Frau Lütke, Sie sind im September zur Bundesvorsitzenden der Wirtschaftsjunioren Deutschlands gewählt worden und werden dieses Amt demnächst antreten – mit welchen Zielen?
Kristine Lütke: Die Wirtschaftsjunioren möchten tragfähige Lösungen für unsere Gesellschaft und für den Wirtschaftsstandort Deutschland bieten: zum demografischen Wandel, zur Integration von Flüchtlingen; die Digitalisierung ist ein großes Thema. Auch das Bekenntnis zur europäischen Gemeinschaft und zum Euro wollen wir ins Zentrum unseres Engagements rücken. „Arbeiten in der Zukunft“ wird ein zentrales Stichwort sein – mit Fokus auf Fragen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Beispielsweise gilt es, die Chancen der Digitalisierung so zu nutzen, dass neue Arbeitsformen entstehen, mit denen sich Familie und Arbeit besser unter einen Hut bringen lassen.
Die Wirtschaftsjunioren wollen die Akzeptanz von unternehmerischem Handeln erhöhen. Steht es darum – beispielsweise nach dem Dieselskandal – so schlecht?
Kristine Lütke: Da ist bei manchen Konzernen zuletzt viel Vertrauen verspielt worden, aber auf die meisten kleinen und mittelständischen Unternehmen trifft das nicht zu. Dennoch zeigt sich, dass es mit dem Unternehmerbild nicht zum Besten steht. Fragt man in Schulen, antwortet kaum ein Jugendlicher, dass er sich vorstellen kann, einmal ein eigenes Unternehmen zu führen. Auch die immer neuen Regulierungs- und Dokumentationsanforderungen scheinen mir ein Anzeichen dafür zu sein. Entscheidend ist, dass wir unser Selbstverständnis als „ehrbare Kaufleute“ sichtbarer vorleben und somit das Unternehmerbild wieder positiver gestalten.
Hat unternehmerisches Handeln im Bereich der Pflege – Sie leiten in einem Familienunternehmen drei stationäre Altenpflegeheime – besondere Akzeptanzprobleme? Die Berichterstattung über die „Pflegebranche“ fällt, gelinde gesagt, nicht immer positiv aus.
Kristine Lütke: Fraglos mag es Missstände geben. Aber wenn es immer wieder heißt, die alten Menschen lägen stundenlang in ihren Ausscheidungen, dann entspricht das ganz und gar nicht meiner Wahrnehmung. Im Gegenteil: Nach meiner alltäglichen Erfahrung geben alle, die in diesem Bereich arbeiten, ihr Bestmögliches. Dennoch stehen vor allem wir als private Pflegeunternehmer häufig am Pranger. Da heißt es pauschal, wir würden unsere Mitarbeiter ausbeuten und pflegten unsere Bewohner nicht gut. Dabei bestätigen Studien wie zuletzt das Gutachten des Bremer Universitätsprofessors Heinz Rothgang, dass private Anbieter in der Regel mehr Fach- und Pflegekräfte beschäftigen und bei gleicher Qualität günstiger sind als die Angebote der Wohlfahrtsverbände und Kommunen.
Ist es überhaupt moralisch vertretbar, mit alten und kranken Menschen Gewinne zu erwirtschaften?
Kristine Lütke: Mit diesem Vorbehalt haben wir tatsächlich oft zu kämpfen. Darauf antworte ich stets mit der Frage: Verdienen öffentlich-rechtliche oder städtische Träger etwa kein Geld? Wir halten dagegen, dass erst die kleinen und mittelständischen Unternehmen eine familiäre Pflege in kleinen Räumlichkeiten ermöglichen, wo auch neue Konzepte und Ideen – ohne Rücksicht auf unzählige Hierarchiestufen – umgesetzt werden können. Vor allem aber: Ich möchte, dass mein Unternehmen gut funktioniert; und das kann es nur dann, wenn gute Arbeit geleistet wird. Gewinne sind aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten immer wichtig, um das langfristige Bestehen der Unternehmen sicherzustellen. Dies gilt für Automobilunternehmen ebenso wie für Pflegeunternehmen.
Es gibt rund 13.600 stationäre und teilstationäre Pflegeheime in Deutschland. Wie ist dieser „Markt“ verteilt, und welche Entwicklungen müssen eher kleine private Anbieter fürchten?
Kristine Lütke: Momentan wird mehr als die Hälfte der Pflegeleistungen von privaten Anbietern erbracht, vom kleinen Pflegedienst bis hin zum Pflegeheim. In den letzten Jahren zeigt sich, dass viele kleine und mittelständische Unternehmer keinen Nachfolger mehr finden – nicht zuletzt, weil der Trend leider wieder zu mehr Verstaatlichung geht. Beispielsweise sieht das Dritte Pflegestärkungsgesetz (PSG III), das am 1. Januar 2017 in Kraft trat, vor, dass Pflegeunternehmen ihre Lohn- und Gehaltsstrukturen bei den Vergütungsverhandlungen vollkommen offenlegen müssen; die Personalkosten werden damit zum durchlaufenden Posten. Bisher wurde eine angemessene Vergütung für Pflege- und Betreuungsleistungen vereinbart. Mit dem PSG III wird den Unternehmen das volle Risiko aufgebürdet, werden ihnen aber nur geringe Möglichkeiten der Refinanzierung und der Erzielung eines Gewinns eingeräumt.
In kleinen und mittelständischen Unternehmen ist das schwierig umzusetzen und setzt viel zu geringe Anreize. Daher ist momentan ein Trend zu Konzentrationsprozessen bei den Pflegeanbietern zu beobachten. Für uns Mittelständler wird es dagegen immer herausfordernder, ein attraktiver Arbeitgeber zu bleiben und gutes Personal in ausreichender Menge zu finden.
Während sich in Deutschland eine Pflegekraft im Schnitt um dreizehn Patienten kümmert, sind es in der Schweiz und in Schweden nur etwa acht, in den Niederlanden sieben und in den USA fünf. Wie sind solche Unterschiede zu erklären?
Kristine Lütke: Das Ansehen des Pflegeberufes spielt eine entscheidende Rolle. Nach wie vor scheint in Deutschland die Meinung zu dominieren: Pflege oder Erziehung – das kann jeder. Dies trägt nicht unbedingt zur wachsenden Motivation der Pflegerinnen und Pfleger bei. Wenn ich aber nur Mitarbeiter beschäftigen würde, die im Pflegebereich arbeiten, weil nichts anderes verfügbar ist, hätte ich niemanden, der die Arbeit mit Leidenschaft tut. Wenn dann noch ständig behauptet wird, das sei der schlimmste Job, den man sich vorstellen könne – wer will denn dann noch in der Pflege arbeiten? Natürlich ist es nicht immer ein angenehmer Job, aber man muss die Sichtweise auf diesen Beruf verändern, die positiven Dinge herausstellen, um Menschen für diese Arbeit zu begeistern. Das funktioniert, denke ich, in den anderen Ländern deutlich besser.
Haben die Personalprobleme nicht auch mit der Bezahlung zu tun?
Kristine Lütke: Die Forderung nach mehr Personal im Pflegebereich unterstütze ich, aber damit stellt sich auch die Frage: Wo sollen die Leute herkommen? Das Problem liegt darin, dass die Entgelte für Pflege – also das, was die Pflege kosten darf – in Verhandlungen mit den überörtlichen Sozialhilfeträgern beschlossen werden. Aus diesem Grund können Unternehmer nur schwerlich flexibel über Gehaltsmöglichkeiten entscheiden. Grundsätzlich werden die Löhne zwar bis zur Höhe einer Tarifvergütung refinanziert. In Ballungsräumen liegen sie aber längst darüber. Hier müssen wir schauen, wie wir diese Lücke schließen. Ich bin auch dafür, dass Pfleger mehr verdienen sollten, aber dann müssen auch Möglichkeiten bestehen, dieses Geld erwirtschaften zu können.
Im Augenblick gibt es die Erwartungshaltung, dass die Qualität der Pflege höher werden, dass mehr und besser bezahlte Pflegekräfte eingestellt werden, dass Arbeitsbedingungen verbessert werden sollen – aber das bitte auch zum gleichen Preis wie vorher! Nur wird das nicht funktionieren. Hier muss sich vor allem auch die Politik ehrlich machen.
Vielleicht hilft es ja, die Ausbildung für Pflegeberufe attraktiver zu machen. Mit dem Pflegeberufegesetz wird eine generalistische Pflegeausbildung eingeführt. Hinzu kommt, dass man jetzt Studiengänge für die Pflege anbietet. Was halten Sie von diesen Entwicklungen?
Kristine Lütke: Da schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Ich bin schon einmal froh, dass sich Auszubildende in ihrem dritten Lehrjahr für eine Vertiefung „Altenpflege“ entscheiden können. Denn die Altenpflege ist keine Akutkrankenpflege, sondern ein eigenständiges, hochkomplexes Berufsbild. Allerdings muss und wird nicht jede Schule diese Vertiefungsmöglichkeit anbieten. Deshalb bin ich nicht davon überzeugt, dass der gefundene Kompromiss zur Reform der Pflegeberufe zielführend ist. Ich glaube auch nicht, dass das mehr Personal in die Pflege bringt; vor allem nicht in die stationäre Altenpflege. Hier wäre der Erhalt einer „echten“ Altenpflegeausbildung sicher sinnvoller.
Nun zur Frage des Pflege-Bachelors: Ich bin gegen eine „Akademisierung“ der Pflege und frage mich, wie wir Hochschulabsolventen einsetzen sollen. Wir benötigen nicht mehr „Köpfe“, die keine Pflegearbeit am Patienten mehr leisten wollen. Die tollsten Konzepte helfen nichts, wenn wir niemanden haben, der auf der Station die Pflegebedürftigen wäscht, anzieht und die Körperpflege übernimmt oder einfach für die Menschen da ist. Pflege spielt sich nicht im Büro ab; sie spielt sich auf Station, oft am Bett ab.
Inwieweit sind Sie auf Personal aus dem Ausland angewiesen?
Kristine Lütke: Ohne wird es nicht gehen, weil wir in Deutschland mit anderen attraktiven Wirtschaftsbereichen um junge und qualifizierte Menschen konkurrieren. Meine stellvertretende Pflegedienstleitung stammt aus Harar in Äthiopien; überhaupt haben in unserer Einrichtung rund siebzig Prozent aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen Migrationshintergrund, was im Großen und Ganzen sehr gut funktioniert.
Aber auch das wird nicht reichen. Wir brauchen die „Rückkehrer“ aus der Elternzeit – etwa durch andere Möglichkeiten der Koordinierung von Schicht- und Kindergartenzeiten. Wir brauchen die Älteren, die wir möglichst lange gesund im Beruf behalten sollten. Und dann brauchen wir auch Zuwanderer, die anhand eines strukturierten Einwanderungsrechts und beruflicher Fähigkeiten ausgewählt werden.
Wenn Sie an die nächsten zehn, zwanzig Jahre denken, wo sehen Sie Ihre größten Herausforderungen?
Kristine Lütke: Von den politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen einmal abgesehen, denke ich an erster Stelle an den demografischen Wandel, wenn die „Babyboomer“ mit ganz anderen Bedürfnissen auf uns zukommen. Die Individualisierung wird größeres Gewicht erhalten, sodass es das eine Angebot, das für alle passt, nicht mehr gibt.
Darüber hinaus denke ich auch an neue technische Hilfsmittel, die in Ländern wie Japan bereits genutzt werden, aber bei uns in Deutschland auf große Vorbehalte stoßen. Ich persönlich glaube nicht, dass bei uns Pflegeroboter durch die Gänge fahren und die Leute versorgen werden, aber ich sehe Möglichkeiten bei den „körperfernen“ Arbeiten, die dazu beitragen, dass für den persönlichen Kontakt mit den Bewohnern mehr Zeit bleibt – etwa Trinkbecher, die zurückmelden, wie viel ein Patient getrunken hat, Betten, die automatisch das Gewicht messen, sodass der Patient nicht mehr zur Waage und zurück ins Bett gehoben werden muss. Auch Roboter, die Wäsche verräumen, sind für mich durchaus vorstellbar. Schon heute würde ich bei einem Neubau zumindest um Betten und Bäder herum Sturzsensoren in die Fußböden einbauen lassen, die sofort anzeigen, wenn jemand gestürzt oder auch nur gestolpert ist. Diese neuen Möglichkeiten helfen Personal und Bewohnern, doch noch müssen Vorbehalte überwunden werden. Auch in der Pflege hat die Zukunft bereits begonnen, aber wir sind teils mental nicht darauf eingestellt.
Die Fragen stellte Bernd Löhmann am 11. Oktober 2017.
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Kristine Lütke, geboren 1982 in Nürnberg, ab 1. Januar 2018 Bundesvorsitzende der Wirtschaftsjunioren, Geschäftsführerin der Seniorenbetreuung und –pflege „bei St. Otto“ GmbH sowie des Altenwohn- und Pflegeheims und der Seniorenwohnanlage „Am Forstweiher“ GmbH.