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Zum 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr

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Das Sondervermögen für die Bundeswehr ist das Herzstück der „Zeitenwende“, die Bundeskanzler Olaf Scholz in Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ausgerufen hat. Es ergänzt die übrigen Maßnahmen der Regierung nicht nur – die Sanktionspakete gegen Putins Russland, die neue deutsche Energiepolitik, die Waffenlieferungen an die Ukraine –, sondern schafft Voraussetzungen für eine neue Rolle Deutschlands in der internationalen Politik. Wenn Streitkräfte der Ausdruck des Selbstbehauptungswillens eines Staates sind, dann ist das Sondervermögen das deutsche Bekenntnis, in einer unruhigen Welt für Stabilität und die eigenen Überzeugungen einstehen zu wollen – und zu können.

Konkret stellt der Bund 100 Milliarden Euro zur Verfügung, die unmittelbar der Bundeswehr zugutekommen. (Um genau zu sein, erhält die Bundeswehr 81 Milliarden Euro, da auf das Sondervermögen 19 Prozent Mehrwertsteuer angerechnet werden.) Dieses Geld versteht sich zusätzlich zum jährlichen Etat für Verteidigung (Einzelplan 14), der bei circa fünfzig Milliarden Euro liegt und für die verbleibenden Jahre der Legislaturperiode leicht sinken soll. Damit wird die seit 2014 bestehende Tendenz des Anstiegs des regulären Verteidigungshaushaltes gebrochen; dies wird allerdings durch das Sondervermögen mehr als kompensiert. Rechnet man das Sondervermögen auf die jährlichen Haushalte um, erfüllt Deutschland heute und voraussichtlich bis 2024 die in der NATO getroffene Vereinbarung, mindestens zwei Prozent der nationalen Wirtschaftskraft für Verteidigung auszugeben. Das ist ein Sprung (von zuletzt circa 1,3 Prozent), den verschiedene Verteidigungsministerinnen und ihre militärischen Planer zwar seit Langem empfohlen, aber wohl kaum noch erwartet hatten.

Dieses viele Geld hat die Bundeswehr bitter nötig, weil sie in den 25 Jahren seit der Wiedervereinigung kaputtgespart wurde. Berücksichtigt man die Inflation, wurde der Etat der Bundeswehr zwischen 1991 und 2013 halbiert. Eine sogenannte „Friedensdividende“ sollte nach dem Ende des Kalten Krieges anfallen, obwohl in diese Zeit die anspruchsvollsten Missionen in der Geschichte der Bundeswehr fielen, zum Beispiel in Afghanistan. Das ging vor allem auf Kosten der Modernisierung; so wurden Hubschrauber und Flugzeuge weit über ihr eigentliches Haltbarkeitsdatum hinaus genutzt. Erst mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland 2014 setzte eine Trendwende ein – die aber weit hinter den Erfordernissen zurückblieb. Auch zeigte sich, dass großes und kompliziertes Gerät nicht über Nacht gebaut und beschafft werden konnte, insbesondere nicht von einer weitgehend abgewickelten deutschen Rüstungsindustrie.

 

Nationale Verteidigungsplanung

 

Auch wenn es am Geld noch fehlte, planerisch hat die Bundeswehr in den letzten Jahren gute Arbeit geleistet, auf die jetzt aufgebaut werden kann. Grundsätzlich orientiert sich Deutschland an den Planungszielen der NATO. Das heißt, innerhalb des Bündnisses wird analysiert, welche Bedrohungen für die Sicherheit der Mitgliedstaaten bestehen und welche Fähigkeiten alle gemeinsam benötigen, um sich gegen diese Bedrohungen zu wappnen. Seit 2014 steht dabei Russland zu Recht wieder im Fokus, wie die NATO bei ihrem Gipfel in Madrid im Juni 2022 erneut bekräftigt hat – nicht zuletzt im neuen Strategischen Konzept. Aus dieser Bedrohungsanalyse hat das Bündnis eine Streitkräfteplanung abgeleitet, deren aktueller Zyklus bis Ende 2031 reicht. In der Streitkräfteplanung ist festgelegt, wie viele Panzer, Soldaten et cetera die Verbündeten benötigen; das wird gemeinsam entschieden und gemäß der Leistungskraft auf die einzelnen Mitgliedstaaten verteilt. Das ist der Kern der Zwei-Prozent-Vereinbarung: Nur wenn in diesem Maße investiert wird, kann jeder seinen fairen Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung leisten.

In Deutschland wurde diese NATO-Planung in nationale Verteidigungsplanung übersetzt, namentlich die Konzeption der Bundeswehr und das Fähigkeitsprofil, das seit 2018 fortgeschrieben wird. Im Einklang mit dem Weißbuch zur Sicherheitspolitik der Bundesregierung von 2016 benennen diese Papiere im Einzelnen, was die Bundeswehr benötigt – und wozu. Diese strategischen Dokumente und Umsetzungspläne hat die Ampelkoalition von ihren Vorgängern geerbt und entwickelt sie derzeit weiter, angepasst an die neue europäische Sicherheitslage.

 

Schlüsselfähigkeiten optimieren

 

Daher fällt das Sondervermögen auf ein wohlbestelltes Feld. Die Planer der Bundeswehr können genau begründen, welche Fähigkeiten beschafft werden müssen und warum. Dabei bleibt es eine politische Entscheidung, wie die Prioritäten zu setzen sind – denn angesichts der Größe der militärischen Defizite und der Enormität des Bedarfs bis 2031 reichen selbst die 100 Milliarden nicht aus, alle Planungsziele zu erreichen.

Verteidigungsministerin Christine Lambrecht ist dieser Verantwortung nachgekommen und hat dem Bundestag vorgelegt, wofür das Sondervermögen konkret ausgegeben werden soll. Besondere Bedeutung kommt dabei aufwendigen Waffensystemen zu, die Schlüsselfähigkeiten in der Abschreckung und Verteidigung bereitstellen und deren überfällige Finanzierung nun ein sicheres Fundament erhält. Ein Beispiel dafür sind hochmoderne amerikanische F-35-Kampfflugzeuge, die den veralteten Tornado ersetzen werden. Sie erfüllen nicht zuletzt eine Funktion in der nuklearen Teilhabe, also beim Versprechen Deutschlands, im Verteidigungsfall amerikanische Atombomben ins Ziel zu bringen. Auf die Fortsetzung dieses bündnispolitisch hoch bedeutsamen Arrangements hatten sich die Ampelparteien bereits im Koalitionsvertrag verständigt – nun haben sie auch die Mittel für die dafür benötigten Fähigkeiten freigegeben. Ähnliche Beispiele finden sich bei den Land- und Seestreitkräften, etwa die Beschaffung des Nachfolgemodells des Schützenpanzers „Marder“ oder die weitere Nachrüstung des Schützenpanzers „Puma“ sowie die Beschaffung weiterer Fregatten, Korvetten und des mit Norwegen weiterentwickelten U-Boots „212 CD“.

Ebenfalls von höchster Priorität ist die Verbesserung der Führungsfähigkeit der Bundeswehr. Dafür sollen mehr als zwanzig Milliarden des Sondervermögens investiert werden. Dahinter verbirgt sich ein komplexes Programm zur Digitalisierung der Kommunikation und Kampffähigkeit der Bundeswehr: neue Funkgeräte, ein neuer Rechenzentrumsverbund, Investitionen in Satellitenkommunikation und dergleichen. Nachdem die Bundeswehr zuletzt in Übungen mit NATO-Verbündeten aufgrund ihrer nur analogen Kommunikationswege nicht richtig eingebunden werden konnte, erfolgt damit ein dringend erforderlicher Modernisierungsschub.

Allerdings wurde auch Kritik am „Einkaufszettel“ der Bundeswehr laut. So bemängelten manche Beobachter, dass die „Dimension Luft“ mit mehr als vierzig Milliarden gegenüber den Dimensionen „See“ (circa neunzehn Milliarden) und „Land“ (circa siebzehn Milliarden) überproportional berücksichtigt werde. Diese Betrachtung lässt jedoch außer Acht, dass bestimmte unter „Luft“ verbuchte Elemente in erster Linie den anderen Dimensionen zugutekommen – zum Beispiel die Seefernaufklärer (Marine) oder der von der Truppe seit Jahren herbeigesehnte neue Schwere Transporthubschrauber (Heer). Bei allem Verständnis für den internen Wettbewerb der Teilstreitkräfte darf der bundeswehrgemeinsame Ansatz nicht aus dem Blick geraten, der im Sondervermögen deutlich abgebildet ist. So wird die Digitalisierung der Führungsfähigkeit letztlich allen nützen, auch wenn sie vermutlich besonders im Heer zu Buche schlägt.

 

Langfristige Verbesserungen?

 

Triftiger erscheint da schon die Kritik, wie sie von der Wehrbeauftragten Eva Högl vorgebracht wurde: Sie verweist auf den enormen Bedarf bei der Wiederauffüllung der Munitionslager, deren Kosten auf zwanzig Milliarden Euro geschätzt werden. Entgegen ursprünglichen Überlegungen findet sich das nicht im Sondervermögen. Auch wünscht sie sich eine bessere Ausstattung zum Schutz der Soldatinnen und Soldaten, vor allem bei Investitionen in die Sanität. Das Ministerium verweist demgegenüber auf den regulären Etat, in dem beides berücksichtigt werde – und auf die zwei Milliarden des Sondervermögens, die in persönliche Ausstattung der Soldatinnen und Soldaten fließen sollen: Stiefel, Nachtsichtgeräte, verbesserte Helme.

Hinter dieser Debatte steckt eine größere Sorge: Wird die Bundeswehr auch langfristig durch die Investitionen des Sondervermögens verbessert? Neues Gerät zu beschaffen, ist das eine, das andere aber ist, dieses Gerät auch dauerhaft nutzen zu können. Deswegen sind die Hinweise auf Munition, Personal und all das, was die Bundeswehr „Nutzung“ nennt, so wichtig. Ein Ausweg aus diesem Dilemma wäre die Verstetigung des Verteidigungshaushalts auf zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes über das Sondervermögen dieser Legislaturperiode hinaus – eine politische Herkulesaufgabe.

Über Details der Prioritätensetzung oder der Vorzüge bestimmter Produkte gegenüber anderen wird man immer streiten können. Aber im Grundsatz ist eindeutig: Die Bundeswehr hat einen guten Plan, wofür sie das zusätzliche Geld verwenden will. Wird er umgesetzt, wird Deutschland einen fairen und notwendigen Beitrag zur Sicherheit unseres Kontinents leisten. Schon jetzt ist absehbar, dass die USA die konventionelle (also: nicht-nukleare) Abschreckung und Verteidigung in Europa stärker in europäische Hände legen wollen, um die eigene Kraft stärker auf den Indopazifik und die Herausforderung durch China konzentrieren zu können. Das ist auch aus europäischer Perspektive sinnvoll und legitim, bedeutet aber, dass neben dem großen, wohlhabenden Deutschland kaum ein Staat infrage kommt, das Rückgrat konventioneller Verteidigung in Europa zu bilden. Das Sondervermögen flankiert die ersten Schritte in diese neue Rolle, in der uns auch die Verbündeten sehen.

 

Opake Strukturen aufbrechen

 

Damit das zusätzliche Geld nicht verpufft, braucht es effektive Prozesse der Beschaffung. Dort besteht enormer Handlungsbedarf, weil die opaken Strukturen der Bundeswehr-Beschaffungsprozesse eine unheilige Allianz mit der überbürokratisierten Selbstfesselung durch die Vergaberichtlinien der öffentlichen Verwaltung eingegangen sind – freundlich assistiert von den Geschäftsinteressen der Industrie und den machtpolitischen Erwägungen in den Haushalts- und Verteidigungsausschüssen des Bundestages. Auf diesem Gebiet etwas zu ändern, ist die wahre Bewährungsprobe der Ministerin Lambrecht. Dabei hat sie erkannt, dass es keine große, einfache Lösung gibt, sondern an vielen kleinen Schrauben gleichzeitig gedreht werden muss. Sie hat damit begonnen, etwa indem sie das zentrale Beschaffungsamt von allen Vorgängen unter 5.000 Euro Wertstellung entlastet und diese Befugnis in die Truppe selbst zurückgegeben hat. Oder indem sie ihr Beschaffungs-Beschleunigungs-Gesetz durch den Bundestag gebracht hat. Das sind erste Erfolge auf einem Weg, der noch lang und steinig sein wird.

Um auf ihm zu bestehen, muss die gesamte Regierung ihren neuen Dreiklang aufrechterhalten: erstens den politischen Willen zur „Zeitenwende“ weiter verdeutlichen, etwa in der derzeit entstehenden Nationalen Sicherheitsstrategie. Zweitens die Bundeswehr so finanzieren, dass verlässlich geplant, verhandelt und geliefert werden kann – auch über 2025 hinaus. Und drittens nicht nachlassen, die Beschaffungsprozesse zu vereinfachen und zu beschleunigen. Denn auch wenn die NATO gern in langen Zyklen plant, benötigt das freie Europa bereits jetzt eine Bundeswehr, die ihren Auftrag erfüllen kann.

 

Patrick Keller, geboren 1978 in Bonn, promovierter Politikwissenschaftler, Vizepräsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin, zuvor Chefredenschreiber der Bundesverteidigungsministerinnen Ursula von der Leyen und Annegret Kramp-Karrenbauer, 2008 bis 2018 Koordinator Außen- und Sicherheitspolitik bei der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Autors wieder.

 

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