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Entwurf einer christlichen Volkspartei

Vor einhundert Jahren entwickelte der Gewerkschafter Adam Stegerwald den interkonfessionellen Unionsgedanken

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Am 21. November 1920 hielt der christliche Gewerkschaftsführer und Zentrumspolitiker Adam Stegerwald auf dem 10. Kongress der Christlichen Gewerkschaften im Saalbau zu Essen seine berühmte Rede „Die christliche Arbeiterbewegung und die Lebensfragen des deutschen Volkes“. In dieser Rede ging Stegerwald ebenso auf die Situation der Arbeitnehmerschaft wie auf die Lage Deutschlands nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg ein. Die Weimarer Republik war zu diesem Zeitpunkt ein Land, das durch wirtschaftliche Krisen und innenpolitische Auseinandersetzungen zerrissen war. Erst wenige Monate zuvor, im März 1920, hatten paramilitärische Freikorps das Berliner Regierungsviertel besetzt und den ehemaligen preußischen Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp zum Reichskanzler ernannt. Zwar scheiterte dieser Putsch, doch zeigten sich die instabilen Verhältnisse in der Frühphase der Weimarer Republik auch bei den Reichstagswahlen am 6. Juni 1920, bei der die zuvor mit einer Dreiviertelmehrheit regierende Weimarer Koalition – bestehend aus der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), der katholischen Zentrumspartei (Z) und der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) – ihre Mehrheit verlor.

Deutschland, das Land der Reformation, litt aber nicht nur unter den Auseinandersetzungen im Innern sowie den Auflagen des Versailler Friedensvertrags, sondern auch unter der religiösen Trennung von Katholiken und Protestanten. Die konfessionelle Spaltung führte auch zu politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen. Die freien Gewerkschaften und die Sozialdemokratie waren in dieser Zeit stark antikirchlich eingestellt, sodass sich die christlich orientierte Arbeitnehmerschaft überkonfessionell in eigenen christlichen Gewerkschaften organisierte. Der Klerus der katholischen Kirche stand dieser Entwicklung ablehnend gegenüber. Mehr als zehn Jahre dauerte der sogenannte Gewerkschaftsstreit, der die Entwicklung der christlichen Gewerkschaften hemmte und die damaligen antikirchlichen Kräfte stärkte. Erst die Enzyklika Singulari quadam, ein von Papst Pius X. im Jahr 1912 lediglich an die deutschen Bischöfe gesandtes Rundschreiben zur Situation der Gewerkschaftsorganisationen in Deutschland, sorgte für die Duldung der Mitgliedschaft und Mitarbeit von Katholiken in den christlichen Gewerkschaften.

Adam Stegerwald war Mitbegründer der christlichen Gewerkschaften, Abgeordneter der Zentrumspartei, 1929 Vorsitzender der Zentrumsfraktion, von 1929 bis 1930 Reichsverkehrs- und von 1930 bis 1932 Reichsarbeitsminister. 1874 in Greußenheim nahe Würzburg in eine kleinbäuerliche Familie hineingeboren, kam der gelernte Schreiner Ende des 19. Jahrhunderts in München mit der entstehenden christlichen Arbeiterbewegung in Berührung. Stegerwalds Ziel als junger Funktionär war es, den kirchlich verwurzelten Arbeitern eine Alternative zu den sozialistisch orientierten Freien Gewerkschaften bieten zu können. Von 1899 bis 1902 war er Vorsitzender des Zentralverbandes christlicher Holzarbeiter, von 1903 bis 1920 Generalsekretär des Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften in Köln. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg warb Stegerwald für eine interkonfessionelle Öffnung des Zentrums. Dabei war ihm auch die Versöhnung der im Kaiserreich als „Reichsfeinde“ stigmatisierten Katholiken mit den Protestanten ein Anliegen.

 

Instabilität der Weimarer Republik

 

Adam Stegerwald setzte sich sein Leben lang für die Rechte der Arbeitnehmerschaft und die Überwindung der interkonfessionellen Spaltung der Christen ein. Erst kurz vor seinem Tod im Dezember 1945 sah er die ersten Früchte seiner Arbeit in den neu gegründeten Unionsparteien.

Die christlichen Gewerkschaften waren auch der erste organisatorische Rahmen einer ökumenischen Bewegung. Adam Stegerwalds Essener Rede war nunmehr der Versuch, auch die noch getrennt arbeitenden christlichen politischen Kräfte zu einer christlichen Volkspartei zu einen. Dies gelang allerdings erst nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges mit der Gründung der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU) und der Christlich-Sozialen Union in Bayern (CSU). Der größte Teil der katholischen Wähler stützte seit dem Bismarck’schen Kulturkampf die Zentrumspartei und die Bayerische Volkspartei (BVP). Die Bayerische Volkspartei spaltete sich am 12. November 1918 in Bayern und der Pfalz vom Zentrum ab. Dies führte dazu, dass bei den Wahlen während der Weimarer Republik das Zentrum und die Bayerische Volkspartei in der Pfalz um die gleichen Wähler kämpften. Dieser Bruderzwist schwächte das demokratische Lager weiter. Der spätere CDU-Vorsitzende Helmut Kohl, der die Geschichte seiner Heimat, der Pfalz, studierte, führte diesen christlichen Bruderkampf immer in seinen Reden an, wenn es um die Einheit der Union ging.

Die evangelischen Christen waren während der Weimarer Republik vielfach in der christlich-sozialen Bewegung von Adolf Stoecker oder der liberalen Bewegung von Friedrich Naumann aktiv. Die evangelischen Wähler unterstützten bei Wahlen die Deutsche Demokratische Partei (DDP), die Deutsche Volkspartei (DVP) oder die Deutschnationale Volkspartei (DNVP). Das katholisch geprägte Zentrum war in der Weimarer Republik von Anfang an um die Mitwirkung von evangelischen Christen und Juden bemüht. So hatte die Reichstagsfraktion des Zentrums immer einige wenige jüdische und evangelische Mitglieder. Dies war auch im Sinne des großen Zentrumsführers Ludwig Windthorst. Stegerwald wollte mit seiner Essener Rede einen Anstoß und ein Konzept für eine christlich geprägte Volkspartei geben, die die Richtung Wilhelm Emmanuel von Kettelers, Adolf Stoeckers und Friedrich Naumanns vereinte. Es sollte jedoch keine reine christlich sozial geprägte Arbeiterpartei werden, denn er wollte mit der neuen Partei auch das christliche Bürgertum, die Mittelschicht und die Landwirtschaft erreichen.

In seiner Rede, die die Erfahrungen der Instabilität der Frühphase der Weimarer Republik widerspiegelte, verwies Stegerwald darauf, wie mühsam es sei, bei den zersplitterten Mehrheitsverhältnissen im Reichstag eine tragfähige Regierungsmehrheit zu finden. Daher forderte er die Konsolidierung des Parteiensystems. Eine solche Konsolidierung sei aber nur möglich „durch eine gemäßigte Partei, die mindestens ebenso stark ist wie die mehrheitssozialistische“. Diese Partei müsse, wenn sie Bestand haben solle, „in erster Linie eine tiefe und breite Basis in der Gesinnung der Wähler haben. Ich halte alle Parteikombinationen, wenn sie zukunftsreich und positiv sein sollen, in Deutschland für unmöglich, die sich ausschließlich auf bestimmte wirtschaftliche und berufspolitische Forderungen oder auf die Geschicklichkeit und Fähigkeit einzelner parlamentarisch sehr erfahrener Persönlichkeiten gründen.“ Stegerwald setzte sich für eine Partei ein, die die Vielfältigkeit der deutschen Bevölkerung einte, anstatt nur Partikularinteressen zu bedienen und die Gesellschaft zu spalten.

Die Regierungsbildungen in der Weimarer Republik waren in jenen Jahren bemüht, patriotische, sozial denkende, christlich orientierte und liberale politische Parteien der Mitte, die die Republik und Demokratie bejahten, einzubinden. Stegerwald wollte mit seiner Idee einer „großen gemäßigten Partei“ ein Fundament politischer Stabilität aus christlicher Gesinnung legen. Der Kernsatz in seiner Rede lautete: „Die große gemäßigte Partei, zu der wir unbedingt kommen müssen, sie kann sich nur aufbauen auf der Grundlage positiv christlicher Gesinnung. […] Weder von Programmen, noch von Gesetzen kann uns letzten Endes die Rettung kommen, sondern einzig und allein von der Durchdringung des ganzen öffentlichen Lebens mit einem wahrhaft christlichen Geist.“

Markstein „Essener Programm“

 

Die „schroffe politische Scheidung der Katholiken und Protestanten“ sah der Katholik Adam Stegerwald als „eine ungeheure Gefahr“. Die Entfremdung zwischen Brüdern sei der erste Schritt zur offenen Feindschaft, die Deutschland nicht weiter belasten dürfe. Wörtlich fordert er: „Darum müssen wir alle christlichen Kräfte auch zu politischer Stoßkraft zusammenraffen, solange es noch Zeit ist.“ Die Zeit aber dränge. Sie dränge vor allem „aus all den nationalen Rücksichten, die ich heute schon wiederholt betont habe. Dass die politische Zusammenfassung der positiven christlichen Kreise diesen nationalen Rücksichten am stärksten entspricht von allen denkbaren Kombinationen, dass sie, weil sie im Geiste historischer Tradition und im Glauben an die Autorität wurzelt, am besten geeignet ist, Träger eines wahrhaft nationalen Gedankens zu werden, dessen Wesen heute mehr denn je in der Opferbereitschaft bestehen muss.“

Stegerwald fasste seine Ausführungen, die später auch als „Essener Programm“ bezeichnet wurden, mit den Schlagworten „deutsch, christlich, demokratisch und sozial“ zusammen. Wenn Deutschland wieder emporsteigen solle, dann müsse der Wille dazu in den Massen möglichst breit und tief verwurzelt sein. Zu diesem Zweck müsse die „politische Zusammenfassung der positiven christlichen Elemente eine ausgesprochen demokratische und soziale Prägung haben.“

Adam Stegerwalds Rede war nicht der erste Versuch, das christliche politische Lager zu erweitern. Der rheinische Zentrumspolitiker, Verleger und Publizist Julius Bachem forderte bereits 1906 in seiner programmatischen Schrift Wir müssen aus dem Turm heraus, das Zentrum müsse sich mehr für Menschen anderer Religionen öffnen. „Raus aus dem Zentrumsturm“: Dieser Satz von Bachem stand lange Zeit für den Versuch, das christliche Lager politisch zu einen. Stegerwalds Rede blieb „ein lauter Ruf mit leisem Widerhall“, wie sein Biograph Bernhard Forster schreibt. Aber das „Essener Programm“ reiht sich ein als wichtiger Markstein auf dem Weg zur Gründung der Unionsparteien nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs.

 

Ulrich Bösl, geboren 1959 in Wadersloh, Stellvertretender Bundesvorsitzender des Christlichen Gewerkschaftsbundes Deutschlands (CGB) und Bundesvorstandsmitglied der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA).

 

Literatur

Forster, Bernhard: Adam Stegerwald. Politik in sozialer Verantwortung. Leben und Vermächtnis des Gewerkschafters und Politikers aus Unterfranken, Hanns-Seidel-Stiftung, München 2008.

Kiene, Claudius: Adam Stegerwald. Biogramme, Geschichte der CDU, Konrad-Adenauer-Stiftung, siehe www.kas.de/de/web/geschichte-der-cdu/personen/ biogramm-detail/-/content/adam-stegerwald-v1 [letzter Zugriff: 14.10.2020].

 

Weiterführende Texte auf kas.de

Biogramm zu Adam Stegerwald: www.kas.de/de/web/geschichte-der-cdu/personen/biogramm-detail/-/content/adam-stegerwald-v1

Das zweite Kapitel der Publikation "Erinnerungsorte der Christlichen Demokratie in Deutschland" widmet sich ebenfalls Stegerwald und seinem Aufruf zur Gründung einer überkonfessionellen christlichen Volkspartei:
www.kas.de/de/web/wissenschaftliche-dienste-archiv/publikationen/einzeltitel/-/content/erinnerungsorte-der-christlichen-demokratie-in-deutschland (Publikationsseite)

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