Das Selbstbild der Sachsen scheint sich vom Konsens in der alten Bundesrepublik zu unterscheiden, insbesondere, wenn man in die Medien blickt. Zwei Demonstrationen verdeutlichen dies: Nach der tödlichen Messerattacke in Chemnitz gingen zahlreiche Menschen aus Sorge um den Erhalt der gesellschaftlichen Ordnung auf die Straße. Die Alternative für Deutschland (AfD) nutzte das Ereignis für ihre antidemokratische und rassistische Propaganda. Medial wurde nicht zwischen Rechtsextremen und Demonstranten unterschieden; mit Parolen wie „Hass im Herzen“, „Hetzjagden“ und „Zusammenrottungen“ eskalierte die Sprache. Im Gedächtnis haften bleiben die pöbelnde Menschenmenge und Rechtsextreme, die sowohl den Hitlergruß als auch ihren nackten Hintern zeigten. Letztlich scheinen die Sorgen der Demonstranten unberechtigt gewesen zu sein. Sie müssen nun verantworten, den Rechtsextremismus legitimiert zu haben.
An den Demonstrationen im Hambacher Forst beteiligte sich auch die Mitte der Gesellschaft, weil sie sich um den Umgang mit der Natur und dem Klimawandel sorgte.1 Linksradikale, die den Staat bekämpfen und vor Gewalt nicht zurückschrecken,2 beteiligten sich ebenfalls. Medial wurde nicht zwischen Demonstranten und Extremisten differenziert; im Gegensatz zu Chemnitz nahm man jedoch die Bürgerinnen und Bürger nicht in Mithaftung für das extremistische Gedankengut, sondern ihre Sorgen ernst. Es wurde von „Sonntagspicknick“ und „fröhlichen Menschen“ gesprochen.
Sind phänomenologisch nicht beide Geschehen einander ähnlich? Hier sorgen sich Menschen um die Grundlagen des Zusammenlebens, dort um die natürlichen Ressourcen. Beide Demonstrationen besaßen ein hohes extremistisches Gewaltpotenzial, das sich gegen Staat und freiheitliche Demokratie wendet. Warum werden die Bürger in Chemnitz für den Extremismus in Mithaftung genommen und im Hambacher Forst nicht? Was ist los in Sachsen? Sind die Menschen dort rechts, konservativ und traditionalistisch, während sie im Westen links, progressiv und liberal sind?
Angst um das Erreichte
Offensichtlich resultiert der Konflikt aus konträren gesellschaftlichen Erfahrungsräumen. Während Westeuropa das Programm des individualistischen Universalismus bis in die letzte Konsequenz verfolgte, kennt Osteuropa noch weitgehende Gruppenloyalitäten und -identitäten, aber auch die Konsequenzen des vormundschaftlichen Staates und den real existierenden Sozialismus.3 In Sachsen treffen beide Erfahrungsräume aufeinander. Während die ehemaligen DDR-Bürger die Probleme der Osteuropäer teilen, ist die Funktionselite in Sachsen überwiegend durch westeuropäische Erfahrungen geprägt – nur 23 Prozent der Führungspositionen sind mit Ostdeutschen besetzt. Allgemein sind die Einstellungen der Menschen in Ost- und Westdeutschland einander ähnlich; beide bejahen die westlichen Werte und die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Unterschiede werden aber bei praktischen Fragen wie der politischen Beteiligung, der Bedeutung von Religion und der Bewertung von Freiheitsrechten sichtbar.4 Wahrscheinlicher ist also ein zeitlicher Verzug der Entwicklungen in den östlichen Ländern. So werden immer noch Grundfragen und das System als Ganzes infrage gestellt.
Auch in der Bundesrepublik nahm die Zustimmung zur Demokratie in Abhängigkeit vom Wirtschaftswachstum erst langsam zu.5 Gegenwärtig glauben 77 Prozent der Westdeutschen, dass die Demokratie, die wir in Deutschland haben, die beste aller Staatsformen ist, aber nur 42 Prozent der Ostdeutschen. Bezogen auf die Marktwirtschaft nehmen 91 Prozent der Westdeutschen an, dass es kein besseres Wirtschaftssystem gibt, 48 Prozent der Ostdeutschen bezweifeln dies.6 Dass das Vertrauen in Rechtsstaat, Demokratie und Marktwirtschaft in den östlichen Bundesländern nicht so ausgeprägt ist wie in den westlichen, liegt auch an der dauerhaft höheren Arbeitslosigkeit7 und dem wirtschaftlichen Entwicklungsdefizit. So empfiehlt das Institut für Wirtschaftsforschung Halle mittlerweile, den ländlichen Raum im Osten aufzugeben.8 Menschen nehmen das wahr und haben Angst, das Erreichte zu verlieren.
Dabei ist nicht zu verkennen, dass Sachsen sich wirtschaftlich unter der CDU-Führung hervorragend entwickelt hat und blühende Landschaften Wirklichkeit geworden sind. Nur sind sie ungleich verteilt. Die Leuchtturmstrategie der Politik hat dazu geführt, dass sich das DHL-Drehkreuz und Porsche in Leipzig oder die Mikroelektronik in Dresden angesiedelt haben und dort solide Wachstumskerne entstanden sind, sodass man mittlerweile von der Boomtown Leipzig und dem Silicon Saxony Dresden spricht. Aber das hat auch die internen Spannungen zwischen Gewinner- und Verliererregionen und die Befürchtungen vor weiterführenden Umstrukturierungen, wie etwa durch den Braunkohleausstieg in der Lausitz und die damit verbundenen Arbeitsplatzverluste, verstärkt.
Zweifel an innergesellschaftlicher Gerechtigkeit
Schon 2004 fanden „Montagsdemonstrationen“ gegen Hartz IV und die Agenda 2010 statt, weil die Menschen Sorge hatten, nicht mehr an Entwicklungen teilzuhaben, und weil die finanzielle Spreizung der Gesellschaft und damit die soziale Ungerechtigkeit zunahmen. 2015 verstärkte die unkontrollierte Einwanderung von Flüchtlingen den Effekt und führte zu einer zusätzlichen Konkurrenz. Sechzig Prozent der AfD-Wähler wählen die Partei aus Protest – linker Protest verbietet sich ja aufgrund der DDR-Vergangenheit. Allgemein scheinen die Ostdeutschen mit ähnlichen Abwertungen konfrontiert zu sein wie Muslime.9
Beiden Gruppen wird vorgeworfen, sich zum Opfer zu stilisieren, sich nicht genügend vom Extremismus zu distanzieren und noch nicht im heutigen Deutschland angekommen zu sein. Damit werden sie stereotypisiert und migrantisiert. Vor allem wird ihre Leistung nicht wertgeschätzt, was die Frustrationen erhöht.
Wenn sich Anstrengungen nicht lohnen und gleiche Leistungen nicht zu gleichen Erfolgen führen, stehen Prinzipien des demokratischen Zusammenlebens infrage, und die Menschen wenden sich ab.10 Nur 0,7 Prozent der Bevölkerung sind in Sachsen Mitglied einer Partei. Viele Ostdeutsche haben nicht das Vertrauen, dass Politik eine innergesellschaftliche Gerechtigkeit herstellen kann oder diese anstrebt. Sind aber das Vertrauen und die Zustimmung in die Politiker erst einmal verlorengegangen, schwindet auch das Vertrauen in die Strukturen.11
Bezüglich der Migrationskrise werden zwei Erwartungen formuliert: erstens die Verhinderung von unkontrollierten Masseneinwanderungen und eine klare Rechtsgrundlage für individuelle Einwanderung und zweitens die Unterscheidung von Asyl und Schutzbedürftigkeit einerseits und Wirtschaftseinwanderung andererseits. Die Vermischung der Argumente und das Fehlen von Lösungsansätzen führen zum Erfolg der AfD, die sich realistische Chancen ausrechnet, die Landtagswahl in Sachsen am 1. September zu gewinnen.
Die Umfragewerte für die Sächsische Union liegen seit der Bundestagswahl 2017 konstant bei 29 Prozent, die der AfD bei 25 Prozent. Trotz großer Anstrengung haben sich die Werte der CDU seit anderthalb Jahren kaum verändert. Zahlreiche Bürgergespräche führten zwar dazu, dass der Spitzenkandidat und derzeitige Ministerpräsident 62 Prozent Zustimmung erhält, was sich jedoch bisher nicht auf die Zweitstimmenpräferenz auswirkt. Besser sehen die jüngsten Umfragen für die Erststimmen aus. Lagen in den sechzig Wahlkreisen CDU und AfD im Januar mit jeweils 28 Direktmandaten noch gleichauf, hat sich dieser Wert im März zugunsten der CDU auf 36 Mandate verbessert (AfD 19).12 Noch also gibt es Spielräume, die Stimmung weiter positiv zu verändern. Ein Lackmustest sind die Kommunal und Europawahlen am 26. Mai 2019. Nach den derzeitigen Umfragen wäre die Regierungsbildung im Herbst schwierig. Der CDU-Spitzenkandidat Michael Kretschmer hat sich gegen eine Koalition mit der Linken (17 Prozent) und der AfD ausgesprochen. Derzeit würde er neben den CDU-Stimmen auch die von FDP (6 Prozent), Grünen (9 Prozent) und SPD (9 Prozent) für seine Wiederwahl benötigen.13
1 Siehe Wikipedia: Hambacher Forst, de.wikipedia.org/wiki/Hambacher_Forst [Zugriff am 19.01.2019].
2 Axel Spilcker: „Die Hintermänner der Gewalt. Linksextremisten ziehen die Fäden im Hambacher Forst“, in: Kölner Stadtanzeiger, 27.10.2018, www.ksta.de/region/die-hintermaenner-der-gewaltlinksextremisten-ziehen-die-faeden-im-hambacherforst-31500084, s. auch theworldnews.net/de-news/hambacher-forst-vier-busse-ausgebranntpolizei-pruft-anonymes-schreiben [Zugriff am 19.01.2019].
3 Rolf Henrich: Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des realexistierenden Sozialismus, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1989.
4 Ulrike Ackermann / Thomas Petersen: Wie halten es die Deutschen mit der Freiheit? IfD Institut für Demoskopie Allensbach. „Freiheitsindex Deutschland“ 2011, John Stuart Mill Institut. www.ifd-allensbach.de/uploads/tx_studies/7691_ Freiheitsindex.pdf [Zugriff am 27.02.2019].
5 Oscar W. Gabriel: „Demokratiezufriedenheit und demokratische Einstellung in der Bundesrepublik Deutschland“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 37 (1987), B 22, S. 32–45, elib.uni-stuttgart.de/ bitstream/11682/7452/1/gab45.pdf [Zugriff am 26.02.2019].
6 Patrick Reichelt: „Allensbach-Umfrage. Ostdeutsche vertrauen Demokratie weniger als Westdeutsche“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.01.2019.
7 Markus Gangl / Carlotta Giustozzi: The erosion of political trust in the Great Recession. CORRODE Working Paper #5, Goethe-Universität, Frankfurt 2018, www.corrode-project.org, Version vom 29.01.2018.www.researchgate.net/publication/323935024_ The_erosion_of_political_trust_in _the_Great_ Recession [Zugriff am 27.02.2019].
8 Carla Neuhaus / Matthias Punz: „Stadt statt Land“, www.tagesspiegel.de/wirtschaft/iwh-chefverteidigt-studie-stadt-statt-land/24068788.html [Zugriff am 08.04.2019].
9 Naika Foroutan / Frank Kalter / Coşkun Canan / Mara Simon: Ost-Migrantische Analogien I. Konkurrenz um Anerkennung. DeZIM-Institut, Berlin 2019.
10 Ebd., S. 23.
11 Jan Timmer: Vertrauen. Eine Ressource im politischen System der römischen Republik. Campus Historische Studien Band 74, Campus Verlag, Frankfurt / New York 2017.
12 Erststimmenprognose LTW Sachsen, wahlkreisprognose.de/prognose-saechsischelandtagswahlkreise.html [Zugriff 08.04.2019].
13 Sächsische Zeitung (6./7. April 2019): Sonntagsfrage: CDU knapp vor AfD.
Joachim Klose, geboren 1964 in Eberswalde, Leiter des Politischen Bildungsforums Sachsen der Konrad-Adenauer-Stiftung.