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Wann Menschen besonders empfänglich für sie sind

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Die Gegenwart ist durch eine Vielzahl von Meinungen, Standpunkten, Überzeugungen und Weltanschauungen geprägt. Einerseits eröffnen die heutige Angebotsvielfalt und Wahlfreiheit ungeahnte Möglichkeiten. Wenig ist vorgegeben und von Traditionen bestimmt – selten stand jungen Menschen eine größere Entfaltungsvielfalt in beruflicher und persönlicher Hinsicht zur Verfügung als heute. Andererseits fühlen sich manche hiervon überfordert. Herauszufinden, was ich „wirklich“ will, was zu mir passt, was die beste Wahl ist – diese Fragen lassen sich kaum eindeutig beantworten. Der Stress erhöht sich, wenn der Anspruch hinzukommt, bloß keine Fehler zu machen – man hat ja nur ein Leben. Einige erleben diese Vielfalt als „Optionsstress“; die „Qual der Wahl“ lässt sie zögern und zaudern, zumal die sich kurzfristig verändernden Angebote nur schwer zu durchschauen sind. Wer hilft, die richtige Entscheidung zu treffen? Wo findet man Hilfen für die optimale Wahl? Dieser „Optionsstress“ hat dem Berufszweig des Coachings ungeahnten Zulauf beschert – immer mehr professionelle Berater bieten bei einer Entscheidungsfindung ihre Dienste an.

In dieser aufgeheizten gesellschaftlichen Situation sind Propheten willkommen. Ursprünglich versteht sich ein Prophet als Überbringer einer unheilvollen oder heilvollen Zukunftsdeutung, die er oder sie von einer höheren beziehungsweise göttlichen Autorität empfangen hat. In Zeiten von Unsicherheit und Krisen wird nach tragfähigen Zukunftslösungen gesucht. Dabei schenken die Menschen auch spekulativen Erklärungen und irrationalen Deutungen Gehör.

Bedrohliche Zukunft?

Nach meiner Einschätzung stoßen heutige „Propheten“ deshalb auf eine verstärkte Resonanz, weil das Vertrauen in das bislang gültige wissenschaftliche Weltbild ins Wanken geraten ist. Auch die Politik, die Wirtschaft und die Kirchen haben in den letzten Jahren durch Skandale und Krisen einen massiven Vertrauensverlust erlitten. In dieser gesellschaftlichen Umbruchsituation, charakterisiert durch Bindungsverlust, Digitalisierung und multikulturelles Zusammenleben, gewinnen Propheten an Bedeutung, da der oder die Einzelne individuelle Lösungen und Auswege finden muss. Viele nehmen die Zukunft als Bedrohung wahr. Im Kontext der großen, weltweiten Probleme wie der Überbevölkerung, der Umweltverschmutzung, schwindender Ressourcen und der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich ergeben viele Bausteine eine bedrückende Perspektive. Die Zukunft ist bedrohlich, weil die herkömmlichen Methoden des Umgangs mit sich und der Welt den Anforderungen einer humanitären Zukunft für alle Menschen nicht gerecht werden können. Selbst der hohe Bildungsstandard in Europa hat den politischen und religiösen Fundamentalismus nicht aufhalten können.

Ein Großteil des verfügbaren Wissens der Menschheit wird durch die Informationstechnologie in Sekundenschnelle für diejenigen zugänglich gemacht, die einen Internetanschluss besitzen. Was aber nützt detailliertes Faktenwissen, wenn es an Weisheit zum richtigen Umgang damit mangelt? Obwohl Fakten jederzeit im Internet abgerufen werden können, fehlt es an Kriterien, nach denen die Informationsflut bewertet und gedeutet werden kann. Bildung ist eben mehr als Wissen. In der heutigen Informationsgesellschaft sind nicht mehr Fakten, sondern es ist „Orientierungswissen“ gefragt. Eine funktionierende Gesellschaft benötigt gebildete Menschen, die gefundene Informationen klug auswerten und anwenden können. Hierzu ist allerdings eine weltanschauliche Orientierung erforderlich.

Falsche Propheten entlarven

Um einen „falschen“ Propheten zu entlarven, sind auf der Grundlage der getroffenen Unterscheidung zwischen Fakten- und Orientierungswissen folgende Fragen hilfreich:

1. Sind die behaupteten „Fakten“ überprüfbar und zutreffend, oder sind die behaupteten Tatsachen meinungseingefärbte Interpretationen?

2. Wird zwischen Tatsache und Interpretation, zwischen Faktum und deutender Interpretation überhaupt unterschieden? Diese Unterscheidung ist wichtig, um dem Zuhörer eine eigene Meinung und Interpretation der Faktenlage zu ermöglichen.

3. Macht der „Prophet“ seine Deutungsperspektive, seine weltanschauliche „Brille“ transparent? Die Transparenz der weltanschaulichen Voraussetzungen ermöglicht dem Zuhörer, herauszufinden, ob diese Position mit der eigenen in Übereinstimmung zu bringen ist.

Unsichere Zeiten, fundamentalistische Polarisierungen und strikte Milieubildungen mit einseitigen, wirklichkeitsverzerrenden Darstellungen erfordern reflektierende und ethisch gebildete Bürger, die Fakten überprüfen können und sich im Rückgriff auf ihr eigenes Wertegerüst und Gewissen ein eigenes Bild machen. Das erübrigt den Rat des „Propheten“ – egal, ob er wahr ist oder falsch.

Faktenwissen

ermöglicht einen gigantischen technischen Fortschritt, beleuchtet aber nur eine Seite der Wirklichkeit. Es wirkt verführerisch, denn es

  • suggeriert vollkommene technische Kontrolle und Berechenbarkeit,
  • nährt den Machbarkeitswahn,
  • geht vom „Unverwundbarkeitsmythos“ aus: der Mensch als Maschine, die mit der richtigen Bedienungstechnik problemlos „funktioniert“,
  • übersieht, dass Enttäuschungen, Schmerzen, Wunden und die Vergänglichkeit Bestandteile des Lebens sind und den Menschen prägen,
  • übergeht häufig das intuitive Wahrnehmen, die richtungsweisenden Gefühle der „emotionalen Intelligenz“.

Orientierungswissen

  • kann nicht wissenschaftlich abgeleitet, sondern nur weltanschaulich-religiös begründet werden,
  • erfordert anthropologische Entwürfe, die nicht nur beschreiben, was der Mensch leisten kann, sondern auch, wozu er sich anstrengen soll,
  • setzt ein Menschenbild voraus, das über die Entwicklungsziele einer reifen Persönlichkeit, Glück, Sinn oder „gelingendes Leben“ Auskunft gibt,
  • geht von weltanschaulich begründeten Werten aus, die als Grundlage einer Gemeinschaftsordnung dienen (zum Beispiel Gerechtigkeit, Würde, Freiheit),
  • gibt Antworten zum Umgang mit existenziellen Fragen wie Zufall, Schuld, Leid oder Tod,
  • ermöglicht freiwillige Selbstbegrenzung technischer Möglichkeiten aufgrund ethischer Verpflichtungen (zum Beispiel im Hinblick auf die Atomenergie, Gentechnik oder Transplantationsmedizin) beziehungsweise freiwilligen Verzicht im Alltag (Fernsehen, Alkohol, Handy).
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Michael Utsch, geboren 1960 in Gießen, Honorarprofessor für Religionspsychologie an der Evangelischen Hochschule in Marburg, Wissenschaftlicher Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin.

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