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Das Gymnasium aus Lehrersicht

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In der von der Konrad-Adenauer-Stiftung herausgegebenen Studie Eltern – Lehrer – Schulerfolg (2013) wurden in qualitativen Einzelinterviews Lehrerinnen und Lehrer der Sekundarstufe I aller Schulformen (Repräsentativität auch bezüglich Gender, Region, Bundesland, Dienstalter) nach ihrer Alltagswahrnehmung befragt. Die Ergebnisse der Interviews deuten darauf hin, dass das Gymnasium, das als Königsweg für Bildungsgerechtigkeit und sozialen Aufstieg gilt, derzeit mit einer Vielzahl von Wandlungserscheinungen kämpft, die seine Stabilität und Integrationskraft gefährden. Der vielfache Wandel, den die Lehrkräfte beobachten, setzt das Gymnasium unter Druck – ein Druck, der sich durch die politischen Reformmaßnahmen verschärft.

 

Veränderte Schülerschaft

Im Mittelpunkt ihres beruflichen Wirkens stehen für Lehrerinnen und Lehrer ihre Schülerinnen und Schüler. Die haben sich allerdings in den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren, so die übereinstimmenden Erfahrungen vor allem der älteren Lehrkräfte, in folgenden Punkten deutlich verändert.

Heterogenität mit Sprengkraft: Die Gymnasien haben es zum einen mit einer großen Heterogenität der sozialen Schichten und Milieus zu tun, zum anderen mit einer immer stärker werdenden Ausdifferenzierung von Leistung.

Abhängig von ihrem Milieu bringen die Kinder unterschiedliche Prägungen hinsichtlich Erziehung und Bildung mit ins Gymnasium; dabei gibt es unterschiedliche Heterogenitätsstufen, je nach Region und lokalen Gegebenheiten. Lehrkräfte an Gymnasien in einer bayerischen Kleinstadt oder einem gut situierten Wohnviertel einer Großstadt erleben in den dort ansässigen Gymnasien durchaus noch Heterogenität mit Blick auf die soziale Herkunft, keineswegs jedoch zwangsläufig auch mit Blick auf die Leistungen.

Zunehmend belastete Schülerschaft: Durchweg berichten die interviewten Lehrerinnen und Lehrer von zunehmenden, nicht selten mehrfachen Belastungen der Schüler, die durch Trennung der Eltern, Erwerbslosigkeit oder ungelöste Migrationsprobleme entstehen. Auch psychische Auffälligkeiten (Essstörungen, Schul- oder Prüfungsangst) nehmen zu – in den meisten Gymnasialklassen, so die Beobachtung, seien etwa zwei bis drei Heranwachsende davon betroffen.

Außerschulisch absorbierte Aufmerksamkeit: Es ist für Lehrkräfte zunehmend schwierig, die Aufmerksamkeit der Schüler zu gewinnen. Als Ursachen sehen Lehrer vor allem steigende Intensitäten von „Jugendwelten“, die die Neugier und Lernbegierde durch den Konsum von Bildschirmmedien und weiteren Konsumgütern absorbieren. Der Zugang zu diesen höchst attraktiven Konsum- und Jugendwelten, den die Eltern ihren Kindern selbst ermöglichen, lässt das Gymnasium und seine Bildungsziele in der Wertschätzung vieler Heranwachsender also rapide sinken: „Die Medien sind der wichtigste Lehrer unserer Kinder. Und dagegen kämpft Schule jeden Tag an.“ Insbesondere der Bildschirmmedienkonsum hat einen viel größeren Einfluss auf die Heranwachsenden als die Schule, die unter den möglichen Einflussfaktoren in der Wahrnehmung der Lehrer den letzten Platz einnimmt, wie eine Studie der Vodafone Stiftung Deutschland (Deutscher Lehrerpreis, 2011) belegt.

Anstrengungsbereitschaft: Gymnasiallehrer beobachten einen mit der Zunahme von äußerlichen Belastungen einhergehenden deutlichen Rückschritt im Konzentrationsvermögen und in der Anstrengungsbereitschaft: „Die Schüler sind nicht mehr bereit, sich zu schinden, sich richtig anzustrengen – das beobachte ich.“ Übereinstimmend stellen Gymnasiallehrer fest, dass das Leistungsniveau erkennbar gesunken sei und dass sie nicht mehr dieselben Arbeiten schreiben lassen könnten wie vor zehn Jahren. Nicht wenige Lehrer kritisieren zudem, dass immer mehr Eltern die Gymnasialbildung ihres Kindes als eine Art Statussymbol betrachteten und es dabei nicht selten überforderten.

 

Vom Pauker zum Multitasker

Als Kernaufgabe ihrer Arbeit sehen Lehrer am Gymnasium den Unterricht, also die didaktisch aufbereitete Vermittlung von Fachinhalten. Das im Auge zu behalten – so Lehrerinnen und Lehrer –, werde im Schulalltag aber immer schwieriger. Die Lehrer kritisieren das Fehlen von Themen wie Classroom-Management und Psychologie in Rahmen der Lehrerausbildung – ein Manko, das auch bei den neuen Lehrerbildungsplänen weiter bestehe. Und das wirke sich angesichts der veränderten Schülerschaft gravierend aus. Auch sehen Gymnasiallehrer sich zunehmend in erzieherischer, sogar therapeutischer Weise in der Pflicht und fungierten öfter als Sozialarbeiter, auch wenn diese Veränderung an Gymnasien weniger ausgeprägt sei als an anderen Schulformen. All das gehe zulasten des Unterrichts: „Bei einem erfahrenen Lehrer sind 30 bis 50 Prozent der Aufgaben das Unterrichten, Vorbereiten und anderes. Der Rest ist Seelsorge, sind Gespräche mit den Kindern, mit den Eltern […], Neuerungen in pädagogischen Sachen […].“

Übereinstimmend erfahren die Lehrkräfte an Gymnasien die Heterogenität ihrer Schülerschaft und die starke Prägung durch Jugendwelten als Belastungsfaktoren, die neue Rahmenbedingungen erfordern. Dringend erforderlich seien multiprofessionelle Teams (zum Beispiel Sozialarbeiter, Psychologen). Als grundsätzlich ungelöst sehen sie die Frage, wie auf die immer heterogener werdenden persönlichen Voraussetzungen der Schülerschaft in einer Klasse (psychische Verfasstheit, Auffassungsgabe, Konzentrationsfähigkeit, Interesse) eingegangen werden kann. Das gilt umso mehr, je größer die Klasse ist. Der bildungswissenschaftlich ausgegebenen Losung, dass die Klassenstärke keinen Einfluss auf die Unterrichtsqualität habe, begegnen die interviewten Lehrer ausnahmslos mit großem Erstaunen.

 

Destabilisierung durch Reformen

Fast alle Lehrer am Gymnasium fordern den sofortigen Stopp von wenig durchdachten „Top-down-Reformen“, die das Gymnasium zusätzlich destabilisierten und das Kerngeschäft des Unterrichtens zusätzlich erschwerten: „Es gibt einen krassen Gegensatz zwischen Theorie und Praxis. Da werden dann Dinge plötzlich gefordert, die in der Theorie ganz toll sind, aber in der Praxis nicht funktionieren. Und da hätte ich gerne mehr Zeit für meine Schüler und meinen Unterricht, um den gut zu machen.“ Die Lehrkräfte (an allen Schulformen) fühlen sich durch die politischen Schulreformen übergangen, was aus ihrer Sicht eine Erklärung für die mangelnde Zielführung und die Kontraproduktivität der Reformen darstellt: „Seit Jahren werden uns Neuerungen übergestülpt, ohne an der Basis zu fragen. Zum Beispiel die Qualitätsanalysen. Die Lehrer bleiben außen vor, die dürfen nicht Stellung beziehen.“ Nicht nur eine veränderte Schülerschaft und kontraproduktive bildungspolitische Reformen, sondern auch fehlender gesellschaftlicher Rückhalt und ein mangelnder Konsens darüber, was die Aufgaben des Gymnasiums und seiner Lehrkräfte sind, prägen die Diskussion. Zentrale Fragen nach den angestrebten Leistungsniveaus in einzelnen Fächern (Ist Rechtschreibung wichtig?), aber auch ganz grundlegend nach Unterrichtsmethodik (Hausaufgaben oder nicht?) und Notengebung („Wie kommen Sie dazu, meinem Sohn eine solche Note zu geben?“) werden nicht selten zum Gegenstand individueller Aushandlungsprozesse zwischen einzelnen Lehrern und den Eltern eines Kindes. Dies gelte jedoch weniger für die neuen Bundesländer, da hier die Aufgaben des Gymnasiums (Studierfähigkeit) und seine Arbeitsmethodik stärker durch einen gesellschaftlichen Konsens getragen würden.

 

Erwartungsdruck und Autoritätsverlust

Lehrer können nicht mehr auf eine gesellschaftlich akzeptierte Autorität ihres Berufsstandes zählen, sondern müssen ihre Autorität individuell im Alltagsgeschäft immer wieder unter Beweis stellen, da sie ihre Autorität und auch ihre Professionalität von Eltern zunehmend infrage gestellt sehen. Zwar erfahren Gymnasiallehrer den Großteil der Eltern als wertschätzend und kooperativ, es nehmen aber die Erfahrungen mit gering schätzenden, überbehütenden und desinteressierten Eltern zu. Gymnasiallehrer sehen es als immer schwieriger an, den divergierenden Ansprüchen von Eltern zu entsprechen. So erwarten Eltern grundsätzlich eine individuelle Förderung ihres Kindes, jedoch sieht diese milieuspezifisch sehr unterschiedlich aus: Während die bürgerliche Mitte vom Gymnasium ein möglichst gutes allgemeinbildendes Abitur erwartet, wünschen obere Milieus die Ausprägung von wettbewerbsorientiertem Leistungsdenken, die Beherrschung mehrerer Fremdsprachen sowie das tadellose Bewegen auf sozialem Parkett. Wenn es finanzierbar wäre, würden Eltern dieser Milieus Privatlehrer für ihre Kinder engagieren.

Grundsätzlich sehen Lehrer am Gymnasium ihre Schulform als erfolgreich an. Diesen Erfolg stellen sie unter deutlich erschwerten Bedingungen her. Sie arbeiten oft mit großer Freude und Engagement, obwohl jüngere Lehrkräfte zunehmend in Teilzeit arbeiten, auch wenn sie keine eigenen Kinder haben. In der Gruppe der unter Vierzigjährigen bekleiden dreißig Prozent der Lehrenden eine Teilzeitstelle, in der Altersgruppe von vierzig bis 54 Jahren sind es immerhin noch elf Prozent.

Die Interviewergebnisse machen deutlich, dass das Gymnasium in Not geraten ist. Die Menschen, die dort unterrichten, brauchen mehr gesellschaftlichen Rückhalt und mehr Unterstützung durch andere Berufsgruppen, wenn das gegenwärtige Leistungsniveau nicht sinken soll. Das Gymnasium, das je nach Bundesland an die vierzig Prozent eines Jahrganges aufnimmt, wird aus Sicht der dort unterrichtenden Lehrer die neuen Aufgaben unter den herkömmlichen Arbeitsbedingungen selbst unter größtem Einsatz der Lehrerinnen und Lehrer kaum Erfolg versprechend lösen können.

 

Elisabeth Hoffmann, geboren 1961 in Koblenz, Koordinatorin für Bildungs-, Familien- und Jugendpolitik in der Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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