die Risikobereitschaft hiesiger Venture-Capitalists ist deutlich geringer ausgebildet als bei den amerikanischen Vorbildern. Mit den „kleinen Tickets“ können allenfalls attraktive Übernahmekandidaten für ausländische Marktführer geschaffen werden. Das ist aus Sicht der Akteure legitim, aber so entsteht kein digitales „Ökosystem“ mit echter Wertschöpfungstiefe in Deutschland.

Solange sich der Markt für Risikokapital in Deutschland nicht ändert, müssen Gründer genau überlegen, ob sie viel Zeit in die Suche nach Kapital investieren wollen, um dann meist zu kleine Finanzierungsrunden abzuschließen und aufgrund schlechter Bewertungen überproportional viele Anteile schon in den frühen Phasen der Unternehmensentwicklung abgeben zu müssen. In bestimmten Fällen können zumindest die ersten Schritte mit anderen Finanzierungsmodellen bestritten werden. Mit einem „Launching Customer“ zu gründen, also einem Startkunden, der mit seiner Projektfinanzierung einen großen Teil der Produktentwicklung des Start-ups finanziert, bringt viele Vorteile gegenüber einer Risikokapitalfinanzierung mit sich. Die Gründer konzentrieren sich vom Tag eins an ausschließlich auf die Bedürfnisse echter Kunden und verlieren so keine Anteile. Es ist vielleicht kein Zufall, dass SAP auf genau diese Weise entstanden ist. Einen „Launching Customer“ findet man allerdings häufiger im B2B- als im B2C- Umfeld (der Beziehungen zwischen Unternehmen und Kunden); daher kann diese Methode keine Lösung für alle Unternehmensgründungen sein.

 

Schneisen im bürokratischen Dschungel

Es mangelt nicht an Programmen der öffentlichen Hand. Ein Sammelsurium von Förderprogrammen stellt potenzielle Gründer vor die Aufgabe, aus konkurrierenden Angeboten ein passendes herauszusuchen und sich dann durch einen zeitraubenden bürokratischen Dschungel zu kämpfen. Dabei stehen Aufwand und Nutzen bei den meisten Programmen in keinem vernünftigen Verhältnis – mit der Folge, dass die meisten erfolgreichen Gründungen einen Bogen um diese Programme machen. Hier fehlt eine ordnende Hand, die die Förderprogramme aufeinander abstimmt und für Gründer attraktiv macht.

Betrachtet man die Orte in der Welt, an denen regelrechte Start-up-Hubs entstanden sind, so stellt man fest, dass der Staat als koordinierender Faktor dort eine wichtige Rolle gespielt hat. Die indische Software-Industrie in Bangalore ist eine Folge staatlicher Planung und Koordination von der Infrastruktur bis hin zu den Universitäten, die gezielt den Bedarf an Informatikern ausbilden. Die chinesische Software-Industrie in Shanghai wäre ohne die besonderen Bedingungen der Sonderwirtschaftszone so nicht entstanden. Allein 2011 wurden drei sehr erfolgreiche staatliche Programme in internationalen Start-up-Hubs aufgelegt: Tel Aviv Startup City, NYC-Digital und East-London Tech-City. Alle drei Standorte können schon jetzt gute Erfolge vorweisen.

Sonntagsreden bringen Deutschland nicht voran. Aber es besteht eine realistische Chance, sich auch in der digitalen Wirtschaft an die Spitze zu setzen, wenn es als gesellschaftliche Aufgabe definiert würde, den Standort Deutschland fit für die nächste industrielle Revolution zu machen. Es ist noch nicht zu spät, denn in der digitalen Revolution können die Gewinner von heute die Verlierer von morgen sein. Vielleicht wird gerade in diesem Moment der nächste deutsche Weltmarktführer der digitalen Wirtschaft gegründet.


Marco Zingler, geboren 1969 in Köln, Partner und Geschäftsführer der denkwerk GmbH (einer der führenden deutschen Digitalagenturen), Sprecher des Fachkreises Full-Service-Digitalagenturen im Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW).

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