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Eine Nachbetrachtung

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„Du siehst mich“, lautete die Losung des 36. Deutschen Evangelischen Kirchentags. Der Satz aus dem 1. Buch Mose nimmt eine verzweifelte Geste auf. Die gedemütigte Magd Hagar ruft in ihrer Not Gott an – und zugleich versichert sie sich Seiner. „Du Gott der Sicht!“ übersetzte der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber den alttestamentarischen Text. Ob Gott uns, den Verzweifelten im 21. Jahrhundert, seine Allgegenwart durch die zwei Aufklebekulleräuglein garantiert, die der Kirchentag zum Erkennungsmotiv erkor, wäre eine allzu plakative Frage.

Aber sie führt zu einer grundsätzlichen Überlegung: Inwieweit entfernt sich der Kirchentag von seinem ursprünglichen Anliegen? Was als Laienbewegung begann, hat sich in Berlin zu einer professionellen Eventmaschine entwickelt.

Nach dem Ende des Nationalsozialismus und dem Eliteversagen, das sich auch in der raschen Gleichschaltung der Gemeinderäte durch die nationalsozialistischen Deutschen Christen niedergeschlagen hatte, wollte der Kirchentag aufklären, Orientierung und Halt geben, Wissen vermitteln und die Deutschen – damals noch mehrheitlich Mitglied in einer der beiden großen Kirchen – gegen unmenschliches Denken und unchristliches Handeln immunisieren. Er sollte, wie es 1949 hieß, „eine Zurüstung der evangelischen Laien für ihren Dienst in der Welt“ bieten, Stärkung und Ermutigung im Glauben geben.

Dass die Menschen des 21. Jahrhunderts in einer säkularen und pluralistischen Gesellschaft andere Bedürfnisse haben, steht außer Frage. Dass Wertevermittlung, die Erläuterung von Glaubensgrundsätzen und eine Selbstvergewisserung des Eigenen in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten wie in der Auseinandersetzung mit anderen weiterhin ihre Berechtigung haben, ist ebenso unstrittig. Der Kirchentag als Glaubensfest soll in diesem Sinne auch heute gesellschaftspolitische und ethische „Zurüstung“ liefern und spirituelles Gemeinschaftserleben möglich machen. Im besten Fall findet all dies auf dem Kirchentag auch noch in einer heiter-festlich-fröhlichen Atmosphäre, wie 2011 in Dresden, statt.

Neue Megadimension

In Berlin hat der Kirchentag alles versucht. Im Bemühen um eine – eigentlich überhaupt nicht erforderliche – neue Megadimension stülpte er dem Ganzen auch noch das furiose Finale der Luther- und Reformationsjubiläumsdekade über. Das ging dann doch sehr weit – schon allein, weil es überhöhte Erwartungen an den dezentral ausgestalteten, letztlich unübersichtlichen Kirchentag mit seinen Nebenbühnen in Wittenberg, Leipzig und andernorts weckte. Die Enttäuschung der Tourismusbranche der Bundesländer, die mit Luther Geschäfte machen wollen, stand deren Mitarbeitern an den Ständen auf dem Alexanderplatz übrigens ins Gesicht geschrieben. Derlei Buden gehören auf die Internationale Tourismus-Börse, nicht auf einen Kirchentag. Die Frage, wohin man sich eigentlich wenden könne, wenn man der Kirche beitreten wolle, konnten die Standbetreiber – mit einer Ausnahme – jedenfalls nicht beantworten. Sie schien ihnen zudem gänzlich abwegig. Der Kirchentag als Verein und die gastgebende Landeskirche sowie die natürlich mitgestaltende Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) konnten zwar über das gesamtstaatlich als wichtig erachtete Jubiläum des Thesenanschlags von Martin Luther zusätzliche Geldquellen des Bundes zum Sprudeln bringen. Insgesamt verschlang das Unternehmen jedoch 23 Millionen Euro in den vier Tagen – mit mehr als 2.500 kleinen und großen Einzelveranstaltungen. Knapp 110.000 Besucher nebst 30.000 Tagesgästen kamen an die zahlreichen bespielten Stätten, die sich in Berlin über die ganze, dafür leider zu ausgedehnte Stadt verteilten.

Tausende Kirchentagsbesucher reisten von ihren Großquartieren quer durch die sich eher desinteressiert gebende Stadt zu den Messehallen. Dass sich auf den berüchtigten Papphockern bestenfalls Jugenderinnerungen an vorangegangene Kirchentage einstellten, die Besucher aber von Fest- oder Gastlichkeit wenig spürten, ist naheliegend. An Schildern und Wegweisern mangelte es, ebenso an wirklicher Integration in die Stadt. Dafür vermeldete man wieder Rekorde – den unglaublichsten brach wohl der unter freiem Himmel gefeierte Schlussgottesdienst in Wittenberg mit angeblich 6.000 Blechbläsern. Aber weder Gott noch seine Gäste auf Erden brauchen derlei Superlative.

Der ohnehin schwer auszutarierenden Balance von Haupt- und Ehrenamt auf dem Kirchentag, der von Freiwilligen getragen, konzipiert und zusammen mit den unverwüstlichen, fröhlichen Pfadfindern organisiert wird, hat die Aufblähung des Kirchentags nicht gutgetan. Dass in Berlin um Mitwirkende für einen der drei Eröffnungsgottesdienste mit einem kleinen „Honorar“ geworben wurde, irritiert ebenso wie die Debatte um Großsponsoren. Das Gebot der Stunde müsste, schon aus wohlverstandenem Eigeninteresse, konsequent Transparenz heißen – auch, um eine weitere Vermischung von Anliegen der Laien, Interessen der Kirche als Institution und Wünschen staatlicher Repräsentanten zu verhüten.

Kirche und Politik

Das Verhältnis zu amtierenden oder gar wahlkämpfenden Politikern ist gleichfalls problematisch. Der Kirchentag ist unabhängig. Gleichwohl sind Kirche und Politik mit ihm verflochten – und zwar nicht nur das links-protestantische Milieu, wie ein altes Vorurteil behauptet. Mitglieder aller Parteien sind Mitglied der Kirche, engagieren sich für den Kirchentag und können sich auf den zahllosen Veranstaltungen zu Wort melden – selbst in einem Wahljahr. Dass der Ratsvorsitzende der EKD einerseits dazu aufruft, „die Mächtigen in die Schranken zu weisen“, sich andererseits aber offenkundig sehr gern in der Nähe von (übrigens demokratisch gewählten und auf Zeit ermächtigten) Politikern zeigt – dafür kann der Kirchentag, der derzeit einen personellen Wechsel an der Spitze seiner Verwaltung verkraften muss, nichts.

Wieder einmal wimmelte es auf den großen Podien von Politprominenz. Die zentralen Auftritte waren sachlich begründet und konziliant im Ton, wenngleich nicht immer politisch ausgewogen. Die Berührung mit „der Macht“ ist auf Kirchentagen immer noch möglich, gewählte Repräsentanten sind als Menschen wie du und ich zu erleben – sofern sie guten Willens sind und sich auf Begegnung und Gespräch, Nachdenken und Nachfragen einlassen. Zwei Gefahren sind sie auf Kirchentagen allerdings ausgesetzt: Die eine resultiert aus der hartnäckigen protestantischen Autoritätsgläubigkeit, gegen die der Kirchentag ursprünglich einmal gegründet war, die staatliche Repräsentanten ehrfürchtig auf einen Thron hebt, auf den sie in der Demokratie nicht gehören. Und die zweite Gefahr liegt im weitverbreiteten Unwillen, Andersdenkenden zuzuhören. Eine ablehnende Grundhaltung, die „denen da oben“ nichts zutraut und sie ohnehin allesamt für unfähig und korrupt hält, führt auch auf Kirchentagen in die Echokammer. Man applaudiert sich selbst. Im Extremfall entstehen so lähmende Kirchentagsmomente, wie sie die Verteidigungsministerin und der Militärbischof erlebt haben. Nichts war gut in der Gedächtniskirche, in der sich eine Hasstirade entlud.

Bibelarbeit als Kulturtechnik

Damit hatten Barack Obama und Angela Merkel keine Probleme. Beide konnten ihr Handeln mit Glaubensüberzeugungen ungestört begründen und argumentierten theologischer als der sie befragende Theologieprofessor. Der Landesbischof der gastgebenden Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz stellte sich in einer vorab vielkritisierten Diskussion gegen eine Vertreterin der Alternative für Deutschland und bewies lutherische Unbeugsamkeit. Viele namhafte Intellektuelle und Politiker machten sich über Flucht und Einwanderung Gedanken. Und auch Martin Schulz hielt eine Bibelarbeit. Der (katholisch erzogene) Kanzlerkandidat erkannte in der Erzählung vom Zollpächter Zachäus aus dem Neuen Testament einen „sozialdemokratischen Text“ – so die Überschrift der Pressemitteilung des Kirchentags, der dieser Auslegung offenbar einen Neuigkeitswert beimaß.

Die Bibelarbeit ist eine vom Kirchentag perfektionierte und freie Form, die Emotion und Frömmigkeit, Intellektualität und Phantasie zulässt – eine bemerkenswerte, eigene Kulturtechnik. Die pluralistisch und heterogen zusammengesetzten Diskussionsrunden zu Themen aus Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur gehorchten indes eher klassischen Regeln: Impulse werden gesetzt, Argumente ausgetauscht, Publikumsfragen beantwortet und Stimmungsbilder erstellt – zwischen Buh-Rufen und Applaus ist alles möglich. Mit Kirche, mit Theologie, mit Glauben hat all dies oft herzlich wenig zu tun. Und doch fallen auf Kirchentagen immer wieder Sätze, die sich in andere Kontexte kaum verirren. „Der christliche Glaube ist nicht Begründung zur Veränderungsabstinenz“ ist so ein Satz. Oder „Gemütliche Welteindunkelung hilft nicht – die Zeit ist jetzt!“. Das sind die hellen, lichten Momente, die Kirchentage auszeichnen und gedankliche Horizonte weiten.

Erstaunlich, dass ausgerechnet der neue Kulturbeauftragte der EKD sich abschließend über zuviel „Talkformat“ auf dem Kirchentag beklagt. Talk gehört, wie der Name sagt, in die Fernsehshow, Kirchentagsmoderationen provozieren eben gerade nicht die Konfrontation um der Konfrontation willen.

„Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten. Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten“, dichtete der auf diesem Kirchentag arg strapazierte Luther im Jahr 1529. So kämpferisch der Reformator seinerzeit aufgetreten sein mag – seine Bitte rückt die Dinge zwischen Himmel und Erde zurecht. Luther mahnt zu Demut und setzt Vertrauen in ihn, den sehenden Gott. Sein Lied findet sich auch im Kirchentagsliederheft. Es wäre ein Erfolg, wenn es in diesen Tagen von aufgeklärten Laien mit frischer „Zurüstung“ gesungen oder gar im Luther’schen Sinne reflektiert würde.

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Jacqueline Boysen, geboren 1965 in Hamburg, freie Journalistin und ehrenamtlich auf Kirchentagen aktiv, Berlin.

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