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Wie das Christentum Staat und Herrschaft veränderte

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Das Christentum veränderte die Denk- und Lebensformen der politischen Welt tiefgreifend, hat geradezu eine „Umwertung aller Werte“ hervorgebracht: Denn an die Stelle der Einheit von Kult und Politik, an die Stelle des Anspruchs der Polis, „Kirche ihrer eigenen Religion zu sein“ (Joseph Ratzinger), tritt in den neutestamentlichen Zeugnissen eine Zweiheit, wie sie am bündigsten im sogenannten Zinsgroschengleichnis (Mk 12,13–17) umschrieben wird, wo es heißt: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist.“

Das Christentum tritt hervor in einer Welt, in welcher der Friede Roms, die Pax Romana, herrscht. Und es trifft in den ersten Jahrhunderten seiner Ausbreitung auf eine universelle politische Religion: den Kaiserkult. Seine politische Eschatologie breitet sich in der gesamten von Rom beherrschten Welt aus, mit verschiedenen Akzenten in West und Ost, aber mit demselben universellen Anspruch: Während der Kaiser in Rom als princeps auctoritate regiert, wird er in der östlichen Reichshälfte als Gottheit verehrt, zu der man um die Fortdauer des Friedens betet.

Der römische Staat war der Erbfolger der griechischen Polis-Idee. Er hatte diese Idee ins Ökumenische erweitert, indem er das Bürgerrecht der Stadt ausgeweitet hatte zu einem römischen Weltbürgerrecht. Er hatte zugleich die alte Polis-Einheit von Kult und Politik erneuert und sie zum zwingenden Gesetz des Reiches gemacht. In der Verehrung der römischen Kaiser gipfelte der Kult der Götter. An diesem Punkt, dem Kaiseropfer, entbrannte der Streit mit dem jungen Christentum.

Politik wird „Menschenwerk“

Die Haltung der frühen Christenheit zu Kaiser, Obrigkeit, politischer Gewalt ist nicht auf eine einfache Formel zu bringen. Als Kontinuum in den wechselnden geschichtlichen Situationen treten aber zwei Züge hervor: Die Christen gehorchen, apostolischer Weisung folgend, der Obrigkeit; und sie beten – selbst in Verfolgungszeiten und ungeachtet ihrer entschiedenen Ablehnung des Kaiseropfers – für den Kaiser und für das Heil des Reiches. Aber sie gehorchen einer Obrigkeit, die unter Gottes Gericht steht; und sie beten für einen Kaiser, der ein Herrscher ist, nicht ein Gott. So ist aller Gehorsam eingebettet in eine fundamentale Reduktion weltlicher Macht: Kein irdischer Herrscher kann sich post Christum natum absolut setzen und für das Ganze ausgeben, keiner kann die Geschichte ans Ende bringen, die Götter versöhnen, den Weltfrieden ausrufen. Kaiser und Reich, Staat und Herrscher werden zu Dämonen, wenn sie göttliche Allmacht für sich beanspruchen.

Damit werden Staat und Politik etwas anderes, als sie es bis dahin waren – sie enthüllen sich in einem radikalen Sinn als menschliche Schöpfung, als „Menschenwerk“. Das Politische ist nichts Göttliches. Es wird – christlich gesprochen – zu sich selbst, zu seinen irdischen Zwecken befreit. Seine eigene, nicht mehr mit Religion und Kult ununterscheidbar verflochtene Geschichte beginnt.

So steht vor dem Dienst der alten Kirche am Staat in Gestalt von Gebet und Gehorsam ein anderer, fundamentalerer Dienst: die Entdivinisierung, Entgötterung (oder wiederum christlich gesprochen: die Entdämonisierung) des Staates – die Auflösung der spätantiken Symbiose von Kaiser, Reich und Gottesverehrung. Dass dies ein Dienst am Staat sei, eine Befreiung des Staates zu sich selbst, ein Schritt zu seiner rechtlichen Bindung, Vergesetzlichung, Kontrolle – das musste heidnischen Betrachtern freilich wie eine Blasphemie erscheinen. Viele verdächtigten daher die Christen, die in ihren Augen die Sorge um die Götter, die religio, vernachlässigten, als „Atheisten“.

Rückfälle in politisch-religiöses Denken

Auch die Christen selbst lösten sich nur langsam von den überlieferten politisch-religiösen Denkweisen. Das zeigen die regelmäßigen Rückfälle in eine – nunmehr christlich gefärbte – Rom- und Reichstheologie in der Geschichte des Christentums seit Konstantin. Allzu nahe lag die Versuchung, auch in christlichen Zeiten Himmel und Erde immer wieder durch ein forderndes „Gott will es!“ kurzzuschließen und so den welttranszendenten Gott in irdische Kämpfe und Konflikte zu verstricken.

Man kann diese Linien bis in die Gegenwart hinein ziehen. Immer wieder kommt es auch in der Moderne zu Regressionen in die mythische Einheit von Kult und Politik, zur Leugnung des für die Geschichte nach Christus geltenden „eschatologischen Vorbehalts“. Selbst in der abgeschwächten Form der „Zivilreligion“ rivalisiert diese Tendenz bis heute mit den Kräften christlicher Weltfreigabe. Bei vielen herrscht die illusionäre Erwartung, Christus sei der „Ordner der Welt“ und nicht vielmehr deren „tödliche Freiheit“ (Reinhold Schneider).

Dennoch: Die Geschichte des Christentums ist die Geschichte einer fortwährenden Destruktion „politischer Theologien“. Die Lehre von der göttlichen Monarchie scheiterte am trinitarischen Dogma. Die Pax Augustea im Sinn eines ewigen Friedens fand ihre Grenze an der christlichen Eschatologie. Der christliche Kaiser des Mittelalters verlor im Investiturstreit seine numinosen Qualitäten. In der Neuzeit wurden nacheinander die monarchische Geschichtstheologie Bossuets und ihr Gegenstück, die theologische Demokratielehre der Konstitutionalisten in der Französischen Revolution, entzaubert.

Darin wird deutlich, dass das Politische im christlichen Äon anders als in der Antike ein Nicht-Absolutes, ein Vorletztes darstellt, das für den Menschen Dienst- und Instrumentcharakter hat. Der Christ soll, nach einer Formulierung Augustins, diese Welt, auch die politische, nicht „anbeten“, sondern „pflügen“ – das heißt sie erkennen und konstruktiv weiterbilden.

Gefahr des „redivinisierten“ Staates

Kehrt am Ende der Neuzeit die antike Theopolitie zurück? 1929 schrieb Hermann Heller angesichts der modernen Totalitarismen den prophetischen Satz: „Der Staat kann nur totalitär werden, wenn er wieder Staat und Kirche in einem wird, welche Rückkehr zur Antike aber nur möglich ist durch eine radikale Absage an das Christentum“ (Europa und der Faschismus, 1929, 56). Eric Voegelin und Raymond Aron haben die Gewaltregime der jüngsten Vergangenheit – Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus – als „politische Religionen“ bezeichnet. Sie sahen in deren Bemühen um eine quasi-religiöse Dimension politischer Ordnung Parallelen zu den Modellen der antiken politisch-religiösen Einheitskultur. Die modernen totalitären Regime sind aber zugleich die Fratze eines pervertierten Christentums, von dem nur äußere Ordnungen, Zwang und Disziplin übrig geblieben sind. Mit ihren „reinen Lehren“, ihren Inquisitionstribunalen und Ketzergerichten, ihren Dissidenten und Renegaten, Apostaten und Proselyten äffen sie problematische Entwicklungen in der Geschichte des Christentums nach. „Was nachgeahmt wird“, sagt Marie-Joseph Le Guillou, „ist oft die Sünde des Christentums.“

Es ist kein Zufall, dass der Auftritt der modernen Gewaltregime Hand in Hand geht mit einem überdimensionalen Wiederaufleben von Personenkult, Vergöttlichung der Herrscher, Apotheose der „toten Helden“ im Umkreis totalitärer Politik. Dafür gibt es nur antike Parallelen. Man denke an die „Pantheonisierung“ Lenins im Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau, an die kultische Verehrung des Revolutionsführers durch Menschen aus Russland und der ganzen Welt, an die Erlösungs- und Auferstehungsdramaturgie der Feiern für die Toten des 9. November im Deutschland Adolf Hitlers, an anbetungsgleiche Aussagen über politische Führer wie „Er organisierte die Berge / und ordnete die Küsten“ (Stalin) oder: Seine Ideen sind „die Sonne, die ewig scheint“ (Mao Tse Tung).

Man könnte denken, das sei heute Vergangenheit, ein Rückfall in mythische Vorstellungen einer „politischen Religion“ sei wenig wahrscheinlich. Doch der „redivinisierte“ (Eric Voegelin) Staat bleibt auch für die Zukunft eine reale Gefahr – zumal in vielen Teilen der einstmals christlichen Welt das postchristliche religiöse Vakuum fortbesteht. Überall, wo die christliche Scheidung der Gewalten infrage gestellt wird, wird der Staat notwendigerweise zum Alleinherrscher ohne Appellationsinstanz, zur selbstbezogenen Macht, gegen die sich der Einzelne nur unter Aufbietung aller Kräfte des Willens und des Intellekts zu wehren vermag. Es gehört zum Bild einer „Welt ohne Christentum“, dass in ihr mit dem omnipotenten Staat zugleich auch der Terror antiquus und der panische Angstschrei der Opfer wiederkehren.

Verantwortung vor Gott

Im Unterschied zur antiken Anschauung, die mit Herren und Sklaven als einem selbstverständlichen, „natürlichen“ Faktum rechnete, war das Vorhandensein von Herrschafts- und Diensträngen in einer vom Christentum geprägten Gesellschaft nicht einfach eine naturhafte, mit der Geburt gegebene Tatsache. So musste sich der jeweilige Herrschaftsträger vor seinen Mitmenschen und vor Gott verantworten, da er seine Herrschaft als „Lehen“, als Amt und Auftrag, nicht als willkürlichen Besitz innehatte. Hierin lag die Möglichkeit einer Modifikation von Herrschaft, ihrer Umwandlung in eine Ordnung, in der sich eine allseitige Verantwortlichkeit entwickeln konnte – die Grundvoraussetzung für den modernen Rechts- und Verfassungsstaat.

Kirche und geistlicher Stand waren an diesem Prozess in doppelter Weise beteiligt. Einmal war der Klerus selbst – in Grenzen – ein Aufstiegsstand. Er konnte frei gewählt werden, man wurde nicht in ihn hineingeboren. Sodann hielt die kirchliche Predigt und Erziehung über den Hierarchien und Würden, der Pracht und dem Stolz der Mächtigen immer wieder den Gedanken der evangelischen Gleichheit wach. Diese Vorstellung begann vor allem im hohen und späten Mittelalter wirksam zu werden. Sie wurde zum Ferment einer geistigen und politischen Neugestaltung.

In den Totentanzdarstellungen malte sich die Zeit ein Gegenbild ihrer purpurn-hochmütig einherschreitenden ständischen Ehren und Würden. Der große Rollentausch am Jüngsten Tag war ein Leitmotiv in der Predigt der Bettelmönche. So differenzierte die Kirche das adelig-bäuerliche Herrschaftsgefüge, formte es aus einem Verhältnis von Gewalt und Gehorsam zu einem Verhältnis gegenseitiger Rechte und Pflichten um. Erst dadurch konnten aus Machtträgern und Machtunterworfenen „Stände“ innerhalb eines größeren Ganzen werden. Unreflektierte Machtausübung wurde zur Wahrnehmung eines „Amtes“. Noch die reformatorische Sittenlehre und in ihrer Fortsetzung die christliche Staatslehre eines Seckendorff standen in dieser Tradition, wenn sie die weltlichen Stände, Obrigkeiten und Untertanen in eine christliche Ordnung eingefügt und durch „allgemeine Vergliederung und Einleibung in die Gemeinschaft der Kirche“ zu einem „geistlichen Leibe“ verbunden sah.

Staatliche Aufgaben

So versteht man, dass sich im Schoß der Kirche eine Vielzahl von Tätigkeiten entwickelte, die wir heute unreflektiert als „staatlich“ empfinden: Personenstandswesen, Sorge für Arme und Kranke, Einrichtungen der Erziehung, Bildung, Wissenschaft. Das waren keine Usurpationen. Dem Staat – der noch kaum existierte – wurde nichts weggenommen. Vielmehr entstanden diese Tätigkeiten unmittelbar aus dem Eingehen der Kirche in die Welt. Sie standen im Dienst einer sich allmählich ausformenden christlichen Ordnung des Lebens. So der Personenstand: Der Einzelne wurde – über Familie, Sippe, Stand hinaus – in seiner Individualität erkannt. So Erziehung und Bildung: Die breite Wirkung christlicher Lehren wäre nicht möglich gewesen ohne sie. So das Armen- und Krankenwesen: In einer christlichen Umwelt durfte kein Mensch ins Leere fallen. Hier sind Elemente moderner politischer Kultur vorgeprägt: Es gibt in der Antike keine institutionellen Einrichtungen, die modernen Schulen, Fürsorgeanstalten, Krankenhäusern vergleichbar wären.

Das Christentum machte politisches Handeln rechenschaftspflichtig vor Gott und dem Gewissen. Damit werden die überlieferten Formen politischer Identifikation des Einzelnen mit der Bürgergemeinde brüchig. Es genügt jetzt nicht mehr, dass der politisch Handelnde für die Bürgerschaft das Äußerste wagt und sich mit seiner Gemeinde – wenn er erfolgreich ist und nicht untergeht – in ewigem Ruhm verbindet. Die bedingungslose bürgerliche Hingabe, der „Heimfall ans Allgemeine“ (Jacob Burckhardt) – Kern des antiken politischen Ethos – wird in christlichen Zeiten fragwürdig. Die Vergöttlichung erfolgreicher Feldherren, Magistrate, Kaiser erscheint als pure Blasphemie. Während die Antike in Gestalt des Heros und der Tragödie die Vergangenheit unmittelbar in die Gegenwart hineinreißt (und sie damit aus Zeit und Vergänglichkeit herausnehmen will), stellt das Christentum Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Verantwortungsräume der politisch Handelnden klar und scharf nebeneinander. Am Beispiel des Ruhmes enthüllt Augustin die Selbstbezogenheit, die latente Verantwortungsunfähigkeit der antiken politischen Kultur. Der Staat wird von ihm entschlossen in die Zeit gestellt und auf das Recht gegründet. Denn ohne Gerechtigkeit sind die Staaten nach seinem berühmten Wort nichts als „große Räuberbanden“.

Organisation von Verantwortlichkeiten

Verantwortung wird in christlichen Zeiten neu und strenger gefasst: Wie der Mensch über sein ganzes Leben Rechenschaft ablegen muss vor dem ewigen Richter, so wird jetzt auch der politische Bereich zum Raum persönlicher Verantwortung; jeder Schritt muss bedacht, jede Handlung überlegt und abgewogen werden. In den Fürstenspiegeln entwickeln sich Formen einer religiöspädagogischen Ethik. Mittelalterliche Politik arbeitet mit religiös begründeten Instrumenten und Sanktionen. In der Neuzeit macht der Katholizismus die Herrscher rechenschaftspflichtig gegenüber Kirche, Priestertum, Gewissen. Im Protestantismus sind die institutionellen Gewichte schwächer, die inneren Gewissensinstanzen aber bestehen fort – von der bewusst kirchlichen Politik evangelischer „Betefürsten“ zur Zeit der Reformation bis zu dem individualistischen Umgang Bismarcks mit den Losungen der Brüdergemeine.

Den entscheidenden Schritt zur Organisation von Verantwortlichkeit tut freilich erst der moderne Verfassungsstaat. Er schafft klare Verantwortungsräume und Verantwortungszeiten. Er macht deutlich, wer sich zu verantworten hat, in welchen zeitlichen Abständen, vor welchen Instanzen, mit welchen Verfahren der Bestätigung oder Verwerfung. Vor allem: Er zerlegt die Machtausübung und macht sie dadurch der Übersicht und Kontrolle zugänglich. Eine Vielzahl rechtlicher und politischer Verantwortungsfelder entsteht. Sie dehnen sich in der modernen Demokratie auf die ganze Breite des Staatslebens aus: responsible government heißt schließlich, dass die Herrschenden insgesamt den Beherrschten verantwortlich sind.

Gekürzte Fassung des Essays von Hans Maier: Demokratischer Verfassungsstaat ohne Ch

ristentum – Was wäre anders?, hrsg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung, Grundfragen der Christlichen Demokratie, Nr. 1, März 2006.

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Hans Maier, geboren 1931 in Freiburg (Breisgau), emeritierter Professor für Politische Wissenschaft an der Universität München, ehemaliger Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus sowie 1988 bis 1999 Inhaber des Münchener Romano-Guardini-Lehrstuhls.

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