Schon für Immanuel Kant war China das „kultivierteste Reich der Welt“. Friedrich der Große orientierte sich an einem als aufgeklärt interpretierten Konfuzianismus. Und Voltaire, der wortmächtige Kritiker des weltanschaulichen Monopols der katholischen Kirche, hielt dem Vatikan die nach seinem Urteil höhere Sittlichkeit der Chinesen vor. Asien im Allgemeinen und China im Besonderen haben die Europäer früh fasziniert. Das hatte objektive Gründe: Im 15. Jahrhundert etwa, während der Ming-Dynastie, zählte China 100 bis 130 Millionen Menschen, während in Europa um die fünfzig Millionen wohnten. China und Indien zusammen produzierten fünfzig Prozent des globalen Bruttosozialprodukts. Und während Europa noch über 2000 Jahre auf die Aufklärung warten sollte, hinterließ der 551 vor Christus geborene Konfuzius eine Lehre, die um das Jahr 1000 zur Staatsdoktrin wurde und eine Ethik der Vernunft formulierte. Sie ermahnte die Menschen, durchaus ähnlich dem Christentum und ausgestattet mit quasi-religiösen Riten, zu einem tugendsamen Leben und zur Nächstenliebe, verzichtete aber auf einen Gott.
Die Kunde von dieser Lehre aus der frühen Hochkultur, die vor allem die deutschen Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff verehrten und verbreiteten, stellte eine Herausforderung für die christliche Weltsicht dar. Wolff wurde nach einer 1721 an der Universität Halle gehaltenen „Rede über die praktische Philosophie der Chinesen“ des Atheismus bezichtigt und musste unter Androhung der Todesstrafe auf Befehl des „Soldatenkönigs“ Friedrich Wilhelm I. Halle binnen 48 Stunden verlassen.
China war jedoch vor allem eine Wirtschaftsmacht. Noch um 1800 produzierte China ein Drittel des globalen Bruttosozialprodukts. Europa lieferte zu diesem Zeitpunkt 28 Prozent – und aus den USA kamen ganze 0,8 Prozent. 1860 jedoch, so rechnet Paul Kennedy in seinem geopolitischen Klassiker über The Rise and Fall of the Great Powers vor, waren der relative Abstieg Chinas (19,7 Prozent) und der Aufstieg Europas (53,2 Prozent) vollzogen. Die USA lagen inzwischen bei immerhin 7,2 Prozent. Der stete Handel zwischen alter und neuer Welt hatte zu transatlantischem Wachstum geführt. China hingegen führte eine weitgehend abgeschottete Existenz.
Diese Stagnation wurde im Westen erst viel später erkannt. Zu den tatsächlichen wirtschaftlichen und kulturellen Leistungen Asiens trat der Zauber extremer Exotik. China erschien damals fast so unerreichbar wie das Paradies. Nahezu ein Jahr dauerte eine Reise in das „Mittlere Königreich“, wie es sich selbst bezeichnete, oder „Reich der Mitte“, wie es im Westen hieß.
Bald schon gefiel sich der Westen in (erkennbar verfrühten) Prophezeiungen, nach denen ein asiatisches Jahrhundert vor der Tür stehe. So orakelte Karl Marx 1865, der Pazifische Ozean werde wegen des Goldrauschs in Kalifornien und eines dadurch aufblühenden Welthandels bald „dieselbe Rolle spielen wie jetzt das Atlantische und im Altertum und Mittelalter das Mittelländische Meer – die Rolle der großen Wasserstraße des Weltverkehrs; und der Atlantische Ozean wird herabsinken zu der Rolle eines Binnensees, wie sie jetzt das Mittelmeer spielt“.
In den jungen USA wurde diese Sicht geteilt. 1898 sagte Außenminister John Hay in einer bis heute berühmten Formulierung: „Das Mittelmeer ist der Ozean der Vergangenheit, der Atlantik ist der Ozean der Gegenwart und der Pazifik ist der Ozean der Zukunft.“ 1903 erklärte der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt zu einem Zeitpunkt, als Europäer und Nordamerikaner laut dem Stanford-Historiker Ian Morris „84 Prozent des Landes und 100 Prozent der Meere“ regierten: „Die atlantische Ära ist jetzt auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung und hat ihre Ressourcen bald erschöpft. Die pazifische Ära, dazu bestimmt, die größte von allen zu sein, beginnt gerade erst heraufzudämmern.“
„Pacific Rim“
Für die USA war dies eine spannende Perspektive, weil damit nicht nur die Ostküste einen Resonanzraum in Gestalt von Europa hatte, sondern nun auch das westliche Kalifornien seine Gegenküste in Form des „Pacific Rim“, der Anrainer des Pazifischen Ozeans, zu finden schien, von Ost- und Südostasien über Ozeanien bis zu Kanada sowie Mittel- und Südamerika.
Der Welthandel sah neuen Märkten mit Milliarden von Konsumenten entgegen. Im Westen wurde die Rückkehr Chinas aus der selbst gewählten Isolierung jedoch nicht nur als ökonomische Chance, sondern auch als sicherheitspolitische Bedrohung wahrgenommen. Es war Steve Bannon, damals und heute Chef der rechtspopulistischen Website Breitbart.com und zeitweise Chefstratege von Donald Trump, der wenige Monate vor dessen Wahl ins Weiße Haus voraussagte: „Wir werden in fünf bis zehn Jahren in den Krieg ziehen im Südchinesischen Meer. Daran gibt es keinen Zweifel.“
Und Trump sagte im Mai 2016 bei einem Wahlkampfauftritt in Indiana: „Wir dürfen China nicht weiter erlauben, unser Land zu vergewaltigen, und das tun wir bislang. Das ist der größte Diebstahl in der Weltgeschichte.“
„Papiertiger China?“
Seit den 1970er-Jahren ist das Wachstum in den asiatischen Staaten größer als in den entwickelten Ländern des Westens. Zu China und Indien gesellten sich etwas später – wenngleich mit wesentlich stärker schwankenden Konjunkturen – die „Tigerstaaten“ Taiwan, Singapur und Südkorea, außerdem Indonesien und Malaysia.
Das asiatische Wunder! Als wolle er die häufige Charakterisierung seines Landes als „zaudernde Macht“ korrigieren, die Handel treibe, aber keine globale Verantwortung übernehme, schrieb der chinesische Präsident Xi Jinping 2014 in einem Beitrag für die indische Zeitung The Hindu: „Wenn China und Indien zusammenarbeiten, wird ein asiatisches Jahrhundert mit Wohlstand und Erneuerung sicher sehr bald beginnen.“ Andere Beobachter mit fachlicher Expertise bezweifeln den angeblich unvermeidlichen Aufstieg Asiens. Vom „Papiertiger China“ spricht der Geostratege George Friedman, Gründer und Chef des privaten Thinktanks „Stratfor“, in seinem 2009 erschienenen Buch The Next 100 Years. „Ich teile nicht die Sicht, dass China eine große Weltmacht wird. Ich glaube nicht einmal, dass es als Land zusammengehalten werden kann“, so Friedman. „Aber ich stimme zu, dass wir über die Zukunft nicht diskutieren können, ohne zuerst über China zu diskutieren.“
Die absehbare massive Verlangsamung des wirtschaftlichen Wachstums werde zu Verwerfungen führen und Zentrifugalkräfte freisetzen. „Ein Geschäftsmann in Schanghai hat gemeinsame Interessen mit Los Angeles, New York und London. Tatsächlich verdient er viel mehr Geld mit derartigen Beziehungen, als er von Peking erwarten kann“, so Friedman. Deshalb sei die Loyalität der Chinesen gegenüber der Zentralmacht sehr begrenzt.
An das asiatische Jahrhundert glaubt eisern Kishore Mahbubani, indischer Diplomat und provokanter geopolitischer Denker. Aber er definiert zentrale Bedingungen für eine Fortsetzung dieser globalen Aufsteigerstory. Unter zustimmender Berufung auf chinesische Intellektuelle schreibt Mahbubani in dem Werk The New Asian Hemisphere (2008), „dass China sein Ziel einer modernen entwickelten Gesellschaft nicht erreichen kann, bis es sich einen Ruck gibt und dem chinesischen Volk erlaubt, sich seine Führer selbst zu wählen. Dies wird der schmerzlichste Schritt sein, den die chinesische Führung vornehmen muss.“
Doch von diesem Schritt ist nichts zu sehen. Derzeit zieht Präsident Xi Jinping die Zügel in China deutlich straffer. Zwar wird Konfuzius wieder beworben. Aber nichts deutet auf ein Demokratisierungsprogramm von oben hin. Zudem hat das Großreich, in dem eine kommunistische Staatspartei ein kapitalistisches Wirtschaftssystem in Gang zu setzen versucht, gewaltige Probleme zu meistern. Chinas Wachstum ist mit rund sieben Prozent weiterhin beneidenswert hoch, aber die absoluten Boomjahre rund um den Jahrtausendwechsel mit zweistelligen Zuwachsraten werden sich nicht wiederholen lassen.
Dramatisch ist die gesellschaftliche Schieflage. Nach 35 Jahren wurde 2016 die Ein-Kind-Politik gelockert, weil sie zu einem drängenden Rentenproblem, einem massiven Männerüberschuss und einer Überalterung geführt hat. Betrug der Rentneranteil an der Gesamtbevölkerung im Jahr 2000 noch gut elf Prozent, werden es 2025 bereits 25 Prozent sein und 2050 über 48 Prozent, sagen die Statistiker.
Trotzdem sucht Indien inzwischen sein Heil in ähnlichen Lösungen. Etwa ein Dutzend der 29 indischen Bundesstaaten hat eine Zwei-Kinder-Politik eingeführt. Wer im öffentlichen Dienst ist, darf kein drittes Kind haben. Dieser Restriktion unterliegen auch Bewerber für öffentliche Ämter. Dritt- oder Viertkindern werden staatliche Leistungen und medizinische Versorgung verweigert. Vätern vieler Kinder drohen Geld- oder gar Haftstrafen. So soll die Bevölkerung zum Arrangement mit Kleinfamilien umerzogen werden.
Ein ganz anderes, aber noch drängenderes Problem für die Gesamtregion stellt Kim Jong-Un dar: Sollten Nordkoreas nukleare Provokationen zu einem Krieg mit den USA führen, wäre die gesamte Welt in Mitleidenschaft gezogen. Aber der konkrete Schaden und der menschliche Blutzoll wären in beiden Koreas, Japan und in Teilen Chinas am höchsten.
„Veröstlichung der Welt“?
Gerät angesichts dieser Probleme die „Veröstlichung der Welt“ ins Stocken? In seinem Buch Easternisation (Untertitel: Krieg und Frieden im asiatischen Jahrhundert) schreibt Gideon Rachman, Chinas kommunistisches System sei verwundbar durch politische oder wirtschaftliche Erschütterungen, und Indien sei ohnehin schwer zu regieren. Aber, so setzt der britische Journalist und Experte für Sicherheitspolitik fort, „die Idee, dass die Fragilität des chinesischen oder indischen Systems die Story der ‚Easternisation‘ bald stoppen werde, ignoriert das Ausmaß, zu dem der Aufstieg auch des Westens unterbrochen war von Episoden extremer Instabilitäten“.
Und in der Tat: Indien hat noch nicht einmal begonnen, sein Potenzial zu demonstrieren. Einerseits betrachtet sich der Subkontinent gemeinsam mit den USA als „Zwillingstürme der Demokratie“. Doch andererseits verkündet der Dritte-Welt-Gigant mit ambitioniertem High-Tech-Expertentum Pläne, „gemeinsam mit China die Weltordnung neu zu gestalten“.
Zudem schickt sich ausgerechnet Donald Trump an, die Easternisation zu beschleunigen. Unter dem Slogan des „America First“ behauptet der amerikanische Präsident, er rücke die Interessen seines Landes ins Zentrum, wenn er beispielsweise multilaterale Handelsverträge eliminiere. Doch damit spielt er Peking in die Karten, etwa mit Washingtons Ausstieg aus dem transpazifischen Handelsabkommen TPP mit Australien, Brunei, Chile, Japan, Kanada, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru und Vietnam. China war nie Vertragspartner von TPP, obgleich Trump im Wahlkampf offenkundig davon ausging. Nach seiner Abkehr von TPP sind Chinas Handelsaktivitäten in den asiatischen Ländern erkennbar gestiegen. Ein Freihandelsvertrag Pekings mit Kanada ist in Planung. Daneben gibt es Debatten, ob sich nicht auch ein modifiziertes TPP hinbekommen lasse – ohne die USA, dafür aber mit China. Zudem hat Präsident Xi Jinping bereits 2014 die Gründung einer Freihandelsregion für Asien-Pazifik (FTAAP) angeregt. Das faktische Ende von TPP macht FTAAP realistischer.
In Asien verläuft die Entwicklung so wenig störungsfrei, wie sich andere Groß- und Wirtschaftsmächte in den vergangenen Dekaden und Jahrhunderten an die Spitze gekämpft haben. Aber auch wenn die oft totgesagten USA für alle überschaubare Zukunft die wichtigste und stärkste, vermutlich einzige Supermacht bleiben werden, handelt es sich bei Asien um die viralste Weltwirtschaftsregion mit zwei der drei größten Volkswirtschaften. In China und Indien lebt bereits ein Drittel aller Menschen, mit steigender Tendenz.
Der Atlantik ist noch nicht zum Binnensee herabgestiegen, aber das Jahrhundert hat ja auch kaum begonnen. Europa wird mittelfristig nicht mehr die Rolle spielen, die es über Jahrhunderte innehatte, weil es demografisch aus dem Tritt geraten ist – mit einer zu alten Bevölkerung und zu wenig Nachwuchs. Zudem steht Europa im Fokus neuer Migrationsströme, die aus Afrika herandrängen. Langfristig mag dadurch tatsächlich das Rentenproblem in vielen EU-Ländern gelöst werden, kurz- bis mittelfristig drohen jedoch Parallelgesellschaften, soziale Verwerfungen und zunehmende Instabilitäten.
Neues Containment?
So bleibt nur Asien als nächster weltwirtschaftlicher Player. Längst verlaufen über den Pazifik die wichtigsten Seehandelsrouten. Das birgt ebenso Chancen wie Risiken. Vor allem zwischen Peking und Washington herrscht permanentes Misstrauen. Die USA fürchten, dass China sie aus Asien verdrängen will, und Peking interpretierte bereits die Handlungen der vorigen US-Präsidenten als Containment-Politik. Eine Verständigung wird nötig sein, und wenn sie mit Trump nicht hinzubekommen ist, dann mit einem Nachfolger.
„Jede große Errungenschaft war eine Vision, bevor sie Realität wurde“, schreibt Henry Kissinger, der in den 1970er-Jahren das Tor zu Peking aufstieß, in seinem grandiosen Werk On China, und er setzt fort: „In diesem Sinne entwickelte sie sich durch Engagement, nicht durch Resignation, zum Unvermeidlichen.“
Das asiatische Jahrhundert wird kommen. Richtiger formuliert: Das asiatische Jahrhundert kehrt nach langem Pausieren in weitgehender Isolation als ein alter Bekannter zurück. Diese Rückkehr ist verbunden mit Krisen und Rückschlägen. Die USA, die trotzdem die machtpolitische Nummer Eins bleiben werden, und Europa wären gut beraten, diese Entwicklung entlang ihrer Interessen mitzugestalten.
-----
Ansgar Graw, geboren 1961 in Essen, Chefreporter für „Die Welt“, „Welt am Sonntag“ und N24 in Berlin, von 2009 bis 2013 Korrespondent in Washington D. C. Graw ist Autor des Buches „Trump verrückt die Welt“ (Herbig Verlag, 254 Seiten, 20,00 Euro).