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Wim Wenders' „Der Himmel über Berlin“

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Engel sind Medien zwischen Himmel und Erde. Sie übermitteln die Stimme Gottes. Der Himmel, den sie damit zum Sprechen bringen, hat allerdings im Zuge der Säkularisation „seine Bedeutung als kosmisches Immunitätssymbol verloren“, stellt Peter Sloterdijk fest (Über Theopoesie, 2020). Nur zu gern folgten die Künstler der Moderne deshalb Heinrich Heines Empfehlung, den Himmel den „Engeln und Spatzen“ zu überlassen (Deutschland. Ein Wintermärchen, 1844). Engel sind unverfügbare Boten im Glauben an Schutzengel, im Gebet oder im Gedicht. Viermal erscheint Josef im Matthäusevangelium ein Engel im Traum und sagt ihm, was zu tun ist. Patrick Roth lässt in seinem Roman SUNRISE. Das Buch Joseph (2012) den Protagonisten geradezu physisch vom Engel anstoßen und zu vernünftigen Entscheidungen im Flüchtlingsdrama der ‚heiligen Familie‘ kommen. Im Film sind Engel sichtbar gemachte Medien aus einer Sphäre des Unsichtbaren, die in den Bildern vom Himmelszelt und Himmelsgewölbe ihre Resonanz bewahrt hat. Erzählenswert ist vor allem ihr Fall aus dem Himmel, ihre Verwandlung in Menschengestalt. Diese Transfiguration ereignet sich in Wim Wenders’ Film Der Himmel über Berlin (1987) auf zweierlei Art: als erzählte Initiation (der zum Menschen verwandelte Engel erhält eine Geschichte und kann davon erzählen) und als ein ästhetisches Ereignis (der Engel bekommt ein Bild von der Welt, bekennt Farbe und lernt zu lieben). Wenders’ Filmengel sind Erzählerfiguren, die dem Himmel entsprungen sind, um im irdischen Jammertal ihr Glück zu suchen.

1987 Road Movies – Argos Films. Mit freundlicher Genehmigung der Wim Wenders Stiftung – Argos Films
Bruno Ganz als Engel Damiel auf der Siegessäule in „Der Himmel über Berlin“ von Wim Wenders.

Zweifellos haben Engel im Film viel verloren, wenn man etwa an die Engel-Filme von Frank Capra Ist das Leben nicht schön? (1946), die Drei Engel für Charlie (Serie 1976 bis 1981, Film 2000) und Brad Silberlings City of Angels (1998) bis hin zu Mitch Glazers Passion Play (2010) denkt, in denen die gottgleichen Gestalten sich ihre Flügel erst verdienen müssen oder sie als orthopädische Last empfinden. In Kevin Smiths Dogma (1999) verlieren die beiden Todesengel, gespielt von Matt Damon und Ben Affleck, zum Schluss ihre Flügel. Ein dunkler Engel kommt auch in Lars von Triers Film The House That Jack Built (2019) vor. Hier wird das filmische Resonanzproblem der Engel-Filme gleich evident: Wie kann der Film eine unsichtbare Figur visualisieren? Lars von Trier lässt seinen Engel als Voiceover sprechen und erst in einem wahrlich dantesken Epilog als sichtbare Figur erscheinen. Gespielt wird dieser Todesengel von Bruno Ganz, der kraft seines an Vergil gemahnenden Namens Verge die Hauptfigur, einen Serienmörder, zu dem infernalischen Ort führt, an den er gehört: in die Hölle.

Aus dem Himmel kommt Bruno Ganz als Engel Damiel in Wim Wenders’ Der Himmel über Berlin. Auch diese Engelsfigur ist am Anfang dieses Films zunächst nur zu hören. Kurz darauf tritt er leibhaftig in Erscheinung, mit weißen Flügeln, auf der Turmruine der Berliner Gedächtniskirche, später auf der Siegessäule stehend. Nicht aber symbolischer Standort und Dresscode machen die Engelerscheinung aus. Menschlich wird der Engel erst, indem er sich eine eigene Geschichte in der zur Zeit des Films geteilten Großstadt erstreitet, jenseits eines Himmels, der ebenso ideologisch geteilt war wie in Christa Wolfs Erzählung von 1963.

Der Film beginnt mit einer kurzen Einstellung auf den bewölkten Himmel. Dann öffnet sich leinwandgroß ein Auge, das wir als Kamera und als Auge eines Himmelswesens identifizieren können, das die Welt von oben herab betrachtet. Die sanfte Kamerafahrt über die Hochhausalleen von Berlin ist zirkulär und endet mit dem Blick von oben auf eine belebte Straßenkreuzung, auf der ein kleines Mädchen stehen bleibt und – ebenso wie wir als Zuschauer – den Blick nach oben richtet, dorthin, auf die Gedächtniskirche, wo der Engel steht. Merkwürdigerweise sind es zwei Kinder, die auf der Straße innehalten, nach oben schauen und sich wundern.

Wenders’ Engel Damiel und Cassiel sind gefallene Erzengel. Sie wurden, unzufrieden mit Gottes Abkehr von der Welt, verbannt auf einen der unwirtlichsten Orte der Erde: in die geteilte Nachkriegsstadt Berlin. Ihre Aufgabe ist „anschauen, sammeln, bezeugen, beglaubigen, wahren, Geist bleiben, im Abstand bleiben, im Wort bleiben“. Dabei müssen sie allein und ernst bleiben, können nicht ins Geschehen eingreifen, nur zuhören und aufzeichnen.

Das Problem Damiels ist, dass er selbst keine Geschichte erzählen kann, weil er eben keine hat. Sobald er die Sehnsucht nach Biographie und Zeiterfahrung formuliert, fällt er ein zweites Mal aus dem Himmel, dieses Mal als Mensch. Bezeichnenderweise ereignet sich diese Verwandlung an einem Schwellenort in Berlin, nämlich auf dem Todesstreifen auf der östlichen Seite der Mauer. Von dort lässt Wenders seinen gefallenen Engel in den Westen gehen. Er bekennt dort förmlich Farbe (der Film wechselt von dem Schwarz-Weiß der Engelperspektive zu Technicolor), begeistert sich an heißem Kaffee und an einer Tiroler Trachtenjacke. Und an einer Frau: der Artistin Marion, in die sich Damiel verliebt, in eine Trapezkünstlerin mit kitschigen Engelsflügeln.

Homer ist in Wim Wenders’ Film ein greiser Mann, gespielt von Curt Bois (1901–1991), der 1933 ins Exil ging, in Casablanca (1942) einen (namenlosen) Taschendieb spielt und 1950 nach Deutschland zurückkehrte. Wir treffen ihn im Himmel über Berlin auf dem Potsdamer Platz, der vor 1989 Brachland war, in der West-Berliner Staatsbibliothek, die in Gottfried Benns gleichnamigem Gedicht „Hades“ und „Himmel“ zugleich ist. Homer ist auf der Suche nach einer verlorenen Zeit, „Erzähler, Vorsänger, Tonangeber“ für die Menschen, die ihn aber offenbar nicht mehr brauchen, weil ihre metaphysischen Antennen ins Leere zappeln. Homer ist ein aus dem Bücherhimmel gefallener Erzählerengel, ein Erzähler ohne Zuhörer und ohne Zugehörigkeit, aber mit mächtig-resonanten Erinnerungen an die Nachkriegs- und Trümmerstadt Berlin. Dem Ernst dieser Erinnerungen steht eine andere tragikomische Figur im Film entgegen, die zugleich eine Filmfigur ist, Peter Falk, der sich selbst in der Serienkluft der amerikanischen Krimiserie Columbo (1968–2003) spielt.

Peter Falk kam kurzfristig zum Drehort nach Berlin, wurde so gut wie gar nicht gebrieft und entwickelte einige Szenen improvisatorisch, etwa eine groteske Hutszene, in der er sich nicht für die passende Kopfbedeckung entscheiden kann und dabei Damiel und Cassiel, die nach eigenen Worten als Engel nichts zu lachen haben, zum Schmunzeln bringt. Bevorzugt treffen wir ihn dort an, wo er sich auch als Columbo-Figur gern aufhält: an Imbissbuden.

1987 Road Movies – Argos Films. Mit freundlicher Genehmigung der Wim Wenders Stiftung – Argos Films
Handschlag mit einem unsichtbaren Engel. Peter Falk in „Der Himmel über Berlin“ von Wim Wenders.

Peter Falk liebt Fotografien und Gesichter, er zeichnet gern und bezeichnet die Statisten des Films im Film als „extra humans“. Mit Peter Falk beginnt, was Wim Wenders in einem Making-of-Interview den „heiligen Ernst einer Komödie“ genannt hat. Es ist Peter Falk, der seinerseits ein doppelt gefallener Engel ist: Er ist aus der göttlichen Ordnung gefallen und aus der Ordnung der Engel ausgeschieden. Und er ist es, der den zweifelnden Damiel dazu bringt, wie er selbst ein Mensch zu werden.

Als Damiel als Mensch erwacht, live und in Farbe vor dem westlichen Teil der bunt bemalten Mauer, öffnet er die Augen und lacht. Der zweite Augenaufschlag im Film ist eine zweite Schöpfung, dieses Mal ohne himmlischen Ursprung, also ein komisches Nachbild. Damiel lacht, als ihm eine von einem Hubschrauber abgeworfene Ritterrüstung auf den Kopf fällt, die er später gemeinsam mit dem Erzengelhabitus ablegt und gegen jenen kunterbunten Tiroler Anzug eintauscht. Sein Eintritt aus dem Himmel in die Weltgeschichte ist von Bildern aus Schauspiel und Film beeinflusst. Und diese Bilder sind oft grotesk, komödiantisch, Kommentare über die Unterhaltungsindustrie, lesbar auch als Graffiti und Mauerinschriften; einmal lesen wir auf einer Brandmauer den Spruch „Warten auf Godard“, der Samuel Becketts Nachkriegsstück Warten auf Godot in die Zeit der Nouvelle Vague und des Filmemachers Jean-Luc Godard trägt.

Peter Falk befindet sich in Berlin – so die Story im Film –, um einen tarantinoesken World-War II-Film zu drehen. Der „heilige Ernst“, den Peter Falk dem Film von Wim Wenders gibt, besteht in seinem Realismus, auch wenn es sich nur um alltägliche Insignien wie Zigarette, Kaffeebecher, Imbissbude handelt. Das ist dem Konstruktivismus in den Szenen mit den Engeln förmlich entgegengesetzt, die das Gedicht vom Kindsein von dem am Drehbuch beteiligten Wenders-Freund Peter Handke zitieren und auf seraphische Dichter wie Rainer Maria Rilke anspielen, der die Schönheit der Engel an „des Schrecklichen Anfang, den wir gerade noch ertragen“, verortete. Auf diese Weise entkoppelt der Film die Differenzen von hohem und niedrigem Ton, von Pathos und Komödie, von Schwarz-Weiß und Farbe, Himmel und Erde, von säkularer Aggression und seraphischer Resonanz. Die Engel sind in Wenders’ Film Boten einer religiösen Kommunikation.

Der Himmel über Berlin erzählt also eine Engel-Transfiguration nach unten. Die Geschichten vom Himmel können nicht zum Sprechen gebracht werden, wenn „Tausende von Adressen für Anrufungen und kultbasierte Jenseitsvorstellungen“ vom Auslöschen bedroht sind, wie Sloterdijk schreibt. Statt auf Geschichten baut der Film in den Worten des Regisseurs auf Bilder: „Im Verhältnis von Geschichte und Bild ähnelt für mich die Geschichte einem Vampir, der versucht, dem Bild das Blut auszusaugen. Bilder sind sehr empfindlich […]; sie wollen nichts tragen und transportieren – weder Botschaft noch Bedeutung, weder Ziel noch Moral. Genau das aber wollen Geschichten.“

 

Michael Braun, geboren 1964 in Simmerath, Literaturreferent der Konrad-Adenauer-Stiftung und außerplanmäßiger Professor für Neuere Deutsche Literatur und ihre Didaktik, Universität zu Köln.

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