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Herausforderungen eines neuen Denkens

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Das Neue als Zukünftiges ist verlockend, allerdings erst, wenn es in Beziehung gesetzt wird zu Bekanntem, also Gegenwärtigem und Vergangenem, das keineswegs veraltet sein muss. So beschäftigen die Rückblicke auf das Jahr 1923 die Feuilletons auch im Jahr 2023. Das aktuelle Bedürfnis, in Zeiten gravierender politischer und ökonomischer Verwerfungen das Krisenjahr 1923 in den Blick zu nehmen, liegt nahe, wenn die Gegenwart fragil und die nächste Zukunft unklar ist. Bei solchen Versuchen der Selbstvergewisserung, die notwendig aufs Ganze gehen, stehen Altes und Neues nicht konfrontativ gegenüber, denn das Ganze verlangt nach einer Synchronisierung von Altem und Neuem, nach einer Beziehung zwischen beidem. Sonst ist Orientierung hinfällig.

Vor ebenfalls nunmehr genau 100 Jahren hat sich Edmund Husserl zur Lage der Zeit geäußert. Er eröffnete den ersten seiner berühmten Kaizo-Artikel, der 1923 in der gleichnamigen japanischen Zeitschrift erschienen ist, mit dem Satz „Erneuerung ist der allgemeine Ruf unserer leidensvollen Gegenwart und ist es im Gesamtbereich der europäischen Kultur“ (Husserl 1989, S. 3). Die eindringlichen Zeilen werden von einem der wirkmächtigsten Philosophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts formuliert, der das philosophische Denken in Deutschland, Europa und weit darüber hinaus bis heute prägt. Husserl schreibt dies angesichts der erschütternden Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, der prekären und ungewissen Lage der Weimarer Republik und im Bewusstsein für die vielfältigen Versuche, einen neuen Anfang für die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit nach dem Zusammenbruch der deutschen und europäischen Ordnung zu formulieren. Er spricht nicht von einem neuen Denken, sondern von der Erneuerung des Denkens. Und dies hat seine Gründe.

Denn in Zeiten der Krise erlebt das Neue eine Konjunktur sondergleichen, zumindest die fortwährende Rede darüber. Im Namen des Neuen wird schnell die Therapie für die Überwindung von Krisen gesehen. „Das Neue wird es richten“, so könnte eine Überzeugung lauten. Allein, was das Neue am Neuen sein mag, bleibt oftmals obskur. Man erwartet etwa eine neue Normalität, wenn alltägliche Routinen infrage gestellt oder irritiert werden. Erinnert sei an die jüngste Vergangenheit und daran, wie hastig und wortgewaltig während der Corona-Pandemie davon gesprochen wurde, dass alles neu oder anders werde oder werden müsse.

 

Beschwörung des Neuen und des Alten

 

Die neue Normalität ist freilich alles andere als gänzlich neu. Die Normalität lässt sich so leicht nicht aus dem Sattel heben, auch wenn die Erfahrungen bockig sein können. Schlagworte wie etwa „Zeitenwende“ lassen ebenso Neues erwarten, wenngleich auch hier nicht immer direkt ersichtlich ist, wie das Neue am Neuen ins Werk gesetzt werden kann. Die Erwartungen daran gehen auseinander, sie sind nicht nur unterschiedlich, sondern schließen sich nicht selten gegenseitig bezüglich der Mittel und Zwecke aus. Das bewährte Geschäft des beratschlagenden Aushandelns beginnt. Und dieses ist keineswegs neu.

Die Rhetorik des Neuen kann selbst zu einer Mode werden. Genau darauf hat Walter Benjamin verwiesen, wenn er über die Mode ausführt, dass es sich bei ihr um eine „Art Wettrennen um den ersten Platz in der gesellschaftlichen Schöpfung handle“ (Benjamin 1998a, S. 1036) und die Mode als „die ewige Wiederkehr des Neuen“ (Benjamin 1997, S. 677) verstanden werden könne. Wie im Falle der Mode ist es schick, am Neuen Gefallen zu finden. Es ist reizvoll und verführerisch, sich am Neuen zu begeistern und es zu feiern. Doch gefangen in einer solchen Aufmerksamkeitsökonomie bleibt das Neue nur „Schein des immer wieder Gleichen“; Benjamin spricht hier vom „falschen Bewusstsein“ (Benjamin 1998b, S. 55). Man kann es auch anders ausdrücken: Die fortwährende Beschwörung des Neuen in den Tretmühlen ökonomischen Marketings ist nichts anderes als weltanschauliche Donquichotterie, dürftiger rhetorischer Gestus oder Langeweile, die sich in Betriebsamkeit organisiert.

Zwar wird das Neue schnell verklärt, sodass es zu einer Ideologie werden kann. Doch dies trifft auch auf die Beschwörung des Alten zu. Weder ist das Alte heilig, noch ist das Neue sakrosankt. Beide Fälle einseitiger und isolierender intellektueller Verschlagwortung führen nicht weit. Solche Etikettierungen mögen durch Provokation Anreize setzen und Gefolgschaft sichern, doch sie lösen keine Probleme. Dies gilt auch für das beliebte Manöver, Fortschritt gegen Regression auszuspielen oder umgekehrt.

Jenseits derartiger Rituale, in der das Ganze aus dem Blick gerät, weil Altes gegen Neues gestellt und Neues gegen Altes in Anschlag gebracht wird, stellt sich umso mehr die Frage, was neues Denken bedeuten kann. Denn an Forderungen und Angeboten, neu zu denken, fehlt es sicherlich nicht. Die Offerten reichen von der Psychologie bis hin zu aktivistischen Denkangeboten in Journalismus und Wissenschaft.

 

Neues Denken im „ChatGPT“

 

Mit welchen Mitteln Neues gedacht werden könnte, scheint so einfach zu sein, dass die dazugehörigen Werkzeuge inzwischen auch von der Künstlichen Intelligenz aufgelistet werden. Auf die Frage, wie ein neues Denken gelingen könne, antwortet ChatGPT, ein textbasiertes Dialogsystem und die Software, die seit einigen Monaten die Gemüter bewegt, recht eloquent, aber auch erstaunlich unbedarft folgendermaßen: „1. Andere Perspektiven berücksichtigen. 2. Vorurteile und Denkmuster hinterfragen. 3. Kreative Techniken wie Brainstorming oder Mindmapping verwenden. 4. Neue Informationen sammeln und sich auf neue Ideen einlassen. 5. Interdisziplinäres Denken fördern, indem man Wissen aus verschiedenen Bereichen integriert.“

Man muss hier schmunzeln, denn solche Ratschläge erinnern an ein Assessment-Center für Ideenproduktion zum Zwecke der Effizienzsteigerung. Unter dem Deckmantel einer Rezeptur eines Prozessmanagements wird aus Neuem Passendes, sodass sich niemand daran stören kann und soll – von dem allerdings auch niemand erwarten darf, was neues Denken denn nun genau bedeuten könne. Das Neue an ChatGPT dürfte eher darin bestehen, dass es letztlich nichts Neues zu denken gibt.

Doch der Zündstoff der Frage nach einem neuen Denken liegt jenseits des schillernden Ausdrucks des Neuen. Denn neues Denken bedeutet im Kern eine Erneuerung des Denkens. Es ist diese Rückbezüglichkeit auf die Grundlagen des Denkens, die die Brisanz des Themas ausmacht. Erneuerung meint dann alles andere als Rückkehr, Wiederherstellung oder gar Restauration. Solche Schlagworte stammen aus dem blendenden Spiel einer Spiegelfechterei, von dem man letztlich sagen kann, dass es ohne Denken auskommt. Erneuerung meint demgegenüber, mit einem neuen Denken ernst zu machen, in ihm eine Aufgabe zu sehen, die nicht in Organisation aufgeht, sondern die Grundlagen betrifft, wie und in welchen Grenzen Orientierung möglich wird. Oder kurz gesagt: Neues Denken erfordert die aktualisierende Vergewisserung des eigenen Standpunkts. Es fordert die Reflexion auf die theoretische und praktische Infrastruktur, die es erlaubt, überhaupt erst Neues in den Blick zu nehmen, zu begreifen und zu erkennen. Dies ist eine intellektuelle Aufgabe, keine Sache von Management, Organisation, Rezepten – und erst recht kein Stelldichein im digitalen Sitzkreis.

 

Vorläufige Verlässlichkeit

 

Der Epochenbruch, den das neuzeitliche wissenschaftliche Denken markiert, ist hierfür sicherlich das markanteste Beispiel. Das Neue der Neuzeit bedeutet nicht einfach, sich für Neues offen zu halten und Altes einzuklammern, sondern die Grundlagen im Blick zu halten, die dieses zuallererst ermöglichen.

René Descartes Überlegungen zu einer Neubegründung der Wissenschaft klingen nicht nur revolutionär, sie sind es auch. Wie kein anderer denkt er anders und neu. Die Methoden wissenschaftlicher Reflexion werden aus den Bindungen an religiöse, weltanschauliche und alltägliche Vorannahmen gelöst, sodass Wissenschaft frei für Neues werden kann. Er illustriert den Neuansatz mit einem Bild, das für sich spricht: Es müsse das gesamte Haus hergebrachter Überzeugungen abgerissen werden, um ein neues Haus zu bauen. Alle Dogmen und Vorannahmen seien abzulegen, „um sie nachher entweder durch andere, bessere zu ersetzen oder auch durch dieselben“, wenn sie – vergleichbar den Bruchstücken eines abgerissenen Hauses – auf ihren geeigneten Platz im Bauplan hin geprüft wurden (Descartes 1960, S. 19 ff.).

Doch dies ist nur die eine Seite der Medaille. Descartes weiß ebenso, dass ein solch radikales Vorgehen ein theoretisches ist und nur dann möglich wird, wenn gerade nicht alles infrage gestellt wird, wenn nicht alles Eingang in eine absolut frei verfügbare Verhandlungsmasse findet. Die alltägliche Lebensführung lässt sich nicht außer Kraft setzen, um sich ungestört einem neuen Leben zuzuwenden. Im Gegenteil: Sie bedarf, so macht Descartes deutlich, eigener Regeln, die sie stabilisieren. Er versammelt sie unter dem Namen einer „morale par provision“, einer „provisorischen Moral“.

Das Provisorische der Lebensführung ist kein Abfallprodukt einer wissenschaftlichen Methodik. Das Provisorische ist auch nicht dasjenige, was man irgendwann einmal abschütteln oder durch absolut Sicheres ersetzen könnte. Das Provisorische ist in seiner eigenen vorläufigen Verlässlichkeit das notwendige Komplement, ohne das die Freistellung der Wissenschaft für das Neue gar nicht gelingen kann.

 

Zwischen Ideologie und Folklore

 

Wenn ein neues Denken ohne die Reflexion auf die Grundlagen und Standpunkte auszukommen sucht, endet es in Utopie. Auch hierfür kennt die Neuzeit Beispiele: etwa Tommaso Campanellas Sonnenstaat (1602) oder Francis Bacons Neu-Atlantis (1627). Meint ein neues Denken in der Reflexion auf die eigenen Grundlagen, dass es diese selbst schaffen könne, endet es in Ideologie. Diese Versuchung ist alles andere als gering, sie führt allerdings zu einem Wirklichkeitsverlust eigener Art: dem Unvermögen, sich selbst noch korrigieren zu können. Und wenn ein neues Denken die Reflexion auf die Grundlagen nur noch als Folklore begreift, dann führt es zur Selbstmusealisierung. Utopie, Ideologie und Selbstmusealisierung finden sich auch im weiten Feld des Politischen. Es handelt sich um Formen politischen Denkens, die kaum mehr in der Lage sind oder sich der Herausforderung verweigern, neu zu denken. Denn neues Denken bedeutet gerade nicht einfach, dem Neuen hinterherzulaufen, sich dem Trendigen anzubiedern oder das Hippe zu assimilieren. Und es bedeutet ebenso wenig, in einen wie auch immer gearteten Kulturkampf unter der Flagge des Vorgestrigen einzutreten.

Neues Denken ist ein Denken, das sich in der Erneuerung der Grundlagen, die das Denken selbst auszeichnen und tragen, findet. Zu diesen Grundlagen wird man sicherlich ein adäquates Verständnis vom Menschen zählen wollen – eines Menschen, der nicht auf Deutungen zweiter Hand reduzierbar ist, der nicht einfach in einem Dualismus von Kultur und Natur verschwindet, zu dessen Existenzform vielmehr seine Nicht-Ersetzbarkeit und Nicht-Reduzierbarkeit ebenso zählen wie auch die Möglichkeit, mehr als sich selbst zu erfassen. Auch gehört zu diesen Grundlagen ein Verständnis davon, wie Menschen sich organisieren können, um ihr Leben zu führen, ohne in allen Fällen durch Dritte gesteuert zu werden. Und schließlich darf man zu diesen Grundlagen ein Wissen zählen, das im Ausgleich sozialer Verhältnisse Besserwisserei als Laster und nicht als Tugend begreift und Gerechtigkeit nicht mit Übervorteilen verwechselt.

Man mag vielleicht darüber streiten, ob aus Grundsatzprogrammen politischer Parteien Handlungsempfehlungen für das politische Tagesgeschäft resultieren. Doch wer keine Grundsätze kennt, wird sich auch dem Neuen nicht stellen können. Er wird sich übrigens auch nicht auf Pragmatismus berufen können. Denn Pragmatismus muss man sich leisten können, sonst ist er von Geschäftigkeit nicht zu unterscheiden. Nicht zuletzt deshalb bedarf es eines neuen Denkens als einer Erneuerung des Denkens selbst.

 

Christian Bermes, geboren 1968 in Trier, Professor für Philosophie und Leiter des Instituts für Philosophie, Rheinland-Pfälzische Technische Universität (RPTU), Campus Landau.

 

Literatur

Benjamin, Walter: Abhandlungen, hrsg. v. Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser, Gesammelte Schriften, I.2, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997.

Ders.: Passagen-Werk II. Gesammelte Schriften, V.2, hrsg. Rolf Tiedemann, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998a.

Ders.: Passagen-Werk I. Gesammelte Schriften, V.1, hrsg. Rolf Tiedemann, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1998b.

Descartes, René: Discours de la méthode / Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs, 1. Aufl. 1637, trans. Lüder Gäbe, Meiner Verlag, Hamburg 1960.

Husserl, Edmund: Aufsätze und Vorträge (1922–1937), hrsg. v. Thomas Nenon / Hans Rainer Sepp, (Husserliana, XXVII), Kluwer Academic Publishers, Dordrecht/Boston/London 1989.

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