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Ein Plädoyer für die staatliche Verantwortung

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Jedenfalls mit Blick auf die Vergangenheit könnte die Politik es sich leicht machen und dem englischen Historiker Eric Hobsbawm folgen. Für ihn hat Geschichte in Politikerhand nichts zu suchen. „Die beste Form der Vergangenheitsbewältigung“ sei, „die Vergangenheit hinter sich und die Geschichtsschreibung ganz den Historikern zu überlassen.“ Diese prägnante Bemerkung bestätigt zwar die Hobsbawm nachgesagte Freude an einer auffälligen Pointe. Sie unterschätzt aber die fundamentale Bedeutung von Vergangenheitsbezügen nicht nur im Allgemeinen, sondern insbesondere für die Konstituierung und Legitimierung politischer Ordnungen. Staatliches Handeln vollzieht sich ausnahmslos in historischen Kontexten. Auch die Wahrnehmung staatlichen Handelns vollzieht sich zwar nicht immer, aber doch vergleichsweise häufig in historischen Kontexten – was für eine sorgfältige, sehr differenzierte Behandlung dieses Themas spricht, besonders aus deutscher Perspektive.

Die Gegenwart ist nicht nur, aber doch wesentlich das Produkt der Vergangenheit, und die Zukunft ist nur schwer zu bewältigen ohne Bewusstsein für das, was früher war. Die Identität eines Menschen wird wesentlich durch dessen Herkunft bestimmt. Für die Identität von Völkern und Nationen gilt das in ähnlicher Weise. Aus der Art, wie sich eine Gesellschaft und ein Staat zur eigenen Geschichte verhalten, lassen sich durchaus Rückschlüsse auf das jeweilige Selbstverständnis ziehen – und wenn das für eine Nation ganz sicher gilt, dann für unsere. Dass dies für uns Deutsche in der Wahrnehmung unserer Nachbarn ein geradezu prägender Aspekt des Verhältnisses ist, wurde hinreichend häufig und zu Recht beschrieben.

Nach meinem Kulturverständnis ist der Staat nicht für Kunst zuständig, wohl aber für die Bedingungen, unter denen sie stattfindet. Welche Bücher geschrieben, welche Theaterstücke inszeniert, welche Bilder gemalt werden, geht den Staat nichts an. Er muss aber ermöglichen, dass die Kreativität der Künste sich entfalten kann, wenn er ein Kulturstaat sein will. Nach diesem Verständnis ergibt sich ausdrücklich keine inhaltliche Kompetenz des Staates für Kunst und Kultur. Lediglich für einen einzigen Bereich der Kulturpolitik reklamiere ich sie dagegen ausdrücklich: die sogenannte „Erinnerungskultur“! Insofern reden wir, wenn wir über Erinnerung im Allgemeinen und Erinnerungskultur im Besonderen sprechen, immer auch über staatliche Verantwortung.

Der Staat kann und darf sich aus dem gesellschaftlichen Nachdenken, Entwickeln und Weiterentwickeln des eigenen Selbstverständnisses nicht heraushalten. Er muss sich zur eigenen Geschichte verhalten. In der Art, wie er das tut oder verweigert, prägt er die Erinnerungskultur der Gesellschaft.

Anfang und Ende der Geschichte

Seit geraumer Zeit sind sowohl ein vermeintlich neues Interesse an Geschichte zu beobachten als auch regelmäßige Klagen über einen erschreckenden Mangel an historischen Kenntnissen zu vernehmen. Für beides gibt es Belege. Wir haben in Deutschland eine bemerkenswerte Zahl von teils sehr aktiven Geschichtswerkstätten. Autobiographische Bücher sind mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit auf Bestsellerlisten zu finden. Historische Ausstellungen haben eine beachtliche Konjunktur und oft auffallend überdurchschnittliche Zuschauerzahlen. In Filmen werden historische Stoffe wiederentdeckt. Im Fernsehen gibt es für erzählende Dokumentationen historischer Ereignisse den Begriff des „Histotainment“.

Doch ich zögere, wenn ich von einem vermeintlich neuen Interesse an der Geschichte lese. Ich habe den Eindruck, dass die Wahrnehmung dieses Interesses vielleicht neuer ist als das Interesse selbst. Ich bin nicht sicher, dass es ein nachhaltiges Interesse ist; dass es über die offenkundig ausgeprägte spontane Neigung, sich mit historischen Sachverhalten zu beschäftigen, hinaus ein nachhaltiges Auf- und Einarbeiten historischer Wahrnehmungen in aktuelle Lebensbezüge diesseits und jenseits der Politik gibt. Denn so richtig der Hinweis auf Literatur und Ausstellungen, Filme und andere einschlägige Darstellungsformen ist, so einschlägig sind leider auch die Untersuchungen, die das historische Wissen beziehungsweise Nichtwissen nachwachsender Schülergenerationen belegen.

Die jüngere deutsche Geschichte erzeugt häufig eher ein Bedürfnis nach Distanz gegenüber dem eigenen Land und der eigenen Geschichte als einen spontanen Wunsch nach Identifikation. Dafür wird man mit Blick auf den besonderen Verlauf der deutschen Geschichte zumindest Verständnis aufbringen müssen. Jedenfalls erklärt es ein wenig den in den meisten unserer Nachbarländer sehr viel unkomplizierteren Bezug der Bürger zur eigenen Geschichte im Vergleich zu Deutschland. Vielleicht hat dieses Bedürfnis nach Distanz aber auch mit der verständlichen und dennoch unzulässigen Verkürzung der Wahrnehmung deutscher Geschichte zu tun. Sie hat weder 1933 begonnen, noch war sie 1945 zu Ende. Und auch die heimliche oder besser unheimliche Variante der umgekehrten Verkürzung führt zum gleichen Befund: Die deutsche Geschichte hat nicht 1945 erst begonnen, nachdem sie 1933 vermeintlich zu Ende gegangen war. Wir befinden uns immer in der Kontinuität einer Geschichte, die nicht nur viel komplizierter ist als manch andere, sondern auch länger, vielfältiger und vielseitiger, als sie in der Regel wahrgenommen wird.

„Rücksichtslose“ Geschichtsaufarbeitung

Nun ist es eine banale, wenig zielführende Bemerkung, dass Geschichte sich nie wiederholt und die Befassung mit historischen Ereignissen nur als eine Orientierung für die Bewältigung aktueller und künftiger Herausforderungen taugt. Nach meinem persönlichen Urteil widerlegt die Nachkriegsgeschichte Deutschlands allerdings eindrucksvoll die weitverbreitete Vermutung, dass sich aus der Geschichte einzig lernen lasse, dass sich nichts aus ihr lernen lasse. Wenn es ein Land gibt, für das dies weder objektiv noch im Selbstverständnis zutrifft, dann ist das wiederum Deutschland. Die bald siebzigjährige Geschichte der Bundesrepublik ist ein bemerkenswerter, jahrzehntelanger Lernprozess im Umgang mit der eigenen Geschichte und ihrer Aufarbeitung. Aber dass es nicht nur in Europa kein zweites Land gibt, das so viel Grund hat wie wir, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, sondern dass es tatsächlich auch kein zweites Land gibt, das sich so gründlich wie wir dieser eigenen Einsicht gestellt und unterzogen hat, gehört zu den ermutigenden Erfahrungen und schlägt sich längst auch in der Wahrnehmung Deutschlands durch unsere Nachbarn nieder. Dass unser Land überhaupt wieder gleichberechtigt in die europäische Völkerfamilie aufgenommen wurde, ist ohne unsere konsequente, gründliche und im Wortsinn rücksichtslose Befassung mit der eigenen Geschichte nicht erklärbar.

Was ist Erinnerungskultur?

Es gehört zu den besonders delikaten Aufgaben sowohl für Historiker als auch für staatliche Institutionen, in ihrem jeweiligen Umgang mit historischen Entwicklungen und Ereignissen weder die Handschriften zu übersehen, die Persönlichkeiten für diese Entwicklungen und Ereignisse beigetragen haben, noch die großen geschichtlichen Linien hinter solchen Köpfen verschwinden zu lassen. Denn Geschichte ist immer beides: Sie lässt sich weder von den handelnden Personen lösen, noch lässt sie sich allein durch die jeweils Handelnden hinreichend erklären.

Seit dem Tode Helmut Kohls wird viel darüber nachgedacht und geschrieben, ob denn der Prozess der Wiedervereinigung ohne seine besondere Persönlichkeit so stattgefunden hätte. Beachtlich ist, dass es in den bald dreißig Jahren nach diesen Ereignissen eine inzwischen weitverbreitete Vermutung gibt, dass sich der Ablauf der Ereignisse ohne seinen persönlichen Beitrag nur schwer vorstellen lässt. So, wie – ohne dass ich dieses Beispiel überstrapazieren möchte – die Gründung des deutschen Nationalstaates ohne den persönlichen Beitrag Otto von Bismarcks kaum nachvollziehbar erscheint, hätte auch Helmut Kohl die deutsche Einheit nicht wiederherstellen können, wenn es nicht die Bürgerrechtsbewegung in der DDR und anderen mitteleuropäischen Staaten gegeben hätte und den Fall der Berliner Mauer in der Amtszeit von George H. W. Bush und Michail Gorbatschow als Staatschefs der damaligen Supermächte. Beide Beispiele illustrieren den Zusammenhang von Ereignissen und Personen, die in solchen Situationen an einflussreichen Positionen sind und mit glücklicher oder unglücklicher Hand Einfluss auf die Entwicklungen nehmen.

Zu den herausragenden Ereignissen der jüngeren deutschen Geschichte gehört für mich auch der 17. Juni 1953. Fast jeder, der mit diesem Ereignis einen konkreten Namen verbinden sollte, hätte erhebliche Schwierigkeiten. Vereinfacht kann man sagen, dass es den 9. November 1989 ohne den 17. Juni 1953 nicht gegeben hätte – und wohl auch nicht den Ungarnaufstand, den Prager Frühling und die Solidarność-Bewegung in Polen in dieser Serie von zunächst gescheiterten Aufständen. Freiheitskämpfe verdienen nicht erst dann Respekt, wenn sie erfolgreich gewesen sind, sondern schon dann, wenn sie stattfinden. Gerade deswegen ist Erinnerungskultur mehr als die Erinnerung an herausragende Persönlichkeiten – oder umgekehrt: Eine der wichtigsten Aufgaben der Erinnerungskultur ist es, an Persönlichkeiten zu erinnern, an die sich niemand mehr erinnert, ohne die es diejenigen, an die wir uns erinnern, aber sicher ebenso nicht gegeben hätte.

Wie verhalten wir uns zur eigenen Geschichte? Wie identifizieren wir die Markierungspunkte, die erklären helfen, warum dieses Land heute so ist, wie es ist? Was ist uns davon wichtig?

Es gibt eine wenn auch vergleichsweise übersichtliche, aber dennoch eindrucksvolle deutsche Freiheitsund Demokratiegeschichte, die übrigens nicht erst in den 1980er-Jahren begonnen hat. Vielmehr lässt sie sich spätestens in dem Einfluss der Französischen Revolution auf damals ganz unterschiedlich verfasste kleinere deutsche Territorialstaaten in ihren Anfängen finden und nachzeichnen, die über das Wartburgfest und das Hambacher Fest in die Frankfurter Paulskirche geführt haben, als gescheiterter Anlauf zur Etablierung einer demokratischen Ordnung in einem deutschen Nationalstaat. Der Versuch, Demokratie und Nationalstaat gleichzeitig zu realisieren, war offensichtlich zu ehrgeizig. Aber jeder, der nicht ganz zu Unrecht diesen Anlauf als Beispiel für ein Scheitern erklärt, übersieht, dass es unser heutiges Grundgesetz ohne die Frankfurter Paulskirchenverfassung so nicht gäbe.

Was und wieviel erinnern?

Solche Zusammenhänge zu verdeutlichen, ist die Aufgabe von Historikern. Vor allem aber ist die Erinnerung daran unverzichtbarer Bestandteil des Selbstverständnisses unseres Landes. Sie muss deswegen auch als staatliche Aufgabe begriffen werden.

Wieviel Erinnerung braucht Demokratie? Braucht sie mehr Bewusstsein ihrer historischen und kulturellen Voraussetzungen als andere politische Systeme? Die Demokratie bedarf tatsächlich mehr als andere Staatsformen der ständigen Selbstvergewisserung, weil sie andere Stützen der Stabilität, über die autoritäre Systeme reichlich verfügen, nicht nur nicht im Repertoire führt, sondern ausdrücklich daraus verbannt hat.

Kann es auch ein Zuviel an Erinnerung geben? Sicher gibt es das Risiko der Vergangenheitsfixierung, der Realitätsflucht. Auch dafür gibt es Beispiele. Das Risiko aber, unter Berücksichtigung der tatsächlich stattfindenden Entwicklungen, Neigungen und Reflexe zu wenig in die Befassung mit der eigenen Geschichte und ihrer Lebendigkeit im öffentlichen Bewusstsein zu investieren, ist ungleich größer. Denn der Preis der Geschichtsvergessenheit, des Verlustes von Erinnerung oder des Verdrängens, ist Kopflosigkeit. Eine Gesellschaft, die sich nicht erinnern will oder kann, ein Staat, der so tut, als habe er mit seiner eigenen Vergangenheit nichts zu tun, enthauptet sich gewissermaßen selbst, weil er sich der Mittel beraubt, die er zur eigenen Selbstvergewisserung braucht.

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Norbert Lammert, geboren 1948 in Bochum, Sozialwissenschaftler, 1998 bis 2002 kultur- und medienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 2005 bis 2017 Präsident des Deutschen Bundestages, seit 2018 Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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