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Europäischer Wut- oder Mutbürger?

Zum 200. Geburtstag des radikalen Dichters Georg Büchner

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Georg Büchner war der vielleicht radikalste deutsche Dichter seiner Zeit. Er verstarb früh, aber ihm war trotz seines schmalen Gesamtwerks später Nachruhm beschieden: Von den verschiedensten Bewegungen wurde er in Anspruch genommen, er galt als Frühsozialist und -naturalist, als Atheist und Avantgardist, als Vorbild der Studentenbewegung oder als Repräsentant des sozialistischen Realismus. Die 200. Wiederkehr seines Geburtstages am 17. Oktober 2013 veranlasst dazu, neu über Büchner nachzudenken. Inwiefern dürfen wir heute vom „Bürger Büchner“ sprechen? War er nur Wutbürger oder ist es doch eher der Dichter, der uns als europäischer Bürger mit dem Mut zum Umdenken etwas zu sagen hat?

Der Frage, was heute als bürgerlich gilt, ist die Konrad-Adenauer-Stiftung 2011 mit einer Umfrage nachgegangen. Sie ergab, dass 72 Prozent der Befragten den Begriff „bürgerlich“ als positiv ansehen. Fast achtzig Prozent finden sich mit dem Wort „Bürger“ weitgehend zutreffend bezeichnet. Offenbar ist die Verachtung des Bürgerlichen der 68er-Zeit einer wertebewussten Achtsamkeit gewichen.

 

Der zeitgemäße Musterbürger?

Im Werte-Katalog des bürgerlichen Habitus stehen Ordnung, Verantwortung, Zuverlässigkeit, Strebsamkeit als gute alte Bekannte aus dem Bildungsbürgertum obenan. Aber auch Freiheit, Toleranz, Schutz der Natur werden neuerdings als bürgerliche Werte genannt. Der Bürger im 21. Jahrhundert muss keine Krawatte tragen. Doch Wertorientierung, gute Manieren, Lebensstil und jene Humanität, die Thomas Mann 1930 in einer Münchner Rede „mit dem Worte Bürgerlichkeit“ übersetzte, gehören offenbar zu seinem Selbstverständnis. Ebenso ein staatsbürgerliches Bewusstsein, das die zivilen Freiheiten zu schätzen und notfalls zu verteidigen weiß, ohne dafür aber die Verantwortung für das Gemeinwohl zu leugnen.

Dieser zeitgemäße Musterbürger ist wohl mehr ein Wunschbild. Doch es gibt keinen Grund, nicht an ihn zu glauben. Die freiheitliche Ordnung hat zur Voraussetzung, dass Menschen für ihre staatsbürgerlichen Rechte eintreten; dass sie demonstrieren, wenn sie diese Rechte bedroht oder verletzt sehen. Über manche Formen dieses Zivilengagements mag man streiten. Mut und Wut sind oft gar nicht so genau auseinanderzuhalten.

Der Verantwortungsbürger, der seine Freiheit, sobald er sie gefährdet sieht, mit einer Prise zivilen Ungehorsams würzt, ist ein homo politicus. Er teilt die drei Qualitäten, die Max Weber auch dem Politiker im Beruf gewünscht hat: erstens leidenschaftliche Hingabe an eine Sache; zweitens Verantwortlichkeit gegenüber dieser Sache; drittens Augenmaß, das eine Distanz zu den Dingen voraussetzt.

Konrad Adenauer und Helmut Kohl waren in dieser Hinsicht Vorbilder. Als Architekten der europäischen Einigung arbeiteten sie ebenso leidenschaftlich wie verantwortungsvoll an ihrem Ideal eines Europas mündiger Bürger.

Europa ist heute ein bürgerlicher Kontinent. Doch die Europäische Union ist nicht das Ergebnis einer selbstverständlichen Entwicklung gewesen. An ihrem historischen Ursprung steht auch die Angst des Bürgers vor dem, was das europäische Wertefundament im 19. und 20. Jahrhundert so stark bedroht hat: Krieg, Armut, Unfreiheit. Der Mut vieler Bürger in der damaligen DDR und den früheren Staaten des Ostblocks hat diese Angst besiegt. Es ist ein Mut, der aus der Mitte der bürgerlichen Sehnsucht nach freier Entfaltung der Persönlichkeit kam. Diese Freiheitsliebe, die sich aus eigenem Antrieb an eine höhere Instanz, an den Staat, an die Ethik, an Gott, binden kann, hat die Friedliche Revolution in Deutschland ausgelöst und getragen.

 

Europäischer Ort der Freiheit

Wohin gehört nun der Bürger Büchner? Man sollte nicht vergessen: Georg Büchner war ein Sohn seiner Zeit. Er entstammte einer nicht sehr reichen, aber doch gut situierten hessischen Arztfamilie. Der Vater, Militärchirurg, arbeitete seit 1816 als Großherzoglicher Obermedizinalrat in Darmstadt. Von der Mutter – sie kam aus einer Beamtenfamilie – hatte er seine Liebe zur Volksdichtung geerbt. Auch Büchners Schulbildung entsprach einem bürgerlichen Lebenslauf. Bis zur Matura 1831 verschlang er gewaltige Lektüremengen, von Homer über Shakespeare bis zu seinem Zeitgenossen Goethe. 1831 ging er zum Medizinstudium nach Straßburg – wo er den Stoff seiner Künstlernovelle Lenz fand.

Heute ist Straßburg eine Metropole des europäischen Staatsbürgertums. Das Europäische Parlament, der Europarat, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und andere Institutionen haben hier ihren Sitz. Auch zu Büchners Zeiten war Straßburg ein europäischer Ort, doppelt so groß wie Büchners Vaterstadt Darmstadt, mit einer renommierten Académie und einem der seinerzeit höchsten Gebäude der Welt, dem Straßburger Münster. In Straßburg knüpfte Büchner Kontakt zur „Gesellschaft der Menschen- und Bürgerrechte“. Hier lernte er französische Republikaner und polnische Exilanten kennen, die für bürgerliche Freiheiten und nationale Einheit eintraten. Es besteht wohl kein Zweifel, dass Straßburg für Büchner ein europäischer Ort der Freiheit war.

Ganz anders war dagegen Deutschland, das dem sprichwörtlichen Flickenteppich glich: Allein zehn Nachbarstaaten umgaben das Großherzogtum Hessen. Büchners Zeitgenosse Heinrich Heine spottete über dieses Deutschland, das „in sanfter Hut/ Von sechsunddreißig Monarchen“ schlafe. Als Büchner im März 1835 zum zweiten Mal nach Straßburg kam, war er ein steckbrieflich gesuchter Flüchtling. Seine Wohnung war durchsucht, einige seiner Freunde waren verhaftet worden. Grund war der Hessische Landbote, die wohl schärfste Flugschrift des Vormärz. Büchner hatte sie im Geiste der bürgerlichen Aufklärung geschrieben, verfasst unter dem Eindruck der Revolution vom Juli 1830.

Kühnes steht darin: Die Flugschrift kritisiert die hohe Steuer- und Abgabenlasten für die Einwohner des Großherzogtums Hessen, die dafür „schwitzen, stöhnen und hungern“ müssen. Die Oberschicht lebe auf Kosten der Untertanen im Luxus und beschneide deren Rechte. Es ist nichts anderes als der Aufruf an die arme Landbevölkerung zum Umdenken. Revolutionär klingt die Parole des Hessischen Landboten: „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“

Die Flugschrift war Büchners Eintrittskarte in die moderne deutsche und europäische Literatur. Doch Büchner war kein politischer Aktivist. Er beobachtete und kommentierte lieber die Verhältnisse seiner Zeit, als die Barrikaden zu stürmen. Golo Mann hielt 1968 fest: „ … für die Revolution, für die Politik überhaupt war der Dichter von Dantons Tod verloren.“

 

Christ und Weltverbesserer

Die direkte politische Agitation war nicht Büchners Sache, auch weil er den Despotismus einer entfesselten Freiheit zur Genüge an der Französischen Revolution studiert hatte. Er stand nicht auf den Zinnen einer Partei, auch nicht der Jungdeutschen. Seine Waffe war das Wort. Mit seinen Werken, die sich an einer Hand abzählen lassen – neben der Flugschrift sind es drei Dramen und eine Novelle –, kämpfte er für Menschenrechte aus einer, wie der Büchner-Forscher Hermann Kurzke meint, urchristlichen Überzeugung: Nicht weil er Materialist war, sondern weil „er Christ war, musste er die Welt verbessern“.

Büchner als europäischer Bürger – was hätte er uns heute zu sagen? Im letzten Jahr erschien das Buch des österreichischen Schriftstellers Robert Menasse Der europäische Landbote. Menasse spielt natürlich auf Büchners Flugschrift an. Das Medium ist – wie beim hessischen „Original“ – das geschriebene Wort, doch Absender und Adressat haben sich verändert. Es geht Menasse nicht um die deutschen, sondern um die europäischen Zustände – um die ist es nicht so schlecht bestellt, wie Unkenrufer meinen! Die Kommission der Europäischen Union, so summiert Menasse, arbeitet alles in allem transparenter, sparsamer und im Übrigen auch humorvoller als viele nationale Behörden.

Was Büchner also Menasse überliefert, ist ein europäisches Lehrstück. Der Schriftsteller als Bürger mischt sich ein. Er informiert sich über die politischen und sozialen Verhältnisse – Büchner in Straßburg, Menasse in Brüssel. Er bezieht Position, auch kontrovers. Er ist kein Untertan im Obrigkeitsstaat. Wofür er eintritt, ist eine bürgerliche Kultur der Freiheit und des Rechts.

Als „Propheten der Freiheit“, der weiß, dass Dichtung den Menschen frei mache, würdigt ihn Hermann Kurzke in der profunden Biografie Georg Büchner. Geschichte eines Genies (2013).

Büchner als europäischer Mutbürger, als Citoyen, nicht als Bourgeois, hat uns viel zu sagen. Mit seinem Freund Alexis Muston träumte er im Spätsommer 1833 von den „vereinigten Staaten von Europa und anderen Utopien“. So hat der „Bürger Büchner“ Grundfragen unserer Zeit nicht nur gestellt, sondern sie auch in Szene gesetzt und zur Sprache gebracht.



Hans-Gert Pöttering, geboren 1945 in Bersenbrück, Mitglied des Europäischen Parlaments, von 2007 bis 2009 Präsident des Europäischen Parlaments, seit 1. Januar 2010 Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Der Beitrag beruht auf der Rede des Autors, gehalten auf der Soirée „Bürger Büchner“ der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Wochenzeitung „Christ & Welt“ in der ZEIT am 18. April 2013 im Rheinischen Landesmuseum Bonn.