Flüchtlinge und Migration emotionalisieren Politik und Gesellschaft. Die menschliche Not wird zum Testfall für die humane Ausrichtung der Bevölkerung. Die Kirchen haben sich deutlich auf die Seite der Flüchtlinge gestellt und auch selbst Verantwortung vor Ort übernommen: Durch ehrenamtliches Engagement von Christen, durch institutionelle und finanzielle Unterstützung, durch Festhalten am Kirchenasyl als „ultima ratio“ im Einzelfall. Papst Franziskus hat seit Beginn seines Pontifikats das Schicksal der Flüchtlinge ins öffentliche Bewusstsein gerufen und deutlich gemacht, dass die Barmherzigkeit im Zentrum der christlichen Botschaft und der kirchlichen Sendung steht. Die Chance einer Erneuerung des Glaubens so wie der Grundlagen und Zukunftsvisionen des Politischen sieht er in der Hinwendung zu den Menschen am Rand. Angesichts ihrer Not gelte es, sich für sie zu verausgaben.1 Aber kann Barmherzigkeit eine Kategorie des Politischen sein? Oder läuft sie Gefahr, wohlfeile Appelle an die Stelle nüchtern realistischer Abwägung zu stellen? Welchen Beitrag können Glaube und Theologie leisten? Ich beschränke mich im Folgenden auf drei grundsätzliche Überlegungen.
Sozialromantik und Gutmenschentum?
Erstens: In der Politik an die Barmherzigkeit zu appellieren, birgt Gefahren: Es kann gönnerhaft und paternalistisch Menschen auf ihre Hilfsbedürftigkeit reduzieren und so dazu führen, dass die Ursachen nicht bekämpft, sondern nur die Symptome gelindert werden. Es kann in Sozialromantik und Gutmenschentum umschlagen. Ich möchte daher Barmherzigkeit in einem bestimmten Sinn verstanden wissen, der an die Wortbedeutung, an die biblische Tradition und an ein theologisches Verständnis des Begriffs anknüpft, der in der Lehrverkündigung der Päpste seit dem Konzil eine eminent wichtige Rolle spielt.2 Barmherzigkeit meint dann primär eine ganzheitliche Form der Wahrnehmung, die für die Not der Mitmenschen sensibilisiert, sich diese zu Herzen nimmt und so zu Engagement und entschiedenem Handeln motiviert. Um die sozialromantischen Konnotationen abzustreifen, ließe sich auch von Compassion3 sprechen: einer Leidenssensibilität und einem Mit-Leiden, das ein leidenschaftliches Engagement für die bedürftigen anderen motiviert. Barmherzigkeit ist Kern der christlichen Botschaft und doch ist sie nicht an konfessionelle Grenzen oder religiöse Praxis gebunden, sondern hat eine all gemein menschliche Evidenz – wie schon das Gleichnis des barmherzigen Samariters (Lk 10,29–37) deutlich macht.
Barmherzigkeit – so meine These – liefert keine politischen oder ethischen Handlungsanweisungen, sondern erneuert die „vorpolitischen Grund lagen des Politischen“4 und die motivationalen Grundlagen des Ethischen. Papst Franziskus hat das bei der ersten Reise seines Pontifikats nach Lampedusa eindringlich zum Ausdruck gebracht. Am anonymen Schicksal der Flüchtlinge und am stummen, unsichtbaren Tod der Ertrunkenen werde deutlich, dass wir den Schrei dieser „Brüder und Schwestern“ nicht hören und dass der „Traum, mächtig zu sein, groß wie Gott“, in eine „Kette von Fehlern, eine Kette des Todes“ führt, bei der am Ende „alle und niemand“ verantwortlich scheinen, wenn das Blut des Bruders oder der Schwester vergossen wird.5 Gegen die „Globalisierung der Gleichgültigkeit“, die uns „unempfindlich gegen die Schreie der anderen macht“ und uns lehrt, „an uns selbst zu denken“, setzt er die Fähigkeit zur Compassion: „Wir sind eine Gesellschaft, die die Erfahrung des Weinens, des Mit-Leidens vergessen hat!“
Die akute Not der Flüchtlinge wahrzunehmen und sich ihr zu stellen, ist die Voraussetzung, um in der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung angemessene und humane Lösungen zu suchen – die Wahrnehmung selbst nimmt aber die Ergebnisse nicht vorweg.
Perspektivwechsel zur Peripherie
Zweitens: Als Sensibilität für das Leid des anderen steht Barmherzigkeit somit nicht gegen den Realismus des Politischen, sondern ist selbst eine Form, die Wirklichkeit wahrzunehmen und sich ihr auszusetzen. Wirklichkeit hat viele Facetten und es kommt auf den Ort und die Perspektive an: Der Blick auf das Mittelmeer, auf Europa und seine wirtschaftliche und sicherheitspolitische Realität stellt sich von einer Yacht vor Cannes anders dar als von einem Schiff der Küstenwache oder einem Flüchtlingsboot vor Lampedusa. An welcher Sicht sollte sich Politik vorrangig orientieren? Wer von Realismus spricht, meint damit häufig die Bedingungen, unter denen das Bestehende erhalten bleibt und funktioniert. Wer sich von Compassion bewegen lässt und akute Notlagen in den Blick nimmt, der sieht die andere Seite der Wirklichkeit, gewinnt dadurch ein komplexeres Bild des Ganzen und neue Handlungspriori täten. In diesem Sinn fordert der Papst, an die Peripherien zu gehen: „Wenn ich von Peripherie spreche, spreche ich von Grenzen. Normalerweise bewegen wir uns in Räumen, die wir auf irgendeine Weise kontrollieren. Das ist das Zentrum. […] Es ist eine Sache, die Wirklichkeit vom Zentrum her zu sehen, und eine andere Sache, sie vom äußersten Ort her zu sehen, an den du gelangt bist. […] Die Wirklichkeit sieht man besser von der Peripherie als vom Zentrum aus.“6
Es geht bei einem solchen Perspektivwechsel darum, vom Rand her das Ganze in den Blick zu nehmen, die bislang verdrängten und übersehenen Aspekte eingeschlossen. Wie bei der Barmherzigkeit darf dabei nicht kurz schlüssig aus der Betroffenheit oder aus nur einer Perspektive zur Aktion übergegangen werden – das würde in die Dialektik einer Revolution münden, die lediglich die eine Ordnung durch eine andere ablöst oder alle Ordnungen zerstört. Die Perspektive der Notleidenden macht jedoch Prioritäten deutlich. Es kommt ein Ausschnitt der Realität in den Blick, der den Kampf von Menschen um Leben und Tod zeigt. Die Einzigartigkeit und Würde des Menschen verbietet es, diese Situationen äußerster Gefährdung mit dem Hinweis auf die Interessen der anderen zu relativieren. In der Komplexität der Realität wird die existenzielle Not genauer wahrgenommen, die verlangt, jetzt eine Handlungsoption auszuwählen. Von dieser Option her wird die Wahrnehmung der Wirklichkeit neu geordnet, kann die Komplexität reduziert werden, sodass Entscheidungen und entschlossenes Handeln möglich werden. Politik muss sich immer wieder an diesem im Wortsinn Not-Wendigen orientieren, um in den Abwägungen die richtigen Prioritäten zu setzen, human zu bleiben, vor Gott und den Menschen verantwortlich zu handeln. Der Glaubean Gott ist nach jüdischem und christlichem Bekenntnis an eine solche Umkehr der Blickrichtung gebunden, er setzt die Letzten an die erste Stelle und öffnet darin eine „messianische“ Perspektive auf die Wirklichkeit.
Gerechtigkeit und das Besondere des Einzelfalls
Drittens: Um zwischen Barmherzigkeit und den komplexen Realitäten zu vermitteln, möchte ich schließlich noch auf die Idee der Gerechtigkeit verweisen. Diese Idee schließt nicht nur faire Verfahren, Chancengerechtigkeit und Leistungsgerechtigkeit ein, sondern meint das Ideal, dem Einzelnen, Besonderen und Konkreten gerecht zu werden. Gerade diese Gerechtigkeit können Gesetze und Regeln allein nicht einlösen. Sie sind hier auf die Barmherzigkeit verwiesen, die dafür sorgt, dass bei der Anwendung der Regeln das Besondere des Einzelfalls, die Würde des Menschen nicht aus dem Blick gerät. Gerechtigkeit in diesem Sinne ist im Politischen wie im Juristischen nie voll ständig realisiert und doch darf sie als Orientierungspunkt nicht verabschiedet werden; sonst geht der Maßstab verloren, an dem sich Willkür, Dezisionismus und die Herrschaft des Faktischen messen lassen müssen. Dass Gerechtigkeit dabei kein leeres Ideal ist, das bezeugt der Glaube mit seiner Hoffnung auf einen Gott, der am Ende gerecht richtet und sich darin barmherzig jedem Einzelnen zuwendet. Dieses gemeinsame Bekenntnis von Juden, Christen und Muslimen zum barmherzigen und gerechten Gott widerspricht dem Terror und der Gewalt, die auch im Namen Gottes ausgeübt werden. Der Glaube setzt den schrecklichen Erfahrungen eine größere Hoffnung auf die größeren Möglichkeiten Gottes entgegen, die vor Resignation und Selbstaufgabeangesichts der Gewalt schützen kann. Christen verbinden diese Hoffnung mit dem Bekenntnis, dass Gott selbst sich in Jesus Christus dem Leiden und Unrecht bis ins Äußerste ausgesetzt hat und darin seine größere Liebe zu den Menschen offenbart hat.7
Es wird in der Öffentlichkeit viel zu wenig wahrgenommen, wie viele Menschen zurzeit für ihren Glauben leiden und Zeugnis von dieser Vergebungsbereitschaft Gottes geben, indem sie auf Rache verzichten und die Gewaltspirale durchbrechen. Die Flüchtlingsfragekonfrontiert unsere Gesellschaft auch mit diesem Ernstfall des religiösen Glaubens. Viele von denen, die nach Deutschland kommen, haben für ihren Glauben Schlimmstes in Kauf genommen. Die Gewalt im Namen Gottes ist auch das Resultat fehlender religiöser Bildung. Solche Bildung ist ebenso wichtig wie die Verarbeitung des Erlebten, um den Gottesglauben von seinen Perversionen zu unterscheiden und um angesichts von Traumatisierungen, Trauer und himmelschreiendem Unrecht nicht die Hoffnung zu verlieren.
Theologie und Glaube können in der Flüchtlingsfrage keine politischen Lösungen anbieten. Aber sie können gegen die Gefahr von Resignation und Ressentiment die Ressourcen der Menschlichkeit mobilisieren, sie können die Würde aller Menschen bezeugen und daher den Notleidenden Priorität einräumen, und sie können eine Perspektive der Hoffnung aufrechterhalten, die auch dort noch an Gottes Möglichkeiten glaubt, wo die menschlichen Möglichkeiten an Grenzen stoßen.
Martin Kirschner, geboren 1974 in Bad Kreuznach, Privatdozent für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen und als Diakon im Zivilberuf unter anderem auch in der Flüchtlingshilfe vor Ort tätig.
1 Kirschner, Martin: „Europa von der Peripherie her denken. Die Reden von Papst Franziskus als Anstoß einer politischen Kultur der Compassion und des transversalen Dialogs“, in: IkZ Communio 44 (2015), 355–363.
2 Vgl. als Übersicht: Kasper, Walter: Barmherzigkeit. Grundbegriff des Evangeliums. Schlüssel christlichen Lebens, Freiburg-Basel-Wien 2012.
3 Vgl. Metz, Johann Baptist / Kuld, Lothar / Weisbrod, Adolf (Hrsg.): Compassion – Weltprogramm des Christentums: Soziale Verantwortung lernen, Freiburg-Basel-Wien 2000.
4 Diese kann nach der bekannten Formulierung von E. W. Böckenförde eine freiheitliche Politik nicht selbst herstellen, obwohl sie gleichwohl von ihnen zehrt. Vgl. dazu Marc Simons, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.08.2015: www.faz.net/aktuell/feuilleton/fluechtlingsdebatte-woher-kommt-das-ressentiment-13775332.html.
5 www.vatican.va/content/francesco/de/travels/2013/inside/documents/papa-francesco-lampedusa-20130708.html.
6 Papst Franziskus in einem Interview mit der argentinischen Straßenzeitung „Carcova News“ vom 13.03.2015, http://www.lacarcovanews.com.ar/pdf/La_Carcova_news_02.pdf (eigene Übersetzung). Vgl. dazu ausführlicher: Luber, Markus / Gallegos Sánchez, Jorge(Hrsg.): Eine arme Kirche für die Armen. Theologische Bedeutung und praktische Konsequenzen, Regensburg 2015, darin besonders den Artikel von Juan Carlos Scannone.
7 Vgl. zum Verhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes: Kirschner, Martin: „Die Barmherzigkeit Gottes als größere Gerechtigkeit. Die Aporien ausgleichender Gerechtigkeit und ihre christologische Überwindung bei Anselm von Canterbury“, in: ThQ 195 (2015), S. 135–150.