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Der Krieg gegen die Ukraine und das Krisenmanagement der Bundesregierung

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Die Ursprünge der von Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede am 27. Februar 2022 angekündigten „Zeitenwende“ liegen in der systemischen ganzheitlichen Disruption, mit ausgelöst durch den lange geplanten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Russlands Krieg in Europa begann jedoch viel früher: 2007 mit dem Cyberangriff auf Estland, 2008 mit dem Angriff auf Georgien, 2014 mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der Besetzung der Ostukraine sowie mit dem einseitigen Bruch des Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte-Vertrags (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty) zwischen 2008 und 2014. Es hätte deutlich früher ein Umdenken in der deutschen Politik stattfinden müssen! Ansätze dazu gab es. So forderte Bundespräsident Joachim Gauck 2014 zur Eröffnung der Münchner Sicherheitskonferenz, „die Bundesrepublik sollte sich als guter Partner früher, entschiedener und substantieller einbringen“, und beschrieb damit den notwendigen Aufruf zur sicherheitspolitischen Zeitenwende.

Monate nach der Rede des Bundeskanzlers stellt sich die Frage, ob die Zeitenwende rechtzeitig, entschieden und substanziell umgesetzt wird oder lediglich Ankündigung bleibt. Bitter könnte Letzteres für die Ukraine werden, denn im Umgang mit dem Krieg und in der Frage der Glaubwürdigkeit der deutschen Unterstützung zeigt sich, ob die Umsetzung tatsächlich gelingt.

Lange Zeit war die deutsche Außenpolitik vom Narrativ bestimmt, Deutschland sei ausschließlich von Freunden und Partnern umgeben. Noch nach 2008 und 2014 hielt man daran mehr oder weniger fest, indem man ignorierte, dass unsere europäischen Nachbarländer von einem aggressiv und mit hybrider Kriegsführung auftretenden Russland bedrängt wurden. Mit Nord Stream 2 beförderte Deutschland stattdessen einen Sonderweg.

Das Freunde-und-Partner-Narrativ gab Deutschland die Möglichkeit, sich vorrangig um sich selbst zu kümmern und den Fokus unter Vernachlässigung anderer Sicherheitsdimensionen auf die soziale Sicherheit zu legen. Die Bundeswehr wurde faktisch demilitarisiert und als finanzieller Steinbruch für Projekte der sozialen Sicherheit genutzt. Damit gab Deutschland viele seiner Fähigkeiten im Bereich Hard Power auf.

Hinzu kam das Narrativ Wandel durch Handel. Außenpolitisches Handeln basierte auf rein diplomatischen Ansätzen, auf Soft Power. Verhaltensänderungen anderer Staaten sollten durch Werteüberzeugung, Abkommen, Beziehungen und Verflechtungen erreicht werden, ungeachtet dessen, dass dieses Narrativ von autoritären Staaten wie Russland und China geradezu ausgenutzt und befördert wurde.

Das führt zum vierten essenziellen Punkt: Unser Wohlstand fußt auf einem selbst gewählten Abhängigkeitssystem: billige Energie aus Russland, billige Rohstoffe und Wertschöpfungsketten aus China, billige Sicherheit durch die USA, das Abwälzen von Sicherheitsfragen auf Bündnissolidarität.

 

Rückkehr von „Hard Power“ als Mittel der Politik

 

Mit dem brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine kehrt Gewalt, Hard Power, als Mittel der Politik zurück. Dazu gehört vorrangig das Militär, aber auch wirtschaftliche Stärke im Sinne gezielt geschaffener Abhängigkeiten, etwa in der Energiepolitik, die Sanktionsmaßnahmen erschweren. Begleitet ist die militärische Kriegsführung Russlands von einem hybriden Krieg in ganz Europa: Propaganda, Cyberangriffe, systematische Kriegsvorbereitungen, gezielt geschaffene Abhängigkeitsbeziehungen und die Unterstützung populistischer Parteien und Interessengruppen in Europa.

 

Fünf Erkenntnisse aus Russlands Krieg

 

Erstens: Nukleare Abschreckung wirkt. Durch atomare Erpressung und Bedrohung durch Russland, unter anderem mit der Stationierung von Nuklearraketen in Kaliningrad, der Aufgabe des nuklearwaffenfreien Status von Belarus und dem Bruch des Budapester Memorandums vom 5. Dezember 1994, das unter anderem der Ukraine Sicherheitsgarantien als Gegenleistung für die Beseitigung aller Nuklearwaffen auf ihrem Territorium gab, bleibt die internationale Unterstützung der Ukraine eingeschränkt, um eine von Russland angedrohte nukleare Eskalation zu vermeiden.

Zweitens: Verteidigungsbündnisse und militärische Bewaffnung wirken. Die Beitrittsgesuche von Schweden und Finnland zur NATO zeigen, wie wichtig dieses Verteidigungsbündnis und die Zunahme von Hard Power-Fähigkeiten sind. Der Krieg in der Ukraine wird militärisch entschieden. Der Faktor der Bewaffnung und des kontinuierlichen Waffen- und Munitionsnachschubs ist gerade bei einem langwierigen Abnutzungskrieg, wie er von Russland geführt wird, lebensnotwendig.

Drittens: Autokratien und Diktaturen verwenden Hard und Smart Power. Im Vorfeld des 24. Februar 2022 versuchten westliche Staaten in vielfältigen diplomatischen Formaten, Russland von einem Angriff abzuhalten. All diese Versuche scheiterten, weil Russland kein Interesse an Diplomatie hat, sondern seine Ziele mit dem Einsatz von Hard und Smart Power umsetzt. Autokratien und Diktaturen verstehen nur die Sprache der Härte. Ähnliche Vorgehensweisen lassen sich bei China im Rahmen der Belt and Road Initiative, des Projekts „Neue Seidenstraße“, feststellen.

Viertens: Entgrenzung des Krieges. Russland verwendet Energie, Migration, Hunger und Desinformation als Waffe gegen die regelbasierte Ordnung. Sicherheit ist in allen Dimensionen betroffen: äußere Sicherheit der Ukraine und bedrohter Nachbarstaaten; innere Sicherheit durch Cyberangriffe auf kritische Infrastruktur, Migrationsdruck und Fluchtbewegungen; soziale Sicherheit durch Inflation, die von Russland beförderte Finanzkrise, Desinformation und die drohende globale Hungersnot; wirtschaftliche Sicherheit durch gestörte Lieferketten, Vergeltungsmaßnahmen bei Sanktionen, erhöhte Rohstoffpreise et cetera.

Fünftens: Rückkehr zur Geopolitik. Russland hat geopolitische Interessen – und zwar Expansionsinteressen – und will die Ukraine auslöschen, weshalb sich Angriffe gezielt gegen Bevölkerung, zivile Infrastruktur und Kultur richten und unfassbare Kriegsverbrechen begangen werden. Weitere Staaten sind in Gefahr. Russland geht es nicht nur um die Ukraine, sondern es greift das europäische Lebensmodell von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und der Geltung der international regelbasierten Ordnung an. Der Sieg der Ukraine im Sinne einer Wiederherstellung zumindest der Grenzen vom Januar 2022 muss deshalb für Europa und die Staaten der regelbasierten Ordnung das Ziel sein.

 

Scholz‘ Zeitenwende: Lessons not learned

 

Die Substanz der Unterstützung der Ukraine wird zum Lackmustest für Deutschlands Rolle in der Europäischen Union und in der Welt. Will Bundeskanzler Scholz die angekündigte Zeitenwende umsetzen oder scheitert er an der eigenen Fraktion und dem fehlenden politischen Willen in der SPD?

Deutschlands Umgang mit dem Krieg müsste sich von einer naiven unstrategischen Haltung hin zu entschlossenem Handeln ändern, sonst bliebe die Zeitenwende ein Desiderat. Deshalb lohnt es sich, Worte und Taten zu analysieren und zu prüfen, ob die bereits erwähnten Erkenntnisse umgesetzt werden.

Die nukleare Abschreckung wirkt offensichtlich bei Bundeskanzler Scholz, der in Interviews immer wieder von einer nuklearen Eskalationsgefahr sprach, die eine stärkere Unterstützung der Ukraine, insbesondere mit deutschen Panzern, verhindere; eine seltsam naive Sichtweise auf das Konzept der nuklearen Abschreckung und zugleich wenig überzeugt vom Verteidigungsbündnis der NATO mit dem Konzept nuklearer Teilhabe, das für Deutschland den entscheidenden Nuklearschirm bietet.

Militärische Bewaffnung wirkt. Das Kanzleramt unterstellte zu Beginn eine relativ rasche Niederlage der Ukraine, die eine militärische Bewaffnung unnötig mache, und vertritt weiterhin auch innerhalb der NATO eine Position, die unverhältnismäßig geringe militärische Unterstützung leistet. Will Deutschland als wirtschaftlich stärkster Mitgliedstaat der Europäischen Union seiner Scharnierfunktion nachkommen, so muss es die Ukraine „früher, entschiedener und substanzieller“ unterstützen. Dazu gehört die Ermöglichung von Direktexporten der deutschen Industrie, wie etwa von Schützenpanzern „Marder“ und von Kampfpanzern „Leopard“, aber auch aus Bundeswehrbeständen. Beides bleibt bislang aus oder erfolgt in zu geringem Umfang. Zusätzlich erleben wir einen erheblichen Glaubwürdigkeitsverlust Deutschlands gegenüber unseren Partnern USA, in Osteuropa und der Ukraine. Die USA leisten ungefähr 25-mal so viel militärische Unterstützung wie Deutschland; viele kleinere Länder – wie etwa die baltischen Staaten – leisten gemessen an ihrer Wirtschaftskraft ein Vielfaches von Deutschlands Hilfe. Auch die angekündigten Ringtauschverfahren sind bisher nicht erfolgreich, die zögerliche Unterstützung der Ukraine grenzt an unterlassene Hilfeleistung.

Diplomatie muss militärisch unterfüttert sein, sonst ist sie nicht glaubhaft. Das vom Bundeskanzler angekündigte 100-Milliarden-Sondervermögen entspricht deshalb genau dem notwendigen Aufbau von Smart Power. Dennoch verkannte Deutschland dies im Fall der Ukraine. So gilt Deutschland eher als Bremser von härteren Sanktionen und als Appeasement-Anhänger, der Druck auf Litauen ausübte, die Sanktionsumsetzung in Bezug auf Kaliningrad zugunsten von Russland auslegte und der Waffenlieferungen mit vielfachen Ausreden und argumentativen Konstrukten verwarf. Andeutungen aus dem Kanzleramt, an einem Minsk-3-Abkommen zu arbeiten oder sich um künftige Beziehungen zu Russland mehr zu sorgen als um die Ukraine, weisen darauf hin, dass weiterhin der Fokus auf Soft Power gerichtet wird und die Narrative Freunde-und-Partner sowie Wandel durch Handel die Denkweise prägen.

Auch die Entgrenzung des Krieges ist nicht in dem gewünschten Sinne im Kanzleramt verstanden worden. Ein Diktatfrieden oder ein Waffenstillstand bei einer schwachen Position der Ukraine ist keine Lösung für einen dauerhaften Frieden – vielmehr wäre er zugleich eine Kapitulation der regelbasierten Ordnung. Putins Großmachtstreben und sein völkerrechtswidriges, barbarisches Vorgehen wären erfolgreich; künftig würde das Recht des Stärkeren gelten.

 

Fehlendes eindeutiges Bekenntnis

 

Geostrategisch ist ein Sieg der Ukraine mindestens in den Grenzen vom Januar 2022 unabdingbar und müsste als eigenes Ziel benannt werden. Es fehlt das eindeutige Bekenntnis Deutschlands, dass ein Sieg der Ukraine im eigenen Interesse liegt. Parallel dazu müssen eine Schwächung Russlands und die völkerrechtliche Ahndung seiner Kriegsverbrechen stehen. Blockfreie, autoritäre Staaten werden ohne Sicherheitsgarantien nuklearen Schutz anstreben. Die USA werden sich womöglich von Europa abwenden, wenn sie keine glaubhafte Lastenteilung spüren, wodurch europäische Opportunitätskosten steigen werden.

Ein Sieg Russlands würde dauerhafte Bedrohungs- und Kriegslagen in Europa schaffen. Europa würde erheblich unter zusätzlichen Kosten für Verteidigung, Sicherheit und wirtschaftlichen Belastungen leiden und zugleich seine Glaubwürdigkeit in Bezug auf den Systemwettbewerb verlieren. Globale Herausforderungen, wie etwa Klimawandel und Nahrungsmittelkrisen, wären noch schwerer im Rahmen internationaler Abkommen lösbar.

Geostrategisch verliert Deutschland durch die bislang nicht erfolgte Zeitenwende massiv. Mittel- und Osteuropa, das Baltikum, aber auch Nordeuropa können sich nicht mehr auf den deutsch-französischen Motor der Europäischen Union verlassen; dies schadet ihr, sofern das Führungsvakuum nicht gefüllt wird. Das Vertrauen ist insbesondere in Osteuropa geschwächt, das sich Deutschland als starken Anlehnungspartner wünscht und nicht als angstgetriebenes Land, das sich durch kremlnahe Narrative auszeichnet. Die USA sind enttäuscht, da Deutschlands Zögerlichkeit nicht der erforderlichen transatlantischen Lastenteilung entspricht, sondern das Bündnis schwächt. Vielmehr ist Europa weiterhin auf eine starke USA angewiesen, was den USA weniger Kapazitäten für die Aufgaben im Indo-Pazifik lässt.

 

Transformation benötigt ganzheitliche Sicherheitspolitik

 

Damit wird die geostrategische Position Europas im Systemwettbewerb mit China geschwächt. Die Europäische Union wird auf Jahre mit Russland beschäftigt sein, sollte die Ukraine den Krieg verlieren und eine dauerhafte Bedrohung sowie weitere Angriffe auf Nachbarländer befürchten müssen. Eine geschwächte Europäische Union ohne Führung ist noch abhängiger vom Wohlwollen der USA, das nicht so unumstößlich bleiben muss, wie es unter Präsident Joe Biden der Fall ist. Ein schwaches Europa kann zudem kein glaubhafter Partner afrikanischer Länder oder des Nahen und Mittleren Ostens sein. China beobachtet die Entwicklungen in der Ukraine, die Sanktionswirkungen und die Resilienz des regelbasierten internationalen Systems genau und könnte sich animiert fühlen, ebenfalls auf die Macht des Stärkeren und auf strategische Gleichzeitigkeit zu setzen. So würde die Kriegsgefahr auch im Indo-Pazifik steigen, unser Gesellschaftssystem käme noch stärker unter Druck.

In Deutschland ist eine Transformation notwendig, die eine Zeitenwende zur ganzheitlichen Sicherheitspolitik erfordert: äußere, innere, wirtschaftliche und soziale Sicherheit. Dies betrifft erstens eine substanziell erstarkte und einsatzbereite Bundeswehr, zweitens eine strategische Kultur, in der Sicherheit umfassend betrachtet und vorausschauend agiert wird, drittens die Entwicklung von Smart Power-Fähigkeiten, darunter der Abbau bisheriger Abhängigkeiten, viertens Krisenprävention und Resilienzsteigerung in der Gesellschaft, unter anderem durch strategische Kommunikation und den Aufbau einer militärischen und zivilen Reserve.

Unser Gesellschaftssystem beruht auf einem System von Abhängigkeiten, das nun seinen Preis einfordert. Es gilt, unseren Wohlstand neu zu definieren, wenn wir bestehen wollen. Für den Bundeskanzler sind es entscheidende Wochen, ob er die Zeitenwende umsetzt oder ob Deutschlands Rolle in der Europäischen Union und in der Welt weiterhin abnimmt. Insofern kommt der Union als wesentlicher Oppositionskraft eine wichtige Bedeutung bei der konstruktiv-kritischen Begleitung und gesellschaftlichen Unterstützung der Zeitenwende zu.

 

Roderich Kiesewetter, geboren 1963 in Pfullendorf, Oberst a. D., MdB direkt gewählt seit 2009, Obmann im Auswärtigen Ausschuss, Stellvertretender Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums und Sprecher für Krisenprävention der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.