Man muss nicht selbst ein Konservativer sein, um die Bedeutung einer stabilen politischen Mitte für die Vitalität einer Demokratie zu erkennen. Die Erfahrung erodierender Strukturen und Institutionen in westlichen Demokratien hat die wichtige Rolle verdeutlicht, die konservative Kräfte beim Aufstieg und Fall liberaler Verfassungssysteme spielen. Vor diesem Hintergrund lautet die Grundannahme der Studie von Thomas Biebricher über die internationale Krise des Konservatismus, „dass den Dynamiken der rechten Mitte nicht zuletzt und vor allem deshalb Aufmerksamkeit gebührt, weil sich hier das Schicksal der liberalen Demokratie entscheidet“ (S. 17).
Nach einer die Aktualität der Fragestellung in ihrem ideengeschichtlichen Kontext erläuternden Einleitung und vor einer differenzierenden Zusammenfassung der dargestellten Befunde besteht der überwiegende Teil des Buches aus jeweils drei etwa 150 Seiten umfassenden Fallstudien zu den Entwicklungen der Parteiensysteme in Italien, Frankreich und Großbritannien seit den 1990er-Jahren. In den Blick genommen wird also die Zeit nach dem Mauerfall und dem vermeintlich ultimativen Triumph der Demokratie, wobei die Mutationen traditionell konservativer Parteien und die Neugründungen und/oder das erneute Aufkeimen politischer Gruppierungen rechts der Mitte in diesen Ländern gelegentlich mit ähnlichen Entwicklungen in anderen Ländern wie Österreich, Ungarn, Spanien, den Niederlanden und den USA verglichen werden. „Dass der gemäßigte, zumal der christdemokratisch grundierte Konservatismus in der Krise steckt und sich erstarkenden autoritären Bewegungen und Parteien gegenübersieht, mit denen er um die Vorherrschaft über das Spektrum rechts der Mitte kämpft“ (S. 55), ist auch für Deutschland kaum zu bestreiten.
Biebricher beschreibt und beleuchtet das strukturelle Dilemma gemäßigt konservativer Parteien in Konkurrenz mit liberalen und autoritären Orientierungen, die jeweils den Vorteil einer vermeintlichen Eindeutigkeit für die eine oder andere Richtung in sich tragen. Das hat zur Folge, dass gerade das Bemühen um Mäßigung die eigenen Anhänger eher frustriert als begeistert und zur Abwanderung an die eindeutigeren Alternativen verleitet.
In Italien nach dem Kollaps der Democracia Cristiana, im nachgaullistischen Frankreich sowie in Großbritannien nach der Ära Thatcher finden sich dafür vielfältige, allerdings keineswegs identische Befunde. Von Bedeutung ist jedoch ein gemeinsames Entwicklungsmuster in den verschiedenen Ländern: „Die notwendige Bedingung für den Aufstieg rechtsautoritärer Kräfte ist ihre mehr oder weniger direkte Legitimierung beziehungsweise Normalisierung durch die Parteien der rechten Mitte“ (S. 501).
Selbstinszenierung und Populismus
In seiner Bewertung unterschlägt der Autor nicht, dass die beobachteten, sich ähnelnden Entwicklungen in den untersuchten Ländern keineswegs immer die gleichen Ursachen haben müssen. Das jeweilige, teilweise im Zeitablauf veränderte nationale Wahlrecht begünstigt oder behindert in erheblicher Weise mögliche und tatsächliche Veränderungen im jeweiligen Parteiensystem. Auch der überragende, in der heutigen Medienlandschaft weiter zunehmende Einfluss einzelner politischer Personen für die Wahrnehmung und die Erfolgsaussichten alter wie neuer Parteien werden von Biebricher ebenso deutlich wie eindrucksvoll hervorgehoben.
Ohne Silvio Berlusconi und seine erdrückende Medienpräsenz ist die mehrfache Transformation des italienischen Parteiensystems nach der Implosion der Democracia Cristiana und der Italienischen Kommunistischen Partei nicht erklärbar, genauso wie der Aufstieg oder Fall alter und neuer Parteien in Frankreich wesentlich von unterschiedlichen Führungspersönlichkeiten wie Emmanuel Macron oder Nicolas Sarkozy beziehungsweise die Turbulenzen der Konservativen Partei in Großbritannien von David Cameron und Boris Johnson geprägt worden sind. Bei allen Verschiedenheiten im Typus und Charakter ist ihnen die auffällige Begabung zur Selbstinszenierung gemeinsam und die Neigung zu einem Populismus, der in westlichen Demokratien seit mehr als zwei Jahrzehnten Schule gemacht hat und auch in Ländern wie Ungarn (Viktor Orbán), Polen (Jarosław Kaczyński), Österreich (Sebastian Kurz) und den Niederlanden (Geert Wilders) erstaunliche Karrieren befördert hat – bis hin zu den USA mit der Präsidentschaft von Donald Trump.
Feindbild und Mobilisierungsfähigkeit
Soweit die Verdrängung oder Marginalisierung rechtsextremer, nationalistischer Parteien dabei überhaupt gelungen ist, war der Preis in der Regel die weitgehende Übernahme von deren allzu populären, lange bekämpften Positionen unter Aufgabe eigener Prinzipien. Die aktuellen Entwicklungen in Israel verdeutlichen, welche verheerenden Auswirkungen es für die Architektur einer rechtsstaatlich verfassten Demokratie hat, wenn sich eine ehemals gemäßigt konservative staatstragende Partei radikalen Positionen öffnet. Nicht zuletzt befördert dies auch eine wachsende gesellschaftliche Polarisierung. Aufmerksamkeit verdient auch der Hinweis Biebrichers auf die Bedeutung von Feindbildern ebenso für das Selbstverständnis wie die Mobilisierungsfähigkeit konservativer Parteien, denen mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Kommunismus ihr vermutlich potentestes Feindbild weggebrochen sei. Ob dies durch den „Kampf“ gegen die sogenannte Woke-Ideologie mit Aussicht auf Erfolg zu kompensieren ist, erscheint fragwürdig: Auch hier sind die Autoritären mit ihren kategorischen Eindeutigkeiten den Konservativen mit ihren Differenzierungen in der Wahrnehmung meist überlegen.
Das umfangreiche und an Wahl- sowie Umfrageergebnissen materialreiche Buch des Frankfurter Professors für Politische Theorie, Ideengeschichte und Theorien der Ökonomie ist ebenso informativ wie unterhaltsam. Die erkennbare Freude des Autors an zugespitzten Formulierungen erhöht die Lesefreude, ohne dabei an Seriosität einzubüßen. Die letzten Seiten behandeln mit eher journalistisch-prägnanter als wissenschaftlich-nüchterner Perspektive die aktuelle Situation in Deutschland und die Lage der Union als traditionelle Kraft des gemäßigten Konservatismus in der Herausforderung durch eine erstarkte autoritäre rechte Partei. Die damit verbundenen strategischen Fragen kann und muss freilich der Autor nicht beantworten, sondern die beiden, wiederum nicht identischen Unionsparteien selbst.
Norbert Lammert, geboren 1948 in Bochum, Sozialwissenschaftler, 1998 bis 2002 kultur- und medienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 2005 bis 2017 Präsident des Deutschen Bundestages, seit 2018 Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.